Protokoll der Sitzung vom 19.07.2005

(Margarete Bause (GRÜNE): Wenn die Schüler so gut sind, warum gibt es dann so wenige Abiturienten?)

Wir haben die höchste Zahl an Handwerksbetrieben in Deutschland. Das lässt auf eine vergleichsweise Höchstzahl von Meistern schließen. Wenn die handwerkliche Ausbildung in Bayern ein Garant für den Vorsprung im innerdeutschen Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte ist, kann ich nur sagen, dass der Weg über das Handwerk zur Hochschulreife in Bayern auf beste Weise gegeben ist. Ich verweise dazu auf die Ausführungen des Herrn Staatsministers.

Wir wollen uns auf dieser Position nicht ausruhen, sondern auf diesem hohen Niveau noch ein gutes Stück nach vorne kommen. Deshalb kann ich nur darauf hinweisen, dass wir in der Einheit zwischen CSU-Fraktion und unserem Minister Initiativen nicht nur vorhaben, sondern

bereits auf den Weg gebracht haben. Ich nenne die individuelle Förderung der Kinder; da gibt es überhaupt keine Frage. Wir versuchen, die Rahmenbedingungen im Rahmen unserer Möglichkeiten zu verbessern. Wir haben beim Ausbau der Selbständigkeit der Schulen einen guten Schritt nach vorne gemacht. Wir wollen zentrale Bildungsstandards aufbauen, und wir brauchen auch einen guten Wettbewerb zwischen den Schulen. Das ist keine Frage. Das wollen wir in intensiver Zusammenarbeit zwischen Elternhaus, Kindergarten und Schule erreichen. Verbunden mit einer konsequenten Werteerziehung als Fundament für gute und für beste Leistungen geschieht das zum Wohl der Kinder in Bayern.

(Beifall bei der CSU)

Nächste Wortmeldung: Frau Kollegin Bause.

Kolleginnen und Kollegen! Wir fragen uns schon, warum diese Regierungserklärung heute abgegeben werden muss. Etwas Neues konnte uns der Minister nicht mitteilen.

(Widerspruch bei der CSU)

Ich weiß nicht, ob Sie in den letzten Tagen keine Zeitung gelesen haben, ob Sie keine Nachrichten gehört haben, ob Sie den Pisa-Bericht am Ende vielleicht gar nicht zur Kenntnis genommen haben. Auf jeden Fall konnte uns der Minister heute nichts Neues mitteilen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Noch sollten Plenarsitzungen nicht als Nachhilfestunde für leseunwillige CSUler dienen. Ihren Erkenntnisfortschritt müssten sie sich anderweitig aneignen, als dass uns der Minister mit einer eingeschobenen Regierungserklärung die Zeit stiehlt.

(Beifall bei den GRÜNEN – Widerspruch bei der CSU)

Etwas Neues konnte er uns nicht mitteilen. Es liegt nur ein dünner Vorabbericht vor. Die Ergebnisse sind zu diesem Zeitpunkt doch unter politischem Druck veröffentlicht worden. Die Forscherinnen und Forscher haben gesagt, sie seien noch gar nicht so weit, sie bräuchten noch mehr Zeit, um wirklich seriöse Aussagen machen zu können; sie bräuchten noch Zeit bis November. Nur auf politischen Druck musste dieser Bericht mit dem nackten Ranking, welches vorliegt, vorzeitig veröffentlicht werden. Das Ergebnis ist aber, dass die Aussagekraft dieser Daten bei weitem zu wünschen übrig lässt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dieser dünne Vorabbericht gibt leider nicht so viel her, auch wenn Sie versuchen, ihn nochmals und nochmals auszupressen.

