Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen allen einen schönen guten Morgen. Ich darf diejenigen, die noch nicht im Plenarsaal sind, auffordern einzutreten, damit wir auch diese begrüßen können.
Ich eröffne die 44. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.
Den drei Kollegen, die vor kurzem Geburtstag hatten, möchte ich dann gratulieren, wenn sie anwesend sind.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in diesem Jahr der Gedenktage soll ein Ereignis nicht unerwähnt bleiben, das die bayerische Geschichte betrifft. „Bayern und Pfalz – Gott erhalt’s“, diesen Spruch kennen Sie alle, auch wenn die historischen Hintergründe dieser früher so engen Verbindung nicht mehr jedem in Bayern bewusst sind.
Der Beginn der Zugehörigkeit der Pfalz zum Herrschaftsgebiet der Wittelsbacher lässt sich genau datieren: 1214 wurde der bayerische Herzog Ludwig I. mit der Pfalzgrafenschaft bei Rhein belegt. Über 700 Jahre lang sollten Bayern und die Pfalz zusammengehören. Wann genau diese Verbindung aber endete, darüber gibt es neue Erkenntnisse. Bisher war man der Auffassung, die Trennung der Pfalz vom rechtsrheinischen Bayern sei am 30. August 1946 mit der Gründung des Landes Rheinland-Pfalz erfolgt. Dem an der Freiburger Albert-LudwigsUniversität lehrenden Historiker und Pfalz-Experten Professor Dr. Hans Fenske ist die neue Erkenntnis zu verdanken, dass diese Trennung schon ein Jahr früher anzusetzen ist. Bereits im Mai 1945 hatte die US-Armee eine Verwaltungsprovinz Mittelrhein-Saar geschaffen, die auch die bayerische Pfalz umfasst. Diese Maßnahme wurde in der Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands vom 5. Juni 1945, in der sich die Alliierten eine territoriale Neugliederung Deutschlands vorbehielten, rechtlich sanktioniert.
Da Herrn Professor Dr. Fenskes Argumentation stichhaltig ist, haben wir heute Anlass, verehrte Kolleginnen und Kollegen, des 60. Jahrestags der Trennung der Pfalz von Bayern zu gedenken. Die innere Zugehörigkeit zwischen Bayern und der Pfalz ist trotzdem erhalten geblieben. Auch daran sei am heutigen Tag gerne erinnert.
Für die heutige Sitzung ist die Fraktion der CSU vorschlagsberechtigt. Sie hat eine Aktuelle Stunde zum Thema „Europa braucht klare Grenzen“ beantragt.
Die Redezeit für jeden einzelnen Redner beträgt grundsätzlich nicht länger als fünf Minuten. Auf Wunsch einer Fraktion erhält eines ihrer Mitglieder zehn Minuten Redezeit; dies wird auf die Gesamtredezeit der jeweiligen Frak
tion angerechnet. Ergreift ein Mitglied der Staatsregierung das Wort für mehr als zehn Minuten, erhält eine Fraktion auf Antrag für eines ihrer Mitglieder zusätzlich fünf Minuten Redezeit. Die CSU-Fraktion hat für ihren stellvertretenden Vorsitzenden Sackmann eine Redezeit von zehn Minuten beantragt. Bitte schön, Herr Kollege.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa braucht klare Grenzen. Die negativen Abstimmungen in den Niederlanden und in Frankreich waren ein echter Warnschuss der Bürger. Das Grundvertrauen in die Grundsätze der Europäischen Union ist erschüttert. Die Gründe, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen auf der Hand: überstürzte und nicht ausreichend vorbereitete Erweiterungsbemühungen, Überforderung der EU-Bürger, Europas Allzuständigkeit, die die Bürger korrigiert haben wollen, die Aufweichung des Stabilitätspaktes und vieles andere mehr.
Wenn die EU jetzt glaubwürdiger werden will, muss sie sich beschränken. Während in den Mitgliedstaaten Sozialleistungen gestrichen werden, will die Brüsseler Kommission ihre Ausgaben aufblähen. Dieses ziellos wuchernde Europa wollen die Bürger nicht.
Ich glaube, das muss man dreimal unterstreichen und diesem Kommentar zustimmen. Gerade die Aufweichung des Stabilitätspaktes – ich habe es gerade erwähnt – hat in den Niederlanden und auch in anderen Ländern zu Verunsicherungen geführt. Wir wissen von den Meinungsforschern, dass dieses Thema bei der Abstimmung in den Niederlanden eine wesentliche Rolle gespielt hat.
