Protokoll der Sitzung vom 19.05.2006

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 69. Vollsitzung. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Sie wurde wie üblich erteilt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:

Aktuelle Stunde

Für die heutige Sitzung ist die Fraktion der SPD vorschlagsberechtigt. Sie hat die Aktuelle Stunde beantragt zu dem Thema „Jungen Menschen in Bayern Zukunft geben – mehr Ausbildungsplätze schaffen“. Die Regeln der Geschäftsordnung sind Ihnen bekannt. In der ersten Rednerrunde beträgt die Redezeit zehn Minuten. Danach beträgt sie fünf Minuten. Ergreift ein Mitglied der Staatsregierung das Wort für mehr als zehn Minuten, erhält eine Fraktion auf Antrag für eines ihrer Mitglieder zusätzlich fünf Minuten Redezeit. – Erste Rednerin ist Frau Kollegin Steiger.

Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Die Ausbildungsplatzsituation und die Aussichten auf die Zukunft für junge Menschen in Bayern sind schlecht, sie sind dramatisch schlecht. Das ist nicht neu, sondern zeichnet sich seit Jahren ab. Wir als SPD-Fraktion haben Jahr für Jahr den Finger immer auf diese Wunde gelegt und vor allem auch Initiativen ergriffen. Zuletzt bezog sich das auf das „Werkstattjahr statt einen Tag Berufsschule ohne Perspektive“, das von der CSU-Fraktion am 25. April abgelehnt worden ist.

Seit 2001 ist die Zahl der Ausbildungsplatzangebote in Bayern gesunken. Die Zahl derjenigen jungen Menschen, die einen Ausbildungsplatz suchen, ist aber gestiegen. Derzeit haben wir die Situation, dass 22 000 junge Menschen ohne Ausbildungsvertrag die Berufsschule besuchen, weil sie noch berufsschulpfl ichtig sind. Davon – das ist das Dramatische – sind 12 000 bis 13 000 Jugendliche in Bayern ohne irgendein Angebot in Jungarbeiterklassen, ohne irgendeine Maßnahme.

Wir verzeichnen einen Rückgang an Ausbildungsplätzen und einen deutlichen Anstieg von Maßnahmen, wobei man auch einmal kritisch hinterfragen muss: Wie wirkungsvoll sind solche Maßnahmen? Wo sind sie Parkplätze ohne Perspektive? Und wo führen sie zu einem Ziel, indem sie in einen Ausbildungsplatz münden? Ich nenne als Beispiel EQJ, das Sonderprogramm Einstiegsqualifi zierung Jugendlicher, wo die Evaluation durch das IAB, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, zu der Feststellung geführt hat, dass 60 bis 80 % der Jugendlichen einen Ausbildungsplatz fi nden. Das ist zwar positiv, aber diese Frage muss grundsätzlich gestellt werden.

Aktuell ist das Ausbildungsplatzangebot verheerend schlecht. Wir haben 4,3 % mehr gemeldete Bewerber und Bewerberinnen und 6,6 % weniger Stellen als 2005. Bayernweit haben wir durchschnittlich 70 Ausbildungsplatzangebote auf 100 Bewerber und Bewerberinnen.

Auch die regionalen Unterschiede, die wir seit Jahren anprangern, manifestieren sich. Zum Beispiel ist in der Oberpfalz die Relation 57 zu 100, in Oberfranken 41 zu 100. Wenn wir das auf die Einzelregionen übertragen, wird das Missverhältnis noch deutlicher. Im Agenturbereich Bamberg kommen zum Beispiel 35 Stellen auf 100 Bewerber. In Bayreuth und Hof sind es 40 und in Coburg 44 Ausbildungsplatzangebote. Bayern ist keine Insel der Seligen mehr. Gerade noch München und Weilheim bieten mehr Ausbildungsplätze an, als Bewerber vorhanden sind.

Kürzlich hat der Rektor einer Hauptschule geschrieben, dass von 22 Schülern erst zwei eine Lehrstelle haben. Das ist dramatisch und ein verheerendes Signal für junge Menschen.

(Beifall bei der SPD)

Denn junge Leute wollen – bis auf einen verschwindend kleinen Teil – einen Beruf ergreifen. Sie brauchen Perspektiven und auch Motivation.

Ich frage Sie, Kolleginnen und Kollegen von der CSU: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie sich immer wieder bewerben würden, ohne dass Sie Erfolg haben, wenn Sie von Maßnahme zu Maßnahme durchgereicht würden, ohne dass ein Ausbildungsplatz nachfolgt? Es gibt Unternehmen, die über Bedarf ausbilden, und zwar – dankenswerterweise – über Jahre hinweg. 63 % aller Betriebe in Bayern haben eine Ausbildungsberechtigung, aber nur 52 % bilden tatsächlich aus.

