Protokoll der Sitzung vom 30.11.2004

Eine ganze Menge auf einmal! Das sind die Adjektive, die mir eingefallen sind, als ich über den Gesundheitskompromiss von Frau Merkel und Herrn Stoiber nachgedacht habe.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es geht nicht nur mir so. Dieser Gesundheitskompromiss erntet allerorten unverständliches Kopfschütteln.

Ich werde das im Einzelnen erklären. Unlogisch ist der Kompromiss deshalb, weil, wie das Beispiel Schweiz zeigt, es bei der Krankenversicherung am allerwenigsten um die Kranken geht. Die Prämien haben sich jährlich um 5 bis 6 % erhöht, die Leistungen wurden reduziert, aber dafür wurden die Zuzahlungen höher. Wohl dem, der in diesem Staat nicht krank wird. Das ist eine Krankenversi

cherung für die Jungen und für die Gesunden, aber nicht für die kranken Menschen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Unlogisch ist es auch deshalb, weil der Steuerzahler jetzt für die Kinder der Privatversicherten mitzahlen muss. Wo ist da die soziale Komponente?

Es ist unsolidarisch, weil es die Besserverdienenden einseitig entlastet. Herr Seehofer hat selber vorgerechnet, wie viel Krankenversicherung er sich, weil er besser verdienend ist, sparen würde, wenn die Kopfpauschale eingeführt würde.

(Joachim Wahnschaffe (SPD): Das sind die Facharbeiter von Frau Stamm!)

Das trifft auch auf die Landtagsabgeordneten zu. Wir sparen uns eine ganze Menge. Aber ist das denn richtig? Auf wessen Kosten sparen wir denn?

(Beifall bei den GRÜNEN – Thomas Kreuzer (CSU): Das sind auch die, die mehr Steuern zahlen!)

Dieser Kompromiss legt die Axt an die solidarische Krankenversicherung.

Sie ist außerdem noch undurchsichtig, weil sie nämlich durch geringere Steuerentlastungen finanziert werden soll. Das ist ein Salto Mortale, etwas durch eine geringere Steuerentlastung finanzieren zu wollen. Sie setzen dafür 8 Milliarden Euro an. Es fehlen im Gesundheitssystem zusätzlich noch 15 Milliarden Euro, das ergibt 23 Milliarden Euro, die Sie über das Steuersystem finanzieren wollen. Wo soll das Geld bitte herkommen?

Oder müssen eventuell die Entlasteten ihre Entlastung selbst bezahlen?

Es ist außerdem undurchdacht. Es ist undurchdacht, weil es nicht so ist, wie Frau Merkel sagt, dass der Risikostrukturausgleich künftig wegfallen wird. Nein, er wird sich sogar noch erweitern; denn er wird nicht nur bei Krankheit und Alter, sondern künftig auch bei Reich und Arm durchgeführt werden müssen.

Zusätzlich haben Sie das Krankengeld sowie den Zahnersatz ausgegliedert, und Sie haben die Leistungen der Krankenkassen, die für das Bonusmodell vorgesehen sind, ausgegliedert. Das sind 6 Milliarden Euro. Dies bedeutet eine Reduzierung der Gesundheitsvorsorge, die nicht im Sinne des Steuerzahlers sein kann.

Es ist undurchführbar, weil Sie eine Clearing-Stelle einführen, die die Einkommen überprüfen soll. Eine solche Clearing-Stelle stellt ein überflüssiges Bürokratiemonster dar; Sie müssen für jeden Versicherten zukünftig ein eigenes Konto führen, Sie müssen viele Anträge auf Zuschuss bearbeiten. Dies alles bringt eine Ausweitung der Bürokratie, die mit Ihrer so hoch gelobten Deregulierung in keiner Weise vereinbar ist.

Das Modell ist unausgewogen. Es wird auch ganz schnell wieder in den Schubladen verschwinden, denn eine ausführliche Beschäftigung mit diesem Modell ist von den Verfassern gar nicht gewollt. Sie haben nur den Konflikt zwischen CDU und CSU nicht mehr ausgehalten und deshalb diesen Kompromiss geschlossen. Dieser Kompromiss aber wird – das garantiere ich Ihnen – den nächsten Wahlkampf nicht überstehen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das Modell ist zusätzlich ungerecht; denn 20 Millionen Menschen, die bisher durch ihre Arbeit ihre Beiträge zur Krankenversicherung rechtschaffen bezahlt haben und dafür verdienterweise auch die Leistungen in Anspruch genommen haben, werden künftig zu Bittstellern werden. Ihr Parteikollege Seehofer hat gesagt, dass ihn selten etwas so schockiert habe wie diese Vorschläge.

