Protokoll der Sitzung vom 11.12.2001

Außerdem sollten wir die Einschulungsphase ernster nehmen, das Scharnier zwischen Kindergarten und Schule ölen und das eine oder andere besser pflegen. Die Verzahnung zwischen Kindergarten und Schule muss wesentlich besser werden. Das letzte Kindergartenjahr muss – diese Forderung möchte ich noch einmal erheben – kostenfrei und verpflichtend für alle Kinder werden.

In einer Überschrift hieß es, die deutschen Kinder – und auch die bayerischen – seien faul und dumm. Ich meine, sie sind nicht faul, und sie sind nicht dumm. Sie werden von unserem Schulsystem aber nicht zukunftsfähig gemacht. Das muss geändert werden.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort hat Herr Kollege Sibler.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Auch wir in Bayern haben mit großer Betroffenheit die Zahlen der Pisa-Studie zur Kenntnis genommen. Auf die Studie gab es viele Reaktionen, und auch die Leserbriefseiten der Zeitungen waren voll davon. Die Sorgen draußen, die Sorgen hier und die Bedenken der Frau Staatsministerin Hohlmeier – Frau Kollegin Werner-Muggendorfer, Sie haben sie falsch verstanden – sind bereits vorgetragen worden.

Ich möchte ausdrücklich betonen, dass der Ländervergleich zur Studie noch nicht vorliegt. Deshalb eignet sich das Thema nicht für parteipolitische und ideologische Auseinandersetzungen. Bisher ergaben die veröffentlichten Reaktionen noch wenig Neues. Alte bildungspolitische Forderungen nach Orientierungsstufen und vielem mehr wurden aufgegriffen und zum Teil als Universallösung oder Heilsbringer dargestellt.

Ich möchte das, was Herr Kollege Nöth aufgegriffen hat, unterstreichen. Ich denke, dass jetzt eine Phase der Ruhe und Analyse gefordert ist, um anschließend Konsequenzen ableiten zu können.

Natürlich wurde auch die Frage nach der Ganztagsschule und Ganztagsangeboten gestellt. Staatsregierung und Mehrheitsfraktion haben ihre Hausaufgaben gemacht. Es stehen 600 Millionen DM für Betreuungsangebote als Regelform zur Verfügung. In Ausnahmefällen soll es auch Ganztagesschulen geben. Dieses Programm beginnt am 01.01.2002.

Warum haben wir uns für die Betreuungsangebote entschieden? – Es gibt genug Eltern, die auch am Nachmittag ihre Kinder zu Hause haben und dort erziehen wollen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf den Aspekt der Jugendarbeit verweisen, die sicherlich nicht einfacher wird, wenn die Kinder am Nachmittag noch in der Schule sein werden und nicht mehr in die Gruppenstunden der Landjugend, der Feuerwehr oder zum Training des Fußballvereins gehen können.

Meine Damen und Herren der Opposition, geben Sie diesen Modellen und Initiativen die notwendige Zeit zur Entwicklung. Geben Sie die Zeit, um Kooperationen zwischen den einzelnen Schulen, zwischen den Grundschulen und den Hauptschulen, zwischen den Hauptschulen und den Realschulen, zwischen den Förderschulen und den Berufschulen, zwischen den weiterführenden Schulen und den Institutionen der Jugendarbeit, die auch ihre Möglichkeiten zur Mitgestaltung haben, entstehen zu lassen. Lassen Sie die Möglichkeiten vor Ort wachsen. Geben Sie diese Zeit. Ziel ist es, kreative Lösungen nach den individuellen Möglichkeiten vor Ort

zu finden. Wir möchten, dass sich jede Gemeinde den Anzug schneidern kann, der ihr passt.

Ich habe festgestellt, Frau Radermacher, dass die Kommunen durchaus wissen, wo sie Anträge stellen können und welche Möglichkeiten es gibt. Alle wissen es, nur die SPD anscheinend nicht.

Wichtig scheint mir zu sein, dass das Lesen im Unterricht und durch positives Vorleben im Elternhaus gefördert wird.

(Zuruf der Frau Abgeordneten Gote (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN))

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Förderung der Gesprächskultur.

Die medienpädagogischen Schwerpunkte in der Schule sind weiter zu betonen. Auch die Erwachsenenbildung ist einzubeziehen. Wir sollten zumindest versuchen, den Fernseher als Miterzieher wieder etwas zurückzudrängen. Hier ist ein Miteinander von Schule und Elternhaus gefordert.

