Protokoll der Sitzung vom 14.12.2004

gleicht diese Unterschiede nicht aus, sondern sie verstärkt sie sogar noch. Dieser Befund ist eigentlich das schlimmste Pisa-Ergebnis, weil damit individuelle Lebenschancen zerstört werden, weil damit Begabungs- und Bildungsreserven vergeudet werden, und weil damit unser aller wirtschaftliche Zukunft verspielt wird. Die Zahlen sind eindeutig und ernüchternd: 90 % der Kinder von Freiberuflern, die von ihren Noten her auf das Gymnasium wechseln könnten, tun das auch. 78 % der Kinder von Beamten, die von den Noten her aufs Gymnasium wechseln könnten, tun das auch. Nur 60 % der Kinder von Angestellten, die wechseln könnten, tun das auch. Und nur 27 % der Kinder von Landwirten, die die Noten fürs Gymnasium hätten, wechseln auch.

(Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Sauerei!)

Das heißt: Die soziale Herkunft, die soziale Stellung, der Bildungshintergrund der Eltern sind entscheidend für die Bildungs- und Zukunftschancen der Kinder. Regionale Unterschiede kommen noch hinzu. In Oberbayern treten 37,8 % von der vierten Klasse aufs Gymnasium über. In Niederbayern sind es nur noch 27 % – doch nicht, Herr Kollege Schneider, weil die Kinder dort dümmer sind als in Oberbayern,

(Beifall der Abgeordneten Johanna Werner-Mug- gendorfer (SPD))

sondern weil die Bildungschancen regional unfair verteilt sind.

(Beifall bei der SPD)

Herr Schneider, Sie sagen, die Kinder müssen sich schon auch noch anstrengen. Strengen sich denn die Kinder in Starnberg mehr an als die Kinder in Deggendorf?

(Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): Sie kommen ja gar nicht erst dazu!)

Ich sage Ihnen: Wenn die Kinder aus dem Landkreis Starnberg zu 55 % ins Gymnasium übertreten, während es im Landkreis Deggendorf nur 22 % sind,

(Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): Dann stimmt doch was nicht!)

dann liegt das nicht an den Anstrengungen, die die Kinder unternehmen, oder am Intelligenzquotienten, sondern dann liegt es an der sozialen Stellung der Eltern in diesen verschiedenen Landkreisen.

(Beifall bei der SPD)

Das ist der springende Punkt. Diese Unterschiede müssen Sie in unserem Schulsystem zumindest auszugleichen versuchen. Sie dürfen diese sozialen Unterschiede nicht auch noch verstärken und verschärfen. Das ist unsere Kritik an unseren Bildungseinrichtungen.

(Beifall bei der SPD)

Wir sagen: Die Ursachen für diese Bildungsungerechtigkeit und auch Bildungsarmut in vielen Teilen unserer Bevölkerung sind hausgemacht und von der Bildungspolitik der CSU verschuldet.

(Beifall bei der SPD)

Ich nenne nur einige wenige Punkte. Sie tun zu wenig im Vorschulalter, wo man noch bilden und erziehen könnte. Da passiert nichts. Sie betrachten Kindertagesstätten als Betreuungseinrichtungen, nicht als Bildungseinrichtungen. Das ist ein folgenschwerer Fehler.

(Beifall bei der SPD)

Zweitens. Sie statten ausgerechnet die Grundschulen finanziell schlechter aus als die Realschulen und Gymnasien. Gerade an den Grundschulen werden aber die Schlüsselqualifikationen vermittelt, wird das Fundament gelegt für den späteren schulischen Erfolg. In Finnland, Herr Kollege Herrmann,

Das hat doch mit dem Unterschied zwischen Starnberg und Deggendorf überhaupt nichts zu tun! – Gegenruf der Abgeordneten Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): Das sollten Sie einmal untersuchen, Herr

Herrmann! – Joachim Wahnschaffe (SPD): Das wäre die Fortschreibung des Sozialberichts!)

ist in den meisten Klassen eine zweite Lehrkraft vorhanden, gerade in der Grundschule, um dort die individuellen Stärken und Schwächen der Kinder zu bearbeiten und zu fördern, wo immer das möglich ist.

Ich will das nicht propagieren, weil ich weiß, was es kostet. Sie sehen aber daran, wie es möglich ist, Pisa-Sieger zu werden, und wie notwendig es ist, gerade in den Grundschulen mehr zu tun.

Drittens. Sie lesen zu früh aus, statt lange genug zu fördern. Die von Ihnen beschworene Durchlässigkeit des Schulsystems ist blanke Ideologie, Herr Kollege Schneider.

(Beifall bei der SPD – Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Zynismus ist das!)

