Protokoll der Sitzung vom 30.11.2005

(Simone Tolle (GRÜNE): Dass wir 51 Hauptschulen haben, das ist doch lächerlich!)

um Kinder, die aufgrund des Elternhauses in der Gesellschaft benachteiligt sind, den Anschluss an unser hochwertiges Bildungssystem nicht verpassen zu lassen?

(Beifall bei der CSU)

Es liegen mir keine weiteren Wortmeldungen vor. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:

Eingabe betreffend: Klassenbildung; Lernmittelfreiheit u.a (BI.0531.15).

Der Ausschuss für Bildung, Jugend und Sport hat sich mit dieser Eingabe in seiner Sitzung am 27. Oktober 2005 befasst und beschlossen, sie nach § 80 Nummer 4 der Geschäftsordnung aufgrund der Stellungnahme der Staatsregierung für erledigt zu erklären. Die SPD-Fraktion hat gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 2 des Bayerischen Petitionsgesetzes fristgerecht beantragt, diese Eingabe auf die Tagesordnung der Plenarsitzung zu setzen.

Ich eröffne hierzu die Aussprache und stelle fest, pro Fraktion stehen 15 Minuten Redezeit zur Verfügung. Als erstes hat sich Herr Kollege Pfaffmann zu Wort gemeldet. Bitte schön.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde die

15 Minuten Redezeit mit Verweis auf die gerade geführte bildungspolitische Diskussion der Aktuellen Stunde nicht ausschöpfen. Ich möchte aber trotzdem einige Anmerkungen zu dieser Petition machen und einige Begründungen liefern, weshalb die Eingabe in ihrer Sache und ihrer Begründung richtig ist. Zunächst aber möchte ich, weil es in unmittelbarem Zusammenhang steht, auf die letzte Wortmeldung hier am Rednerpult eingehen. Frau Kollegin Heckner hat von „Erziehungsverlierern“ gesprochen. Das ist eine bemerkenswerte Formulierung. Sie passt genau in die Linie der CSU, wonach immer die anderen an den Problemen, die wir hier in Bayern haben, schuld sind.

(Beifall bei der SPD)

Frau Heckner, immer sind es die anderen. Geradezu zynisch ist es aber, in diesem Hause zu sagen, die 22 400 Schülerinnen und Schüler, die derzeit an den Berufsschulen ohne Ausbildung sind, aufgrund ihrer mangelnden Bildungsabschlüsse, aufgrund schwieriger sozialer Verhältnisse und aufgrund schlechter Noten die keinen Ausbildungsplatz bekommen werden, seien „Erziehungsverlierer“. Wollen Sie all diese Jugendlichen tatsächlich als „Erziehungsverliererinnen und Erziehungsverlierer“ abstempeln? – Das ist eine Unverschämtheit, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall bei der SPD)

Ich darf Ihnen sagen – –. Wo ist Frau Kollegin Heckner überhaupt? Ich wollte Frau Heckner ansprechen, es ist aber nicht so wichtig, ob sie hier ist oder nicht. Frau Kollegin Heckner hat auch gesagt, es gebe keinen Zusammenhang zwischen Bildungsabschluss und der Berufslaufbahn. Ein solchen Blödsinn habe ich überhaupt noch nicht gehört.

(Heidi Lück (SPD): Genau!)

Jeder weiß doch, dass für die Berufslaufbahn der gute Schulabschluss der Kinder maßgebend ist. Wenn Jugendliche keinen guten Schulabschluss haben, dann kann das nicht damit begründet werden, dass die Wirtschaft nicht ausreichend Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt oder dass die Erziehung schlecht gewesen wäre. Nein, schuld sind auch die Schulen. Dafür sind Sie von der CSU verantwortlich. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen und dürfen es nicht immer auf andere abschieben. Das führt keinen Zentimeter weiter.

Frau Sem, der auch ich zum Geburtstag herzlich gratuliere, hat heute Morgen einen Philosophen zitiert, der gesagt habe: „Wir wollen werden, was wir werden können“. Das ist schön, das gefällt mir. Ich würde das aber gerne um die Formulierung ergänzen: „und was wir werden dürfen“.