Die Aufl istung der Aufnahmekriterien für die EU-Beitritte, die überschnelle und übereilte Aufnahme sind weitere Punkte. Die Aufnahme der Türkei birgt darüber hinaus eine tief greifende Erosionsgefahr für die Europäische Union. Auch dazu darf ich noch einmal die gestrige „Süddeutsche Zeitung“ zitieren:
In der Volksabstimmung hat sich eine grundsätzliche Skepsis artikuliert. Sie richtet sich gegen eine immer größere und enger vernetzte EU. Diese Haltung zu ignorieren wäre leichtfertig. Europas Führungspersonal sollte deshalb dem Eindruck vieler Menschen entgegenwirken, neue Erweiterungsrunden kämen automatisch. Vor allem die Aufnahme der Türkei, die das bevölkerungsreichste Mitgliedsland würde, will besser überlegt sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können die Bürger nur dann wieder für das vereinte Europa gewinnen, wenn wir deren Ängste und Sorgen wahrnehmen. Darum lassen Sie mich beim Thema „Europa braucht klare Grenzen“ zum Beitritt der Türkei ein paar grundsätzliche Punkte ansprechen.
Erstens. Es zeigt die Realitätsferne von Rot-Grün, dass man gar nicht bereit ist, die Ängste und Sorgen, die die Bevölkerung hat, aufzugreifen und darüber nachzudenken. Hier wird die Ideologie eines geeinigten Kulturraumes gezeichnet, eines multikulturellen Konglomerats, das von Irland bis zur Grenze zum Irak reicht. Das Problem an der Sache aber ist, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Welt folgt nicht der rot-grünen Vision, sondern die Welt ist so, wie sie ist. Wenn wir keine weiteren bösen Überraschungen erleben wollen – das möchte ich sehr betonen –, dann müssen wir darauf reagieren. Dabei war die Volksabstimmung in Frankreich wohl nur eine kleine böse Überraschung.
Tatsache ist: Wir wollen nicht in einer multikulturellen Gesellschaft leben. Wir wollen uns bewusst zur freiheitlichen Demokratie und zu den Grundwerten des Christentums bekennen. Liebe Freunde, das ist kein opportunistisches Zurückweichen, und das sollten wir von unserer Seite ganz deutlich darstellen. Tatsache ist – darauf sollten wir Wert legen –, dass die islamische Welt eine islamische Leitkultur beansprucht und diesen Anspruch teilweise energisch, sogar rücksichtslos durchsetzt. Christen haben in der Türkei nicht die gleiche religiöse Freiheit, die Muslime in Deutschland haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Intoleranz können wir innerhalb der Europäischen Union nicht akzeptieren. Europa ist tolerant und frei. Europa ist der Humanitas verpfl ichtet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hatte vor kurzem Gelegenheit, mit einem Pfarrer zu sprechen, der in der Türkei tätig war. Er konnte seine Tätigkeit nur über einen diplomatischen Status nachgehen. Wenn man von solchen Erfahrungen hört, wenn man solche Gespräche führt, dann kann ich nur feststellen: Wir wollen die Zukunft des Abendlandes nicht in Ankara verhandelt haben.
Zweitens, sind die Menschenrechte. Amnesty International hat erst in den letzten Tagen, am 6. Juni 2005, einen Bericht über gravierende Menschenrechtsverletzungen in der Türkei vorgelegt. Selbst die Mitarbeiter von Amnesty sind dort Gefahren an Leib und Leben ausgesetzt. Es ist schon interessant, dass wir hier über ein Land sprechen, dessen Aufnahme in die Europäische Union Rot-Grün forciert, ohne darüber nachzudenken. Immerhin wurden in Deutschland im Jahr 2003 713 Asylanträge von türkischen Bürgerinnen und Bürgern bewilligt. Dabei wissen wir genau, wie schwierig es ist, einen Asylantrag bewilligt zu bekommen. Die Menschenrechte gelten in Europa als kultureller Minimalkonsens. Wir werden diesen deshalb immer wieder einfordern.
