Protokoll der Sitzung vom 12.05.2004

Auch der Vorsitzende Ihrer Landesgruppe, der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Michael Glos hat damals wörtlich zum Beitritt der Türkei erklärt – ich zitiere Michael Glos vom 23. Oktober 1997:

Vieles spricht für den Beitritt der Türkei, nur wenig dagegen.

Der CDU-Politiker Volker Rühe hat Recht, wenn er im Februar 2004 erklärt – ich zitiere wörtlich:

Es ist ein Fehler, wenn man in der Opposition grundsätzlich in der Außenpolitik von dem abweicht, was man als Regierung vertreten hat.

Das ist der Umstand, um den es heute geht.

(Beifall bei der SPD)

Ich zitiere Herrn Rühe noch einmal mit seiner Aussage vom 8. April 2004 – ich glaube, er ist immerhin Ihr verteidigungspolitischer Sprecher im Bundestag:

Die Türkei hat eine wichtige Brückenfunktion. Wenn es mit Hilfe Europas gelingt zu zeigen, dass der Islam vereinbar ist mit Demokratie und Moderne, hat das enorme Bedeutung für die arabische Welt. Das wäre eine wirkliche weltpolitische Leistung der Europäer.

Genau darum geht es, und das haben andere auch erkannt, Herr Ministerpräsident. Ihr Freund Wolfgang Schüssel war gestern im ORF zu diesem Thema zu hören. Er hat gesagt – ich zitiere Wolfgang Schüssel:

Das Aufgreifen der Türkeifrage im Europawahlkampf ist eine Themenverfehlung.

Denn, so sagt Schüssel weiter:

Die Europäische Kommission gibt dazu eine Empfehlung, dann entscheidet der Europäische

Rat, und dann kommt die Frage erst in das Europäische Parlament.

Richtig, Herr Schüssel.

Ihnen geht es ja nicht um eine korrekte und zukunftsorientierte Europa- und Türkeipolitik,

(Zuruf von der CSU: Eine zuverlässige!)

sondern Ihnen geht es lediglich um Stimmungsmache. Sie haben erkannt, dass dieses Thema die Menschen in Deutschland verunsichern könnte, und das wollen Sie weidlich ausnutzen. Dafür nehmen Sie außenpolitischen Flurschaden in Kauf. Sie sollten sich schämen, meine Damen und Herren von der CSU.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Wir leben auf einem Kontinent, dessen Reiz in seiner Vielfalt und seiner kulturellen Unterschiedlichkeit besteht, genauso aber auch aus einer großen gemeinsamen geschichtlichen Erfahrung. Diese Erfahrung sollte uns dabei helfen, ein europäisches Sozial- und Gesellschaftsmodell zu entwickeln, durchaus auch in Abgrenzung zu den angelsächsischen Ländern, ein Sozial- und Gesellschaftsmodell, das von Kooperation, guter Nachbarschaft, sozialem Ausgleich und Gerechtigkeit geprägt ist und damit ein Vorbild für alle Völker auf dem Globus sein kann.

Wir haben am 1. Mai den größten Binnenmarkt der Erde geschaffen. Wir wollen diesen Wirtschaftsraum nutzen für Wohlstand der Bürgerinnen und Bürger, wir wollen diesen Wirtschaftsraum sozial ausgestalten und den Schutz unserer Umwelt dabei vorantreiben. Wir haben die Spaltung Europas endlich überwunden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben die Chance zu einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Solche Chancen hatte keine Generation vor uns. Geben wir uns also Mühe, diese Perspektive zu ergreifen und nicht in Ängstlichkeit und Kleinkrämerei zu ersticken!

(Lang anhaltender Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Für die CSU spricht der Vorsitzende der CSU-Fraktion, Kollege Hermann.