Es stellt sich auch die Frage: Was macht der Freistaat? Gehen die Staatsregierung, die Ministerien und die nachgeordneten Behörden mit gutem Beispiel voran? Wo wird ausgebildet, auch über Bedarf? Ich erinnere an den Appell von Frau Ministerin Stewens und des Staatssekretärs an die Wirtschaft. Dieser Appell wurde zu Recht ausgesprochen. Aber was macht man hier in eigener Verantwortung? – Gut, es gibt „Fit for Work“. Auch hier muss man die verschiedenen Maßnahmen untersuchen. Zum Beispiel ist die mobile Beihilfe ein Flop. Diese Maßnahmen muss man auch auf ihre Sinnhaftigkeit hinterfragen. Es muss gefragt werden, ob das Geld anderswo vielleicht sinnvoller eingesetzt werden kann.

(Beifall bei der SPD)

Der Gesamtblick auf die Situation ist wichtig. Was tut die Staatsregierung, um den Ausbildungsmarkt zu stärken, um die Jugendlichen zu stärken, um ihnen Chancen zu geben? Damit spreche ich die so genannten Rahmenbedingungen für Ausbildungsfähigkeit, Chancengerechtigkeit und Ausbildungsmöglichkeiten an. Sie bilden selbst zu wenig aus.

10 % unserer Kinder verlassen die Schulen ohne Abschluss. In diesem Zusammenhang fi nde ich eine Aussage von Herrn Staatsminister Dr. Goppel bemerkenswert, der gestern zur Hochschuldebatte gesagt hat: Seit 1958 gibt die CSU die Strukturen vor. Genau! Diese Strukturen verursachen die 10 %. Sie verursachen diese Zahl durch Auslese und Ausgrenzung.

(Beifall bei der SPD)

Das reparieren Sie durch die Möglichkeit, Schulabschlüsse nachzuholen, aber dann auf Kosten der Bundesagentur, des Bundes und der Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds. Diese Mittel fehlen dann dafür, berufsbildende Maßnahmen zu fi nanzieren, wie es in anderen Bundesländern gemacht wird.

Herr Staatssekretär Heike hat in einer Rede zum Ausbildungsmarkt ausgeführt: Zur Ausbildungsfähigkeit gehört ein qualifi zierter Schulabschluss. Das ist ganz richtig: Dazu gehört ein Schulabschluss. Aber wer trägt die Verantwortung dafür, dass die jungen Menschen in Bayern einen Schulabschluss machen können?

(Beifall bei der SPD)

Weiter muss man sich fragen: Was ist Bayern ein Berufsschüler und eine Berufsschülerin wert? – Weniger als der bundesdeutsche Durchschnitt. Da steht bezüglich Finanzierung der Freistaat Bayern unter den 16 Bundesländern an elfter Stelle. Bei den Studierenden ist es genau umgekehrt. Da steht Bayern bezüglich dessen, was Sie für die Studierenden ausgeben, in Deutschland an fünfter Stelle, also über dem deutschen Durchschnitt. Da passt etwas gewaltig nicht.

(Beifall bei der SPD)

Die Studiengebühren, die gestern von Ihnen beschlossen worden sind, führen zu Verdrängungen auf dem Arbeitsmarkt. Die Abiturienten verdrängen die Realschüler, weil es vermehrt junge Menschen gibt, die eine Ausbildung suchen, statt zu studieren. Ebenso verdrängen die Realschüler die Hauptschüler.

Mit Blick auf die Haushaltskürzungen von 2004 und deren Folgen sehen wir auch: Wenn die Kommunen kein Geld zum Investieren haben, bekommen Handwerk und Baugewerbe keine Aufträge, können somit also weniger ausbilden, als sie wollen.

Ihre Politik der schwarzen Null verhindert Ausbildungsplätze. Wenn die Kommunen kein Geld haben, können sie selber auch nicht ausbilden. Ich erinnere an unseren Antrag, die Kommunen fi nanziell zu unterstützen, wenn sie vermehrt ausbilden. Diesen Antrag haben wir schon vor Jahren gestellt, auch der ist von Ihnen abgelehnt worden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU.

(Beifall bei der SPD)

Alle Anträge von uns aus den vergangenen Jahren, die sich mit dem Ausbildungsmarkt beschäftigt und Lösungen aufgezeigt haben, wurden von Ihnen abgelehnt. Das Fazit lautet: Die Chancen junger Menschen für eine berufl iche Zukunft beginnen nicht erst mit der Ausbildung. Ihre bisherigen Bemühungen erkenne ich durchaus an, die Programme reichen aber bei weitem nicht aus. Die Staatsregierung selbst ist verpfl ichtet, jungen Menschen Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Sie ist verpfl ichtet, die Finanzkraft der Kommunen zu stärken, damit diese sowohl investieren als auch selbst ausbilden können. Wir

sind unbedingt dafür, Jungarbeiterklassen abzuschaffen und das Werkstattjahr einzuführen, wie es auch der Oberste Rechnungshof schon deutlich gemacht hat. Die Wirtschaft, das Handwerk, die Industrie und das Dienstleistungsgewerbe sind gefordert auszubilden. Bei diesem dringenden Appell kann ich Sie nur unterstützen; denn wer heute nicht ausbildet, hat morgen keine Fachkräfte. Das kommt schneller, als manche denken.