Herr Schneider, der einzige Grund für Ihre Einlassungen von heute liegt offenbar darin, dass Sie es sich auch

einmal gönnen möchten, hier etwas Positives verkünden zu können. So sehr oft haben Sie die Gelegenheit dazu nicht. Es sei Ihnen auch gegönnt, dass Sie sich einmal hierher stellen und etwas Positives und Angenehmes verkünden. Gleich beim nächsten Tagesordnungspunkt wird es nicht mehr so angenehm für Sie. Da müssen Sie dann wieder den Kopf hinhalten für Angelegenheiten, die nicht so erfreulich sind.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Jetzt wollen wir uns aber einmal anschauen, was dieser Vorabbericht, der uns allen vorliegt, aussagt und was er nicht aussagt. Ich habe es schon angesprochen: Die Forscher unterstreichen, dass die Ergebnisse – Zitat – „mit großer Zurückhaltung interpretiert werden müssen“. Davon habe ich bei Ihrem Beitrag, Herr Waschler, nichts gehört. Auch bei Ihrem Beitrag, Herr Schneider, war von großer Zurückhaltung bei der Interpretation nichts zu merken.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Forscher kritisieren auch mit sehr deutlichen Worten den politischen Druck, dem sie ausgesetzt waren, als sie ihre Ergebnisse vorzeitig veröffentlichen mussten, damit die Ergebnisse als Wahlkampfmunition eingesetzt werden können. Im Bericht wird mehrfach darauf hingewiesen, dass – auch ein Zitat – „eine angemessene Interpretation erst auf der Basis des ausführlichen Berichts möglich sein wird“. Daran sollten Sie sich bitte halten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das hindert Sie, Herr Schneider, allerdings nicht daran, Ihre eigenen Interpretationen anzustellen und diese als wissenschaftliche Ergebnisse zu verkünden. Das ist unseriös und unprofessionell.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zweitens liegen auch keine differenzierten Ergebnisse über die Situation der Kinder aus den viel diskutierten bildungsfernen Schichten vor. Die vorliegenden Daten des Berichts sagen nichts darüber aus, ob die Chancen auf Teilhabe von Kindern aus nicht so privilegierten Bevölkerungsschichten gestiegen sind, ob sie gleich schlecht geblieben sind oder ob sie gesunken sind. Die Daten sagen nichts darüber aus, was mit den Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund ist. Dazu steht noch nichts drin. Sie hätten hier Geduld haben und abwarten sollen, wie die Situation nun tatsächlich ist. Die Daten sagen auch nichts über die Bildungsarmut in Bayern aus. Wir haben in Bayern Bildungsarmut, und es wäre höchst interessant für die Betroffenen, ob sich diese Situation verbessert hat, ob sich die Bildungsarmut verringert hat oder ob wir nach wie vor ein unannehmbar hohes Niveau von Bildungsarmut haben, sodass wir daran tatsächlich etwas ändern müssen. Darüber sagen die Daten nichts aus.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir wissen aber– nicht aus der Pisa-Studie, aber aus anderen Untersuchungen –, dass nach wie vor 8 bis 10 % eines Jahrgangs die Schule verlassen, ohne einen Abschluss in der Tasche zu haben. Wir wissen, dass ein Viertel aller Migrantenkinder die Schule verlässt, ohne einen Abschluss zu haben. Wir wissen, dass 15 bis 20 % aller Jugendlichen keinen berufl ichen Abschluss haben, mit all den Nachteilen, die das im späteren Leben bedeutet. Das betrifft die Einkommenssituation, die Chancen und die Teilhabemöglichkeiten. Wir wissen, dass jährlich 50 000 Kinder in Bayern eine Klasse wiederholen müssen. Wir wissen, dass die Nachfrage nach privatem Nachhilfeunterricht von Jahr zu Jahr ansteigt und schon in der Grundschule ein Ausmaß annimmt, welches das Versagen des staatlichen Bildungssystems unterstreicht. Offenbar wird im öffentlichen System bereits in der Grundschule nicht das notwendige Maß an Förderung erreicht, sodass immer mehr private Unterstützungsleistungen herangezogen werden müssen.