(Zurufe von der SPD)

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Europäische Union mit nunmehr 25 Mitgliedstaaten ist fürwahr einzigartig in der Geschichte unseres Kontinents. Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat gerade die junge Generation in unserem Lande so großartige Chancen wie nie zuvor eine junge Generation in den letzten Jahrhunderten. Sie hat insbesondere Chancen für ein Leben in Frieden und Freiheit. Hier haben Politiker in Europa – zunächst in Westeuropa

und in den letzten zehn Jahren auch in Osteuropa – wirklich gute Arbeit geleistet. Ich denke, dass man trotz aller so genannter Politikverdrossenheit deshalb heute schon feststellen darf, dass wir für diese erfolgreiche Friedens- und Einigungsarbeit in den letzten Jahrzehnten dankbar sein dürfen.

Wir wollen, dass die Europäische Union nicht nur eine bloße Wirtschaftsunion oder Währungsunion wird. Wir wollen eine Union des Friedens in Freiheit, eine Union der Demokratie und der Menschenrechte und eine Union der Solidarität und Toleranz.

In der Präambel unseres Grundgesetzes heißt es, dass sich das deutsche Volk dieses Grundgesetz gegeben hat von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. – Diesem Verfassungsanspruch fühlen wir uns verpflichtet und haben ihn gerade auch mit dem Beitritt der osteuropäischen Länder wieder mit mehr Realität erfüllt. Aber noch vor diesem Bekenntnis zum vereinten Europa und zum Frieden in der Welt heißt es in unserem Grundgesetz – das sind die allerersten Worte der Präambel -: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“.

Das gehört zusammen: das Friedenswerk, die Verpflichtung zum Frieden in dieser Welt, und die Verantwortung vor Gott und den Menschen, eine Verantwortung, der wir uns in unserer Politik verpflichtet fühlen. Deshalb beginnt auch die Präambel der Bayerischen Verfassung, die schon drei Jahre vor dem Grundgesetz vom bayerischen Volk beschlossen wurde, mit den Worten: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des Zweiten Weltkrieges geführt hat …“

Auch hier also, unmittelbar noch unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkrieges, findet man den Zusammenhang der schrecklichen Erfahrungen des Weltkrieges und der Gottlosigkeit der Naziherrschaft. Das ist der Hintergrund, warum sich die CSU dafür einsetzt, auch in die künftige europäische Verfassung einen Gottesbezug aufzunehmen.

(Beifall bei der CSU)

Wir wollen nicht nur von christlich-abendländischen Traditionen reden, sondern tatsächlich von Gott. Immerhin ist es ja – das ist meine persönliche Auffassung – eigentlich der gleiche Gott, an den Juden, Christen und Moslems glauben. Wir haben zwar unterschiedliche Vorstellungen von Gott, aber es ist nur der eine Gott. Uns auf ihn zu beziehen, würde auch der europäischen Verfassung gut tun.

(Beifall bei der CSU)

Wenigstens mit einem halben Satz in dieser europäischen Verfassung oder in ihrer Präambel sollte dies geschehen.

Ich sage ohne alle Polemik – eher ein bisschen enttäuscht und traurig –: Es ist einfach schade, dass der Bundes

kanzler und der Bundesaußenminister für dieses Thema überhaupt nichts übrig haben. Es ist einfach schade für Deutschland und Europa, dass vonseiten der deutschen Bundesregierung dieses Anliegen überhaupt nicht verfolgt wird.

(Beifall bei der CSU)