Das Modell ist auch unsozial, weil die Wenigverdienenden stark belastet werden, während die Gutverdienenden enorm entlastet werden. Es werden private Zusatzversicherungen nötig werden, um die notwendigen Gesundheitsleistungen einzukaufen. Damit wird die Gesundheit zum Luxusgut für die Besserverdienenden.

Diese Kritik kommt nicht nur von uns, nicht nur von der SPD, sondern auch aus Ihren eigenen Reihen.

(Zuruf von der CSU: Oho!)

Diese Kritik in Ihren eigenen Reihen wächst. So hat Ihr neuer Fraktionsvize Zöller gesagt, es handle sich um eine Verunsicherung der Bevölkerung.

Ministerpräsident Wolfgang Böhmer spricht davon, dass es sehr mühsam sei, die Zusammenhänge zu erklären, und Ministerpräsident Peter Müller aus dem Saarland sowie der Stuttgarter Fraktionschef Günter Oettinger haben ebenfalls erhebliche Bedenken.

(Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Und was hat Kollege Kobler? – Margarete Bause (GRÜNE): Einen Maulkorb!)

Die FDP bezeichnet das Modell als undurchführbar. Und die Arbeitgeber sind dagegen, obwohl sie entlastet werden. Innerparteilich ist das Konzept höchst umstritten.

(Christine Stahl (GRÜNE): Genau!)

Auf Ihren Gesundheitsexperten Seehofer erhöhen Sie den Druck. Es wird Ihnen nichts nützen, Herr Huber und Herr Beckstein, denn die Kritik hat Seehofer längst verlassen und zieht weite Kreise. Sie werden sich ihr nicht mehr entziehen können.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dieser Kompromiss ist eine Missgeburt der Eltern Merkel und Stoiber, wozu man sie wirklich nicht beglückwünschen kann.

(Heiterkeit)

Der Konflikt ist ihnen längst außer Kontrolle geraten; sie werden massive Imageverluste einfahren.

(Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Das tut uns aber Leid!)

Ich bedauere das allerdings nicht. Meines Erachtens haben sowohl Merkel als auch Stoiber ob dieser Konzeptlosigkeit ihr Gesicht verloren. Es ist ja offensichtlich, dass in diesem Gesundheitskompromiss keine Konzepte, keine Lösungen und keine Alternativen zu Rot-Grün zu finden sind.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN – Zuru- fe von der CSU: Oh, oh!)

Da hat Herr Stoiber einen hohen Preis bezahlt.

(Lachen bei der CSU)

Es ist der Preis, dass sein wichtigster Gesundheitsexperte heute im Regen steht. Er hat sich argumentativ auf ein Glatteis begeben, auf dem er nach einer längeren Schlitterpartie eine Bauchlandung machen wird.

(Lachen bei der CSU)

Deshalb wäre es sinnvoll, dem Vorschlag der GRÜNEN nach einer Bürgerversicherung zu folgen.

(Beifall bei den GRÜNEN – Zuruf von der Regie- rungsbank – Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Keine Zwischenrufe von der Regierungsbank!)

Wir wollen die solidarische Krankenversicherung erhalten und weiterentwickeln. Wir wollen eine gerechte, wettbewerbsorientierte und nachhaltige Regelung. Wir wollen eine Entkoppelung des Gesundheitssystems vom Arbeitsmarkt, und wir wollen die Lohnnebenkosten senken. Wir wollen, dass Besserverdienende in die Solidargemeinschaft mit aufgenommen werden. Es darf kein Entziehen möglich sein.

(Zurufe von der CSU)

Wir wollen eine Bürgerversicherung, die ein wirkliches Reformprojekt ist, und wir wollen, dass die Ausweitung des Versicherungskreises auf alle Bürger eingeführt wird, damit die GKV auf einer nachhaltigen Grundlage finanziert werden kann.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir wollen die Basis verbreitern und die sozialen Lasten auf alle Schichten und alle Schultern verteilen.

Sie sehen, es gibt Alternativen zu Ihrem Kopfmodell. Deshalb appelliere ich an Sie: Ziehen Sie Ihr Modell zurück. Sie machen sich unglaubwürdig und lächerlich. Ich möchte meinen Eingangsworten mit der Vorsilbe „un“ noch weitere zwei „un“-Worte hinzufügen. Wenn Sie so weitermachen, wird man Sie unfähig, als „Un-ion“ bezeichnen.

(Beifall bei den GRÜNEN – Lachen bei der CSU)

Nächste Wortmeldung: Frau Kollegin Sonnenholzner.

Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Weder die medizinische Wissenschaft noch die visionärste der Gesundheitsreform haben es bisher geschafft, eine effiziente Therapie gegen grippale Infekte hinzubekommen, deshalb sehen Sie es mir bitte nach, dass ich etwas heiser und erkältet bin. Ich hoffe, Sie verstehen mich trotzdem.