Wir wissen, dass sich die Übertrittsquote ans Gymnasium in Bayern seit Jahren nicht erhöht hat, dass aber die soziale Selektion beim Übertritt auf das Gymnasium besonders brutal ist. Wir wissen außerdem, dass die Bildungsarmut in Bayern von einer Generation auf die nächste Generation weitergegeben wird. Die bayerische Bildungspolitik versagt dabei, genau diesen Teufelskreis der Bildungsarmut zu durchbrechen. Das ist die große Herausforderung, vor der wir alle miteinander stehen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Schneider, Sie haben gesagt, die neuen Pisa-Ergebnisse würden mit dem Mythos Schluss machen, dass es in Bayern einen engen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungschancen, die ein Kind habe, gebe. Dass dies ein Mythos sei, ist nur Ihr Wunschdenken. Das ist kein Mythos. Das ist eine wissenschaftlich belegte Analyse aus der letzten Pisa-Studie. Diese Studie hat eindeutig belegt, dass es insbesondere in Bayern einen gravierenden Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungschancen gibt. Sie können nicht nur die positiven Ergebnisse für sich reklamieren und vor den negativen die Augen verschließen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Wir wissen, dass Sie von Selektion eine Menge verstehen. Eine selektive Wahrnehmung ist aber nach wie vor kein Erfolgsmittel, weder bei der Wahrnehmung von wissenschaftlichen Ergebnissen noch beim Zugang zu Bildungschancen. Auch hier ist Selektion nicht das Mittel der Wahl.

Die aktuellen Pisa-Daten sagen nichts aus über die Situation der bisherigen Verlierer im bayerischen Bildungssystem. Herr Schneider, für die betroffenen Kinder und die Eltern ist das kein Mythos, sondern bittere Realität, der sie sich Tag für Tag stellen müssen. Ihre Aufgabe ist es, diesen Kindern bessere Zukunftschancen und bessere Teilhabechancen zu ermöglichen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Schneider, wenn Sie glauben alles sei in Butter und bei der sozialen Schere und der sozialen Auslese hätte sich einiges zum Guten verändert, müsste Ihnen die aktuelle Erhebung des Deutschen Studentenwerks zu denken geben. Ich weiß nicht, ob Sie diese Erhebung zur Kenntnis genommen haben. In dieser Erhebung wurde über die letzten zwanzig Jahre die soziale Zusammensetzung der Studierenden nach ihrer sozialen Herkunft aufgelistet. Ich muss sagen: Dieses Ergebnis ist ein absolutes Armutszeugnis für die Bildungspolitik.

Bei der Zusammensetzung der Studierenden verzeichneten wir in den letzten zwanzig Jahren einen Rückgang der Kinder und Jugendlichen mit niedriger sozialer Herkunft. Vor zwanzig Jahren konnten noch 23 % der Jugendlichen mit einer niedrigen sozialen Herkunft an die Uni gehen. Heute – nach zwanzig Jahren, im Jahre 2003 – sind es nur noch 12 %. Eine gegenteilige Entwicklung haben wir am oberen Ende der sozialen Skala: Dort waren es vor zwanzig Jahren 17 %, heute sind es 37 %. Das müssen Sie sich einmal vor Augen führen, wie sich die soziale Zusammensetzung der Studierenden in den letzten zwanzig Jahren verändert hat.

Die Zugangshürden wurden gerade für Jugendliche aus niedrigeren sozialen Schichten verschärft. Sie können diese Hürden nicht überwinden und ihre Chancen nicht wahrnehmen, die sie eigentlich nach ihren Talenten und Fähigkeiten hätten. An diesem Punkt müssen Sie ansetzen. Wir müssen diese Entwicklung mit unseren bildungspolitischen Maßnahmen umdrehen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Ein weiterer Punkt: Die jetzt vorliegenden Daten der PisaStudie erlauben keine Aussagen über die Ursachen der Veränderung und der Kompetenzzuwächse. Das betonen die Forscher ausdrücklich.