(Heidi Lück (SPD): Genau!)

So müsste das heißen: „Wir werden, was wir werden können und was wir werden dürfen.“ Das würde in diesem Land einen anderen Ansatz geben. Es gibt nämlich Kinder

in diesem Land, die nicht werden dürfen, was sie werden könnten.

(Beifall eines Abgeordneten der SPD)

Das Problem der bayerischen Bildungspolitik wird sichtbar, wenn man die 10 % der Schüler in den Mittelpunkt stellt, die die Schule ohne Abschluss verlassen. So ist das, Frau Sem. Wir wären uns deshalb ganz schnell einig, wenn wir „Wir werden, was wir werden können“ um die Worte „und was wir werden dürfen“ ergänzen.

Ich möchte jetzt auf die Petition eingehen, die in allen Punkten gerechtfertigt erscheint. Diese Eingabe wurde nicht umsonst von 23 000 bayerischen Bürgerinnen und Bürgern unterschrieben. Ich darf zunächst auf einen Punkt in der Begründung der Eingabe eingehen. Die Petenten beklagen den Unterrichtsausfall an den bayerischen Schulen. Dieser Unterrichtsausfall wurde hier im Hause bisher immer abgestritten. Es wurde immer wieder seitens der CSU behauptet, von einem Unterrichtsausfall nichts zu wissen. Frau Staatsministerin a. D. Monika Hohlmeier hat hier vor kurzem noch erklärt, der Unterrichtsausfall läge unter einem Prozent und wäre deshalb zu vernachlässigen. Ich gratuliere, Herr Staatsminister Schneider, dass Sie jetzt erstmals unter dem politischen Druck, unter dem Sie stehen, nun auch den Unterrichtsausfall untersuchen wollen. Das ist eine perfekte Leistung. Nach vielen Jahren Diskussion über Unterrichtsausfall geht das Staatsministerium dazu über, stichprobenartige Erhebungen zum Unterrichtsausfall zu machen. – Das ist doch eine Bankrotterklärung Ihrer Politik! Warum haben Sie nicht in den vergangenen Jahren eine Statistik zum Unterrichtsausfall geführt, die sie auf den Tisch legen könnten, um die Lage zu dokumentieren? Ich verstehe das nicht. Trotzdem bin ich gespannt, zu welchem Ergebnis Sie aufgrund der Stichproben kommen.

Die Petenten verlangen zum Zweiten kleinere Klassen und mehr Lehrer. Auch dies ist eine durchaus berechtigte Forderung. Wie ist die Lage in unseren Klassen? Ich verweise auf eine Umfrage an den oberbayerischen Gymnasien. Die Lage ist im Übrigen auch an allen anderen bayerischen Schulen so, an den Gymnasien kann man es allerdings festmachen. In 60 % aller Klassen – bedenken Sie: 60 %! – sind mehr als 32 Kinder. Sie reden über Durchschnittszahlen in den siebten und achten Klassen. Dort sieht es etwas besser aus. Gerade bei den Kleinsten, die neu ins Gymnasium kommen, werden die größten Klassen gebildet. Was für eine verrückte Situation ist das? Das können Sie auch mit den guten Ergebnissen der PisaStudie nicht wegdiskutieren, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Sie reden seit Jahren von der Aufwertung der Hauptschulen. Ich will nicht immer nur von den Gymnasien reden, hier geht es auch um die Hauptschulen und um die Realschulen. Die Realschule ist gerade im Hinblick auf die Klassengrößen in den letzten Jahren eine in höchstem Maße belastete Schule. Dazu höre ich aber nichts von Ihnen.

(Zuruf des Abgeordneten Prof. Dr. Gerhard Waschler (CSU))

Herr Dr. Waschler, seit Jahren höre ich, die Hauptschule soll aufgewertet werden. Wo ist denn die Aufwertung der Hauptschule, die Sie seit zehn Jahren hier in diesem Hause fordern?