Drittens. Ein weiterer wesentlicher Punkt in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die EU den Beitritt der Türkei im Grunde nicht fi nanzieren kann. Ich erinnere an eine Studie des Osteuropa-Institutes vom November 2004, in der festgestellt wurde, dass ein Beitritt die EU rund 14 Milliarden Euro pro Jahr kosten würde. Bei einem Beitritt, so wurde hochgerechnet, würde die Türkei bei einem Wirtschaftswachstum von 5 % und mehr – das ist die Wachstumsrate, die derzeit EU-weit im Durchschnitt gegeben ist – 40 Jahre brauchen, um 75 % des Lebensstandards zu erreichen, der im Kreis der 15 alten Mitgliedstaaten gegeben ist. Dieses Geld haben wir nicht, doch
Meine Damen und Herren, trotzdem muss festgestellt werden, dass die Türkei ein langjähriger Partner ist, der gerade in der Zeit des Kalten Krieges treu zu uns gestanden ist. Die Türkei ist ein Stabilitätsanker in der Region vom Kaukasus bis zum Irak. Die Türkei ist auch ein wichtiger Handelspartner. Deshalb ist es richtig und wichtig – und wir werden das auch anstreben –, dass die Türkei eine privilegierte Partnerschaft bekommt. Diese Möglichkeit der privilegierten Partnerschaft sollten wir nutzen. In den letzten Tagen konnten wir erleben, dass in dieser Frage auch in der Türkei ein Nachdenken stattfi ndet. Auch dort wird überlegt, ob eine privilegierte Partnerschaft mit Europa ein schnellerer Weg zur Vertiefung wäre.
Ich darf auch darauf verweisen, dass wir derzeit über eine künftige Mitgliedschaft von Bulgarien und Rumänien diskutieren. Unser Ministerpräsident war erst vor wenigen Tagen in Kroatien, in einem Land, das immer zu Europa gehört hat und das ebenfalls vor der Tür steht. Wir sollten alle miteinander innehalten und der Konsolidierung den Vorrang geben. Erst dann sollten wir über eine Erweiterung der Grenzen nachdenken. Ich halte es deshalb für wichtig und richtig, dass eine Phase der Konsolidierung eintritt.
Für die SPDFraktion erteile ich Herrn Dr. Förster das Wort. Auch für Sie wurden zehn Minuten Redezeit beantragt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Frau Präsidentin! Als ich das vorletzte Mal hier im Plenum am Rednerpult stand, um zum Dringlichkeitsantrag des Abgeordneten Bocklet zu sprechen, habe ich Ihnen angedeutet, dass ich einige Tage vor den Plenarsitzungen immer sehr aufgeregt bin, weil ich mir Gedanken darüber mache, welches Thema die Aktuelle Stunde haben wird oder welche Fragen ein Dringlichkeitsantrag ansprechen könnte. Auch vor der heutigen 44. Plenarsitzung habe ich mir solche Gedanken gemacht. Nun möchte ich mich bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, bedanken. Es ist schön, wie sehr man sich bei bestimmten Themen darauf verlassen kann, dass Sie diese brandaktuell im Plenum servieren, so auch in diesem Fall.
Es war für mich deshalb keine Überraschung, dass Sie sich nach dem Scheitern der Volksreferenden in Frankreich und in den Niederlanden und nach der bedauernswerten Absage bzw. dem Verschieben des Referendums der Briten mit der Frage auseinander setzen wollen, wie es mit Europa weitergehen soll. Dieses Thema soll und muss uns in der nächsten Zeit unbedingt beschäftigen. Wir sind aufgefordert, alles zu tun, um die europäische Idee zurück in die Köpfe und in die Herzen der Bürgerinnen und Bürger zu bringen. Ich sagte aber schon: brandaktuell. Sie überraschen mich leider nicht, wenn Sie, anstatt das Dilemma der EU-Verfassung zu thematisieren, einen Einzelaspekt herausgreifen, bei dem Sie auch sehr leicht ins Zündeln
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, hierbei möchte ich anmahnen, dass Sie besser auf Ihren Kollegen Volker Rühe hätten hören sollen, der schon im September 2003 in der „Rheinischen Post“ gesagt hat: „Es war immer die Politik der CSU und Helmut Kohls, dass die Türkei an denselben Kriterien zu messen ist wie alle anderen Beitrittsländer auch. Deswegen ist es unangemessen, das Thema der türkischen Mitgliedschaft in der EU in den Wahlkampf zu ziehen.“ Dieses Statement wiederholte auch Ole von Beust in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ am 22. Februar 2004, als er angesichts der damaligen Panikmache des CDU-Landesgruppenchefs Michael Glos hinsichtlich einer türkischen Völkerwanderung nach Deutschland sagte: „So etwas taugt wirklich nicht als Wahlkampfmunition und ist für uns kein Thema.“ – Nun aber nutzen Sie diese Munition doch.