Niemand, der heute von der vierten Klasse Grundschule auf die Hauptschule wechselt, hat eine reale Chance, noch auf das Gymnasium oder auf die Realschule zu wechseln. Oft passiert das Gegenteil; jemand wird von oben nach unten durchgereicht. Der Weg andersherum ist in Bayern aber versperrt. Durch die Einführung der R 6 und des G 8 ist er noch viel schwerer geworden, als er es ohnehin schon gewesen ist.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben auch zu geringe Übertrittsquoten und demzufolge zu niedrige Schulabschlüsse in unserem Land. Die relativ guten Pisa-Testergebnisse sind in dieser mangelnden Durchlässigkeit begründet. Wenn Sie eine Gymnasialklasse oder Realschulklasse testen, welche sehr viel homogener ist als in Bundesländern mit einer größeren Durchlässigkeit im Schulsystem, erreichen Sie zwangsläufig bessere Ergebnisse. Das ist keine Kunst. Das ist das Ergebnis eines Schulsystems, in dem Sie eine soziale Auslese in einem Ausmaß betreiben, wie es sonst nirgendwo in Deutschland der Fall ist.

(Beifall bei der SPD)

Sie haben zu wenige Ganztagsschulen und zu wenige Lehrerinnen und Lehrer. Sie haben zu große Klassen und deswegen auch zu wenig individuelle Förderung.

Wie reagieren jetzt die Eltern auf diese Situation? Diese Reaktion macht auch den tatsächlichen Unterschied in unserem Land deutlich. Natürlich sind auch die Eltern gefordert. Eltern, die sich um ihre Kinder bemühen und ihren Kindern Aufmerksamkeit schenken, die zu Hause vielleicht bei den Hausaufgaben helfen oder helfen können, die über einen Bildungshintergrund und über ein Bildungsverständnis verfügen und die Sinn und Geld für Nachhilfestunden haben, kümmern sich um ihre Kinder und helfen ihnen in diesem schwierigen Schulsystem weiter. Sie helfen ihnen sozusagen auf eigene Kappe und eigene Kosten. Was aber ist mit den Kindern all der Eltern,

die weder die Erfahrung, noch die Aufmerksamkeit, das Geld und das Interesse für ihre Kinder aufbringen? Wollen Sie die Kinder dieser Eltern verloren geben und ihnen die Verantwortung dafür zuschieben, dass sie keine Zukunftschance haben? Oder wollen Sie endlich ein Schulsystem, in dem diese negativen Ausgangsbedingungen ausgeglichen werden, damit Kinder aus allen sozialen Schichten in unserem Land den gleichen Zugang zu unseren Bildungseinrichtungen haben?

(Beifall bei der SPD)

Letzteres wollen wir. Wir wollen es im öffentlich-rechtlichen Schulsystem. Wir wollen nicht, dass die Eltern, die für ihre Kinder eine Chance suchen, zunehmend auf Privatschulen ausweichen. Das wollen wir nicht. Wir wollen die öffentlichen Schulen stärken.

(Beifall bei der SPD)

Nächste Wortmeldung: Herr Kollege Unterländer.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich drei kurze Bemerkungen zu den Beiträgen meiner Vorredner machen.

Erstens. Herr Kollege Maget, Sie haben der Bayerischen Staatsregierung und der Mehrheitsfraktion attestiert, dass sie die Kinderbetreuungseinrichtungen, also die Kindergärten in Bayern nur als ein Betreuungsangebot ansehe. Damit liegen Sie völlig daneben.

(Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): Das hat er nicht gesagt!)

In keinem anderen Land ist mit einer solchen Intensität ein Bildungs- und Erziehungsplan entwickelt, erprobt und umgesetzt worden wie in Bayern.

(Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): Das hilft überhaupt nichts, wenn er nicht weiter umgesetzt wird!)

Daran nehmen sich jetzt andere Länder ein Beispiel und folgen dem bayerischen Weg. Daran sehen Sie, dass die Kindergärten in Bayern auf einem vorbildlichen Weg sind.

Zweitens. Frau Kollegin Bause, zum Sozialbericht. Ich glaube, es ist in der gegenwärtig schwierigen finanziellen Situation, in der wir in allen Bereichen einzusparen versuchen müssen,

(Margarete Bause (GRÜNE): Aber 10 Millionen pro Jahr für Gutachten! – Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Das ist doch Quatsch, das ist wissenschaftsfeindlich!)

der völlig falsche Weg, die Prioritäten auf irgendwelche Statistiken zu setzen. Wir müssen den Menschen helfen und nicht in Statistiken das Geld investieren.

(Beifall bei der CSU)

Im Übrigen haben Sie mit Statistiken wie Pisa, der IgluStudie und anderen wissenschaftlichen Untersuchungen, auf die Sie sich ständig berufen, heute schon Grundlagen.

(Margarete Bause (GRÜNE): Warum tun Sie dann nichts? – Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Das ist doch wissenschaftsfeindlich!)

Daher muss das Rad nicht mehr neu erfunden werden. Ich halte die Prioritäten für völlig falsch gesetzt.

Drittens. Als Sozialpolitiker maße ich es mir nicht an, über die Bildungspolitik und schulische Fragen zu reden. Allerdings möchte ich folgendes sagen: Aus den Ausführungen von Kollegin Bause und Kollegen Maget gewinne ich den Eindruck, dass bei ihnen Bildung ausschließlich mit einem gymnasialen Abschluss verbunden ist.

(Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): So ein Schmarrn! Das ist Ihre Vorstellung!)