(Beifall bei der SPD)

Sie reden die Dinge nicht nur schön, Sie kündigen auch nur etwas an, tun aber nichts. Nichts! Die angebliche Aufwertung der Hauptschulen in den letzten Jahren ist im Ergebnis eine Abwertung. Das ist die bayerische Wahrheit. Deshalb ist der Inhalt der Petition richtig. Einen Teilaspekt davon will ich herausnehmen. Es wird die wohnortnahe Schule verlangt. Selbst Sie haben das immer wieder betont, aus verschiedensten Gründen. Die Politik der wohnortnahen Schule der CSU ist aber die Abschaffung der Teilhauptschule, und zwar im großen Stil.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Kolleginnen und Kollegen, was soll das sein? Wenn ich die wohnortnahe Schule erhalten will, dann darf ich doch keine Teilhauptschulen aufl ösen. Das ist doch der Punkt.

(Beifall bei der SPD)

Die Petenten haben deshalb Recht, wenn sie eine Aufwertung der Schulen und eine Verkleinerung der Klassen verlangen und die Einstellung von mehr Lehrerinnen und Lehrern.

Die Petenten fordern mehr Zeit zum Lernen und Üben. Auch diese Forderung ist richtig. Sie nehmen den Schulen die Zeit zum Lernen und Üben. Es ist doch so, dass immer mehr Hausaufgaben und Unterrichtsstoff nach Hause verlagert werden. Der Hausaufgabendruck in den Familien ist gigantisch groß. Wollen Sie das endlich einmal in Ihre Überlegungen einbeziehen? 70 % der Eltern sagen, ohne ihre tägliche Hilfe könnten die Hausaufgaben überhaupt nicht mehr bewältigt werden.

Das hat nichts damit zu tun, dass Hausaufgaben zum Lernen und Üben gedacht sind – oder einmal gedacht waren. Das hat damit zu tun, dass der Unterrichtsstoff nach Hause verlagert wird, weil in der Schule keine Zeit mehr vorhanden ist, den gesamten Stoff zu vermitteln, den der Lehrplan vorsieht. Das ist die Wahrheit. Deswegen ist es richtig, den Schulen mehr Zeit zum Lernen und Üben zu geben. Dafür benötigen wir aber mehr Lehrerinnen und Lehrer.

Herr Prof. Dr. Waschler, an der Tatsache, dass der Nachhilfemarkt boomt, kommen Sie nicht vorbei. Hunderte von Millionen Euro geben bayerische Eltern mittlerweile für die Nachhilfe aus. Ich hatte es Ihnen schon einmal an einem praktischen Beispiel erklärt: Stellen Sie sich einen Tag lang bei „Hugendubel“ in die Fachabteilung für Übungshefte zur Vorbereitung auf Schulaufgaben. Diese Abteilung boomt beim Buchhandel. Die Eltern kaufen Material, um mit dem Stoff, den Sie bei ihnen zu Hause abladen, fertig zu werden. Das kann doch keine gute Schule sein. Deswegen brauchen wir mehr Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen.

Das Gleiche gilt für die unbedingt notwendige Verbesserung der Förderung der Kinder. Wir brauchen keine Selektion nach unten. Die weiterführenden Schulen machen es sich sehr einfach: Entweder man schafft es, oder man schafft es nicht. Friss, Vogel, oder stirb; das ist die Politik, die an den Schulen gemacht wird. Wenn man es nicht schafft, wird man durch Sitzenbleiben nach unten durchgereicht. An den Schulen besteht keine Verpfl ichtung, Kinder zu fördern. Die Lehrerinnen und Lehrer haben gar keine Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler zu fördern, weil sie keine Zeit haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles steht und fällt in der Bildungspolitik – Pisa hin oder her – mit der Einstellung weiterer Lehrerinnen und Lehrer, alles steht und fällt mit einer deutlichen Erhöhung der Bildungsinvestitionen in diesem Land. Wir können noch so viel über Inhalte, über Berufsabschlüsse oder andere pädagogische Dinge diskutieren; wenn Sie die Bildungsfi nanzierung in diesem Land nicht erhöhen, werden Sie keine bessere Bildung erreichen. Die Petenten haben damit Recht, die Erhöhung der Bildungsfi nanzierung zu fordern.