Besonders deprimierend in der Pisa-Studie war für mich, dass gerade in Deutschland der Zugang zu Computern zwar sehr groß ist, aber diese Computer in der Regel für Computerspiele genutzt werden. Auch daraus müssen Konsequenzen gezogen werden.

Lassen Sie mich abschließend aus einem Artikel des „Spiegel“ zitieren, der auf die japanischen Schulen eingeht, die besonders gut abgeschnitten haben. Im „Spiegel“ heißt es:

Schließlich vermissen in- und ausländische Experten an den vielfach gerühmten japanischen Musterschülern etwas Entscheidendes: die Mangelware in den Klassenzimmern, die Kreativität.

Allein dieser Satz zeigt, dass die Pisa-Studie eingehend analysiert werden muss. In der Studie haben einige Schulsysteme gut abgeschnitten, die das gesamte Hohe Haus wohl nicht als vorbildlich betrachten will. Ich denke, dass wir auch ein Stück weit den Blick nach Skandinavien richten müssen und die Dinge aufgreifen sollten, die dort besonders positiv sind und die Optimierung unseres Schulsystems weiterbringen können.

(Beifall bei der CSU)

Das Wort hat Herr Kollege Hartenstein.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Nie ist Wissen schneller veraltet und kontinuierliches Hinzulernen wichtiger gewesen, haben Schlüsselqualifikationen eine größere Bedeutung gehabt, waren mehr Schülerinnen und Schüler durch familiäre Probleme belastet, gab es einen höheren Anteil an Schülern in den Klassen, die die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschten, haben mehr Kinder Furcht vor der Schule gehabt und sich den hohen Anforderun

gen verweigert, lähmte die Angst vor dem Arbeitsmarkt insbesondere in den höheren Jahrgangsstufen die Lust an der Gestaltung des eigenen Lebensentwurfs, war also seitens der Lehrerinnen und Lehrer wohl überlegtes Vorgehen im Unterricht und gefühlvolles Eingehen auf Kinder und Jugendliche stärker gefragt als in den letzten Jahren. Dennoch ließen es die Länderregierungen bundesweit zu, dass sich die Rahmenbedingungen für Unterricht und Erziehung an den Schulen zunehmend verschlechterten. Die Schülerzahlen innerhalb der Klassen stiegen wieder an, die Stundentafeln wurden teilweise gekürzt, bestimmter Förderunterricht sowie die Arbeitsgemeinschaften wurden gestrichen, das Stundendeputat der Lehrerinnen und Lehrer wurde erhöht. Und das geschah, obwohl gleichzeitig Hunderte, ja Tausende gut ausgebildeter Junglehrerinnen und Junglehrer ohne Job auf der Straße standen.

Jetzt, meine Damen und Herren, wundert man sich, dass das Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler einer bestimmten Jahrgangsstufe in der Bundesrepublik im Vergleich zur entsprechenden Jahrgangsstufe in anderen OECD-Staaten nur noch unterdurchschnittlich ist. Da kann man nur sagen: Entweder gaukelt sich der eine oder andere etwas vor, oder er bzw. sie hat in den letzten Jahren schulpolitisch geschlafen. Spätestens seit Vorliegen der Tims-Studie und des Berichts zur sozialen Lage war nämlich klar erkennbar, in welche Richtung die Entwicklung ohne ausreichendes Gegensteuern laufen wird. Die vor wenigen Tagen vorgelegten Ergebnisse der Pisa-Studie bestätigen insofern lediglich den seit Jahren erkennbaren Trend.

Fast 23% der Jugendlichen sind bei uns nur noch fähig, auf einem elementaren Niveau zu lesen. Große Defizite ergeben sich hinsichtlich der Fähigkeit, zu reflektieren und zu bewerten. Bezüglich der mathematischen Grundbildung muss bei uns ein Viertel der Fünfzehnjährigen als Risikogruppe eingestuft werden. Ihre Kenntnisse reichen nicht mehr für eine erfolgreiche Bewältigung einer Berufsausbildung aus. Nicht einmal die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler kann Aufgaben, die zum curricularen Standard gehören, mit ausreichender Sicherheit lösen. Die Zahl derjenigen, die selbstständig mathematisch argumentieren und reflektieren können, ist äußerst klein. 26,3% der Schülerinnen und Schüler befinden sich in Deutschland auf dem untersten Niveau einer naturwissenschaftlichen Grundbildung, und lediglich 3,4% erreichen das Niveau auf der Basis eines Denkens mit Modellen.