Ich hoffe gleichwohl, dass es in den nächsten Monaten zu einer vernünftigen Einigung über die künftige europäische Verfassung kommt. Wo es darum geht, dass alle Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union dann auch in einem Referendum bekunden können, ob sie mit dieser europäischen Verfassung einverstanden sind, konnte ich Ihren Ausführungen, Kollege Maget – typischerweise möchte ich fast sagen –, wieder nicht entnehmen, wofür sie nun sind. Sie haben auf die Äußerungen des Ministerpräsidenten Bezug genommen. Sie haben – das ist legitim – auch andere Stimmen zu diesem Thema zitiert. Das unterscheidet uns in der CSU grundlegend von dem Selbstverständnis der bayerischen SPD. Für uns ist das Nachdenken über eine Frage nicht beendet, wenn sich ein Abgeordneter unserer Partei oder unserer Schwesterpartei zu einem Thema äußert. Offensichtlich ist das bei der bayerischen SPD so, aber der bayerische Ministerpräsident darf auch dann seine eigene Meinung äußern, wenn ein CDU-Bundestagsabgeordneter vielleicht eine gegenteilige Meinung geäußert hat. Das werden wir auch in Zukunft so pflegen.

(Beifall bei der CSU)

Natürlich könnte – ich denke, da sind wir uns im juristischen Sinne einig – mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten beschlossen werden, ein solches Referendum auf europäischer Ebene durchzuführen, so wie es auch europäisches Recht ist, ein europäisches Parlament zu wählen. Das ginge natürlich nur mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Aber es wäre auf jeden Fall staatsrechtlich denkbar, so etwas zu machen. Es ist typisch – ich sage das noch einmal, lieber Herr Maget –, dass sie letztendlich eine genaue Aussage vermeiden, ob sie dafür sind und sich mit der Bayerischen Staatsregierung beispielsweise dafür einsetzen werden, ein solches Referendum durchzuführen, oder nicht. Letztendlich haben Sie sich wieder ein Hintertürchen offen gehalten, denn Sie wissen ja nicht, was am Ende in Brüssel tatsächlich beschlossen wird.

Wenn die dann doch noch ein Referendum beschließen und Sie wären dagegen gewesen, wäre das auch peinlich; also eiert man lieber ein bisschen herum und erzählt da und dort von der CDU und CSU.

(Beifall bei der CSU – Zuruf des Abgeordneten Dr. Sepp Dürr (GRÜNE))

Das ist typisch für Ihre Position in diesen Fragen.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Sepp Dürr (GRÜ- NE))

Herr Kollege Maget, das hat sich nahtlos beim Thema „Türkei“ fortgesetzt. Da erklären Sie, dass es eigentlich schamlos sei, dieses Thema anzusprechen, und erklären

in einem Halbsatz, Sie persönlich wären da eigentlich auch eher skeptisch. Was es konkret bedeutet, dass man skeptisch ist, bleibt den bayerischen Wählerinnen und Wählern natürlich wieder verborgen. Sie schildern den weiteren Ablauf in dieser Frage: Dass sich die Kommission damit beschäftigt, dann der Europäische Rat, und dann, siehe da – gut, dass Sie es angesprochen haben – wird sich in der Tat auch das Europäische Parlament in der nächsten Wahlperiode damit zu beschäftigen haben.

(Franz Maget (SPD): Eben genau nicht!)

Jedenfalls wird das Europäische Parlament schon eine Meinung dazu haben,

(Franz Maget (SPD): Aber nicht in der nächsten Wahlperiode!)

ob förmliche Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden. Mir ist bei Ihren Äußerungen in der Tat – ich muss das noch einmal sagen – Ihre Haltung nicht klar geworden. Es ist ja recht und schön, dass Sie skeptisch sind, aber eine Entscheidung muss getroffen werden. Die Menschen in unserem Land erwarten dazu zu Recht eine klare Aussage. Wir reden ja nicht davon, ob der Beitritt im Jahr 2050 oder sonst wann denkbar ist, sondern wir reden davon, ob jetzt konkret zeitnah förmliche Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden sollen. Die CSU sagt den Bürgerinnen und Bürgern klar, dass sie das jetzt nicht für richtig hält. Die SPD und die GRÜNEN sagen, dass sie es jetzt für richtig halten. Dann wissen die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, woran sie sind. Ich halte es für legitim, dass man das vor einer solchen Wahl den Wählerinnen und Wählern ohne jede Polemik, aber in aller Deutlichkeit sagt.