(Staatsminister Prof. Dr. Kurt Faltlhauser: Die bayerische Bildungspolitik!)

Das sagen Sie. Die Forscher sagen das aber nicht, selbst wenn Sie das gerne gelesen hätten. Die Forscher betonen, Zitat: „Über die Ursachen der Kompetenzzuwächse lassen sich nach den bisher durchgeführten Analysen noch keine Aussagen machen.“ Eine Bestätigung Ihrer bildungspolitischen Maßnahmen können Sie daraus jedenfalls nicht ableiten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Im Gegenteil, Herr Schneider. Sie haben Glück, dass die Pisa-Erhebung im Jahre 2003 durchgeführt wurde und nicht zum jetzigen Zeitpunkt, mit dem aktuell an den Schulen herrschenden Chaos. Ich glaube, diese Ergebnisse wären dann möglicherweise nicht so erfreulich gewesen. Eine Bestätigung Ihrer derzeitigen Politik können Sie aus den Pisa-Ergebnissen nicht ableiten, auch wenn Sie eine solche Rechtfertigung gerne hätten. Dazu können Sie Pisa nicht missbrauchen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Vieles kann mit den derzeitigen Daten also noch nicht oder nicht gesagt werden. Eines kann man jedoch sehr deutlich feststellen: Die bayerischen Schüler und Schülerinnen haben in den Pisa-Tests besser abgeschnitten als ihre Mitschüler und Mitschülerinnen in den anderen Bundesländern. Das ist sehr schön, aber es nützt ihnen nichts. Denn obwohl sie im Durchschnitt bessere Leistungen erbringen, haben sie am Ende doch weniger gute Zugangsberechtigungen zu den weiterführenden Schulen oder zur Hochschule. Obwohl die Leistungen der bayerischen Schüler und Schülerinnen bundesweit am besten sind, haben wir in Bayern bundesweit die niedrigste Abiturientenquote. Das ist doch absurd.

Die Schüler sind zwar nach ihren Zeugnissen und Qualifi kationen gut, aber weisen die geringste Anzahl der Zugangsberechtigungen zur Hochschule oder zu weiterführenden Schulen auf. Es kann doch nicht sein, dass sie so gut sind, aber am Ende nicht davon profi tieren. Für die Hochschulen und die Arbeitgeber zählt immer noch am meisten der formale Bildungsabschluss, also, ob ein Schüler einen Hauptschulabschluss, einen Realschulabschluss oder das Abitur hat, unabhängig davon, in welchem Bundesland diese Leistung erbracht wurde. Die bayerischen Schüler und Schülerinnen sind zwar gut, haben aber weniger hohe Abschlüsse. Sie sollten sich einmal überlegen, was hier in der bayerischen Bildungspolitik schief läuft. Sie sollten einmal den bayerischen Schülern erklären, dass dies ein Erfolgsmodell ist.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Herr Schneider, Sie sagen, die Pisa-Ergebnisse seien eine Bestätigung des dreigliedrigen Schulsystems. Das sind sie gerade nicht. Die Pisa-Ergebnisse zeigen, dass Ihr Auslesesystem, das Sie bis zur Perfektion vorantreiben, nicht funktioniert. Wir haben viele Kinder, die an der falschen Schule sind. Wir haben viele Kinder, die von ihren Talenten und ihren Fähigkeiten her die Möglichkeit hätten, eine höhere, eine weiterführende Schule zu besuchen. Aufgrund der politischen Hürden, die Sie einführen, haben viele Kinder und Jugendlichen nicht die Chance, die ihnen eigentlich von ihrer Qualifi kation her zustehen würde. Damit sind die Kinder und Jugendlichen im internationalen Wettbewerb benachteiligt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das Ergebnis Ihrer Auslesepolitik ist die Benachteiligung der Schüler und Schülerinnen aus Bayern. Das ist der Punkt. Diesen Punkt werden wir so nicht akzeptieren.

(Beifall bei den GRÜNEN)