Besonders erschreckend aus meiner Sicht ist, dass ein Drittel der in Deutschland erfassten Schülerinnen und Schüler der untersuchten Altersstufe eine Schullaufbahn hinter sich hat, die durch Misserfolgserlebnisse gekennzeichnet ist,

(Kupka (CSU): Wer ist schuld daran?)

und dass von den fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schülern im Gymnasium nur noch 10% aus Familien von ungelernten und angelernten Arbeitern stammen.

Das Fazit der Autoren dieser Studie: Offensichtlich gelingt es in Deutschland nicht, die schwachen Schüle

rinnen und Schüler zu fördern, gleichzeitig ist aber eine ausgeprägte Elite nicht erkennbar.

Trotz dieser Erkenntnisse gibt es meines Erachtens keinen Anlass für panische Reaktionen, wohl aber für überlegtes Handeln. Panik ist nicht angezeigt, weil die Ergebnisse der Länder im Mittelfeld so dicht beieinander liegen, dass allein Messwertfehler oder Tagesformen Verschiebungen um zahlreiche Ranglistenplätze ergeben können.

Überlegtes Handeln ist erforderlich, da unzweifelhaft einige Schwachstellen in unserem Schulsystem aufgezeigt werden. Dabei sollten alte Grabenkämpfe nicht wieder aufflackern können. Es geht höchstwahrscheinlich nicht so sehr um die Frage: Halbtagsschule mit Betreuungsangebot oder Ganztagsschule, dreigegliedertes Schulsystem oder Gesamtschule? Es geht vielmehr um die Fragen: Welchen Stellenwert ordnen wir Bildung und Erziehung in der Gesellschaft zu? Unter welchen Rahmenbedingungen können sich Bildung und Erziehung entfalten? Wie werden unsere Lehrkräfte auf ihre wichtige Arbeit vorbereitet? Welche Lerninhalte werden den Schülerinnen und Schülern schwerpunktmäßig angeboten? Wie wird der Unterricht gestaltet? Welche Bedeutung ordnen wir den musisch-künstlerischen Fächern zu? Welche Freiräume lassen wir neben den Leistungsanforderungen?

Lassen Sie mich aus zeitlichen Gründen nur wenige Aspekte ansprechen. Es muss künftig im Unterricht stärker gehen um: die besondere Förderung benachteiligter Schülerinnen und Schüler, die Steigerung der Konzentrationsfähigkeit und der Ausdauer, die Vermittlung selbständigen und kooperativen Lernens, das Entwickeln von Abstraktionsvermögen und problemlösendem Denken, die Schärfung der Reflexionsfähigkeit und die Orientierung der Lerninhalte an praktischen Beispielen.

Vergessen wir dabei jedoch nicht: die Förderung der Eigeninitiative und der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, der Toleranz gegenüber Andersdenkenden – –

Herr Kollege, jetzt haben Sie die Redezeit schon erheblich überzogen.

– Ich bin sofort fertig, Herr Präsident, nur noch diesen einen Satz. Vergessen wir auch nicht die Förderung der Solidarität mit den Armen und Schwachen, das Erwecken von Zivilcourage und die Förderung der Kreativität und ästhetischer Fähigkeiten. Es geht um die volle Entfaltung der Persönlichkeit der jungen Menschen in unserem Land, nicht um das ausschließliche Zuschneiden auf den künftigen Wirtschaftsmarkt.

(Beifall der Frau Abgeordneten Gote (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN))

Das Wort hat Kollege Schneider.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte heute zeigt sehr eindringlich, dass wir keine voreiligen Schlüsse ziehen sollten. Die Ergebnisse der Studie sind ernst, und es wird eine Zeitlang dauern, bis diese Ergebnisse richtig analysiert sind und bis uns auch die Ergebnisse des innerdeutschen Vergleichs vorliegen, um dann das bayerische Schulsystem auf den Prüfstand zu stellen, wenn es notwendig sein sollte.