Deshalb richte ich meinen Vorwurf an Ministerpräsident Stoiber und an jene in der CSU-Fraktion, die, meine sehr verehrten Damen und Herren, momentan in der Frage des EU-Beitritts der Türkei zu rhetorischen Höchstleistungen aufl aufen. Ich halte es für falsch, in der jetzigen Situation der Europapolitik dumpfe Ängste und Ressentiments bei der Bevölkerung zu schüren. Schnellschüsse als Reaktion auf das Nein der Franzosen und der Niederländer zur EUVerfassung sind fehl am Platz.
Wir brauchen eine vorsichtige Analyse und eine Diskussion, aber auf dem Boden der Fakten, auf Basis der Verträge und der Zusagen, die getroffen wurden. Frankreichs Nein zur gemeinsamen Verfassung und die Ablehnung durch das niederländische Volk offenbaren das grundsätzliche europäische Dilemma: Das derzeitige komplizierte Konstrukt der Europäischen Union ist dem Bürger inhaltlich fremd und erreicht nicht die Herzen der einfachen Bürger. An dieser Stelle frage ich mich: Wo ist die große Europapartei von Bundeskanzler Konrad Adenauer und von Bundeskanzler Helmut Kohl geblieben? Wo ist sie geblieben, wenn die großen Epigonen der Union, angefangen bei Frau Merkel über Herrn Stoiber bis zu den Herren Wissmann und Pfl üger dabei sind, die europäische Einigung auf dem Altar der Renationalisierung zu opfern?
Aus meiner Sicht ändern Sie aus kurzfristigem politischen Kalkül die Grundkoordinaten der Europapolitik der Unionspartei und öffnen damit die berühmte Büchse der Pandora. Wer die Schuld an den aktuellen Schwierigkeiten in der Europäischen Union und die gescheiterten Referenden zur Verfassung für Europa einfach und undifferenziert den neuen Mitgliedern der Union sowie Rumänien, Bulgarien, Kroatien und den anderen südosteuropä
Fällt Ihnen eigentlich auf, dass in Ihrer Partei die Kontinuität fehlt? Bei der Recherche für diese Aktuelle Stunde im Internet habe ich mich durch diverse CSU-Seiten gezappt. Da ist keine Linie zu erkennen. Binnen weniger Tage wechseln Repräsentanten Ihrer Partei von dem Standpunkt, dass die EU eine Ausweitung auf keinen Fall verkraften könnte, zu expliziten Forderungen, diese voranzutreiben. Da sagt der Vorsitzende des Fachausschusses Außenpolitik, Christian Schmidt, im März 2005, dass man einen Beitritt Kroatiens in keiner Weise behindern solle, und auf derselben Seite des Pressespiegels fi ndet man die Verlautbarung Ihres Generalsekretärs Markus Söder, das Boot sei voll und die EU in keiner Weise aufnahmefähig für weitere Mitglieder.
Wo ist was klar? Wie ist Ihre Haltung? Wo sind Kontinuität, Verlässlichkeit und vor allem auch Konsequenz?
Die Bundesregierungen von Konrad Adenauer über Willy Brandt und Helmut Schmidt bis hin zu Helmut Kohl haben sich im Ausland ein großes Ansehen nicht zuletzt dadurch erworben, dass sie immer für Kontinuität, Verlässlichkeit und die Verbindlichkeit von Vereinbarungen standen. Gerhard Schröder ist dieser guten Tradition immer treu geblieben und wird dafür in Europa auch sehr geschätzt.
Nun plädieren Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von der CSU, dafür, dass alle Vereinbarungen mit der Türkei, der seit 1961 eine Beitrittsperspektive gegeben und mit der für den 3. Oktober der Beginn von Beitrittsgesprächen verabredet wurde, plötzlich gebrochen werden sollen. Meiner Meinung nach offenbaren Sie damit, dass die CSU genauso wie ihre Schwesterpartei damit überfordert wäre, in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten eine verlässliche Außen- und EU-Politik zu betreiben. Denn Sie – wie im Übrigen auch Ihr Altbundeskanzler – vollführen hier eine 180-Grad-Drehung.
Nach 1997 war es der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl selbst, der die Kopenhagener Kriterien gegen Widerstände durchsetzte und erklärte, sie müssten für jeden möglichen Kandidaten, auch für die Türkei, verbindlich und ausschlaggebend für die Aufnahme in die EU sein. Er und nicht Gerhard Schröder hat damals den Türken das Blaue vom Himmel versprochen und will sich heute, wie übrigens viele Kollegen in seiner Partei inklusive der Schwesterpartei CSU, an nichts mehr davon erinnern.