Es ist und bleibt ein Märchen – auch wenn Sie hier das Gegenteil behaupten –, vor zehn Jahren haben Sie ohne Versorgungs- und Pensionslasten im Bildungshaushalt 17,4 % am Gesamthaushalt für Bildung ausgegeben. Im Haushalt 2005 geben Sie dafür ebenfalls 17,4 % aus. Gleichzeitig ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler um 170 000 gestiegen. Ist das die Erhöhung Ihres Bildungsetats? – Nein. Sie haben den Bildungsetat in Wahrheit faktisch bespart. Daran kann man ablesen, was Ihnen die Schülerinnen und Schüler wert sind. Sie machen keine Bildungspolitik, Sie machen Finanzpolitik im Bildungsressort.

(Beifall bei der SPD – Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Schlechte Finanzpolitik!)

Vielen Dank, Herr Kollege Dürr.

Sie machen aber nicht einfach Finanzpolitik im Bildungsressort; Sie machen miserable Finanzpolitik im Bildungsressort. Sie sollten wissen, dass sich Investitionen in Bildung lohnen.

Wissen Sie überhaupt, Kolleginnen und Kollegen von der CSU, was es kostet, wenn 10 % der Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss die Schule verlassen? Haben Sie sich darüber schon einmal Gedanken gemacht? – Das kostet diesen Staat mehr als ein paar hundert Millionen Euro, die heute in den Bildungsetat zu investieren wären. Dafür gebe ich Ihnen Brief und Siegel. Sozialkosten, Arbeitslosenhilfe, Ausbildung, Reintegration, Arbeitsfördermaßnahmen – das alles müssen Sie später bezahlen, wenn Sie zuwenig in die Ausbildung unserer Kinder investieren.

In der Petition werden noch weitere Dinge angesprochen, die ich erwähnen möchte: Lehrmittelfreiheit statt Büchergeld – darüber könnte man noch eine Stunde lang reden. Es ist nicht nur das Büchergeld, das hier zu kritisieren

wäre. Es ist eine Tatsache, dass Sie die Bildungskosten, die Schulkosten immer stärker auf die Elternhäuser abschieben. Zum Büchergeld kommen noch die Studiengebühren, die Nachhilfe.

Als Beispiel darf ich hier erwähnen: Ich habe meiner Tochter vor wenigen Tagen 180 Euro für eine Schulfahrt mitgeben müssen. Ich kann mir das gut leisten; aber eine allein erziehende Mutter kann sich das nicht mehr leisten.

(Beifall bei der SPD – Widerspruch des Abgeord- neten Prof. Dr. Gerhard Waschler (CSU))

Es sind nicht die 40 Euro Büchergeld alleine, sondern es ist die Summe, die Probleme bereitet. Es ist eine Bankrotterklärung, dass sich immer weniger Familien die Beschulung ihrer Kinder leisten können. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Hören Sie auf mit der Verlagerung der Kosten auf die Familien! Das ist nicht nur bildungsfeindlich, das ist sozial- und familienfeindlich.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Zum Thema „Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen“. Zu dieser Forderung werden Sie natürlich auch Ja sagen. Ich glaube nicht, dass es hier im Raum jemanden gibt, der sagt: Ja, Bildung muss vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Solchen schönen Forderungen müssen aber Taten folgen. Wenn man so etwas fordert, dann muss man das mit Substanz hinterlegen. Den Reden müssen Taten folgen. Ihnen laufen die Parteimitglieder wegen Ihrer Schulpolitik davon. Hier reden Sie von einer universellen, in der ganzen Welt beispielhaften Bildungspolitik. Die Diskrepanz zwischen Realität und Wahrheit ist nirgendwo so deutlich. Deshalb bitte ich Sie noch einmal, der Petition zuzustimmen. Vielleicht habe ich Sie überzeugt.