Wie gesagt: Es gibt kein deutsches Bildungssystem. Deshalb ist sehr gefährlich, sich hinzustellen und zu sagen: Dies und Jenes muss geändert werden. Das zeigen die Äußerungen der Kultusminister aus den verschiedenen Ländern. Ein paar Anmerkungen dazu: Die schleswig-holsteinische Kultusministerin spricht davon, dass wir keinen neuen Grabenkrieg über die richtige Schulform führen sollen. Der Kultusminister aus Mecklenburg-Vorpommern sagt: Um die Leistungsbereitschaft der Schüler zu verbessern, werden sie die Versetzungsordnung verschärfen. Die Mitglieder der SPD-Fraktion dürfen sich ruhig einmal anhören, wie die SPD in anderen Bundesländern reagiert. Frau Behler aus NordrheinWestfalen sagt, es werde mindestens zehn bis fünfzehn Jahre dauern, bis grundlegende Änderungen in Nordrhein-Westfalen greifen werden. In Niedersachsen wird die Abschaffung der Orientierungsstufe als das notwendiges Mittel angesehen. Das ist ein vielstimmiger Chor.

Alle Vergleichsstudien haben das Problem, dass man auch den kulturellen Hintergrund betrachten muss. Kollege Sibler hat auf die Situation in Japan hingewiesen. Wir waren in Korea und haben uns das Bildungssystem dort angesehen. Es ist sicher nicht unser Ziel, die Schule in Bayern so zu gestalten wie in Korea: Ganztagsunterricht bis 16.00 Uhr, anschließend bis 20.00 Uhr die Privatschule, anschließend das Schulfernsehen, anschließend die Hausaufgaben, und die Eltern schicken die Kinder gegen 2.00 Uhr in der Früh ins Bett. Es gibt in Korea das Sprichwort: Wer länger als fünf Stunden schläft, der verschläft seine Zukunft. Auch das muss man wissen, und diesen kulturellen Hintergrund muss man sehen, bevor man Vergleiche zieht und sagt, wir wollen auch dort hinkommen.

Frau Dr. Baumann, Sie haben die Kürzungen in der Grundschule angesprochen. Diese Kürzungen haben wehgetan. Wir dürfen aber feststellen, dass Bayern in Deutschland trotz der Kürzungen den meisten Unterricht in den Grundschulen gibt, mit großem Abstand vor den anderen Bundesländern. Wir sind dabei, diese Stunden wieder zurückzugeben. Eine kleine Anmerkung dazu: Die Tims-Studie oder jetzt die Pisa-Studie haben keinen Zusammenhang zwischen dem Stundenumfang und der Lernleistung gesehen, sondern haben sich vielmehr auf die Form des Unterrichts beschränkt.

Frau Kollegin Münzel hat als Beispiel das Bildungssystem in Schweden angesprochen, an dem wir uns orientieren sollen. Dort gibt es viele andere Strukturen als bei uns; die Lehrerauswahl liegt dort bei der Schule. Für Lehrer besteht dort bis 16.00 Uhr Präsenzpflicht an der Schule. Die Schulleitung bestimmt selbst über die Besoldung der Lehrer. Dort gibt es zwischen den Schulen Besoldungsunterschiede von bis zu 50%. Diese Aspekte

muss man sehen. Es stellt sich die Frage, ob man dieses System Eins zu Eins auf Bayern übertragen will.

In den skandinavischen Ländern gibt es strikte Einschulungsregeln. Wer die Sprache nicht beherrscht, wird nicht eingeschult. Auf dieses Thema hat die Frau Staatsministerin bereits hingewiesen.

Die Stichworte autonome Schule bzw. mehr Eigenverantwortung in der Schule: Ich denke, mehr Eigenverantwortung wird dann funktionieren, wenn klare Mindeststandards vorgegeben sind und wenn der Staat dafür sorgt, dass diese Mindeststandards eingehalten werden.

Frau Kollegin Münzel, ich werfe noch einen Blick auf Schweden. Dort gibt es Tests und Orientierungsarbeiten, die nach der zweiten, nach der fünften und nach der neunten Klasse vorgegeben werden.

(Irlinger (SPD): Das ist freiwillig!)

Dort wird die externe Evaluation betrieben, damit die Mindeststandards und die Qualität eingehalten werden können.

Entscheidend ist, dass wir über die Lern- und Leistungskultur nachdenken, dass wir Leistungsmessung vielleicht in einem noch stärkeren Umfang nutzen, um mehr Leistungsentwicklung zu fördern. Alle diese Studien – ob Pisa oder Tims – haben ergeben, dass Leistungsunterschiede auf dem Unterricht beruhen, dass sie im Elternhaus liegen, dass sie in der Bereitschaft zur Anstrengung und Ausdauer begründet sind, dass sie in der Qualitätserwartung und -sicherung einen Ursprung haben und letztendlich die gesellschaftliche Wertschätzung des schulischen Lernens ganz entscheidend ist.