(Beifall bei der SPD)

Nicht Beschwichtigung ist angesagt nach dem Motto, das Ausbildungsjahr beginnt erst im September, da passiert noch vieles; sondern es ist aktuell notwendig zu handeln, um den jungen Menschen eine Chance zu geben, damit sie in Bayern eine Ausbildung bekommen und somit auch in ihrer Region bleiben können.

(Beifall bei der SPD)

Nächste Wortmeldung: Herr Kollege Unterländer.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Steiger, das Bild, das Sie hier gezeichnet haben, hat mit der Realität im Freistaat Bayern nichts zu tun. Im Vergleich zu anderen Bundesländern ist die Situation auf dem Ausbildungsmarkt im Freistaat Bayern wesentlich besser. Das sollten Sie auch einmal zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der CSU – Widerspruch bei der SPD – Franz Schindler (SPD): Das ist schon ein zynisches Argument!)

Von einer guten berufl ichen Bildung profi tieren die jungen Menschen genauso wie die Unternehmen, die ausbilden. Die Ausbildungsplätze sind für die Entwicklung der Persönlichkeit junger Menschen ebenso von Bedeutung wie für ihre Existenz. Deshalb ist die berufl iche Bildung auch in den Gesamtkontext einer umfassenden Gesellschaftspolitik zu stellen. Wir müssen aufgrund dieser praktischen wie auch politischen Bedeutung gerade nach der Verabschiedung des Hochschulgesetzes eindeutig fordern, dass die berufl iche Bildung und die Hochschulbildung in der politischen Bedeutung und in der politischen Gewichtung gleichzustellen sind. Es darf keinen Nachrang der berufl ichen Bildung geben.

(Beifall bei Abgeordneten der CSU – Zuruf von der SPD: Tosender Beifall bei der CSU!)

Die Zahl der angebotenen Lehrstellen hängt immer von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung ab. Deshalb ist eine gute wirtschaftliche Entwicklung ein Garant für die Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen. Wenn man diesen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und den Möglichkeiten der Unternehmen, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, muss auch darauf hingewiesen werden, dass gerade Handwerksbetriebe und

mittelständische Unternehmen trotz schwieriger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und trotz betriebswirtschaftlicher Probleme über den Durchschnitt hinaus ausgebildet haben und ausbilden.

(Christa Steiger (SPD): Und was macht der Freistaat Bayern?)

Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Rahmenbedingungen für diese Betriebe gestärkt und verbessert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CSU)

Ein nicht unerheblicher Teil der circa 3700 nicht vermittelten Jugendlichen im Freistaat Bayern benötigt Unterstützung bei der Ausbildungsbefähigung. Darauf haben Sie auch hingewiesen. Das Ziel muss dabei aber in erster Linie sein, dass die Integration in den regulären Ausbildungs- und Arbeitsmarkt erreicht wird. Ich glaube, darüber kann auch Konsens hergestellt werden. Dazu ist es aber notwendig, dass wir die Ausbildungsfähigkeit Jugendlicher ebenso stärken, wie wir Bereitschaft zur Verbesserung politischer Rahmenbedingungen zeigen.

(Christa Steiger (SPD): Dazu machen wir viel zu wenig Jugendsozialarbeit!)

Für die rund 21 000 Jugendlichen, die nach dem Schulabgang ohne Lehrstelle sind und sich in der Berufsschule befi nden, gibt es sehr wohl von der Bayerischen Staatsregierung geschaffene und bewährte Programme. Aber auch hier ist ein politisch ganzheitlicher Ansatz notwendig, den wir in der CSU-Landtagsfraktion durchaus sehen. Die Ausbildungsfähigkeit beginnt schon mit einer guten frühen Förderung junger Menschen und nicht erst mit der Förderung Erwachsener.

(Hans-Ulrich Pfaffmann (SPD): Deshalb haben wir auch Klassen mit 36 Kindern!)

Auch die Förderung der Eltern ist ein notwendiger Ansatz. Ich glaube schon, dass mit der Eltern- und Familienbildung die Grundlage dafür geschaffen wird, welche Ausbildungsmöglichkeiten junge Menschen später haben. Die Ausbildungsfähigkeit muss weiterhin in der Schule – und hier insbesondere in der Hauptschule – gestärkt werden. Praxisorientierung und Förderung theorieschwacher junger Menschen sind ein Schwerpunkt. In der Berufsschule sind kooperative Ansätze, die sich bewährt haben, für betroffene Jugendliche ohne Ausbildungsplatz von entscheidender Bedeutung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Eckdaten der Berufsberatungsstatistik zeigen, dass es im Freistaat Bayern bessere Ergebnisse gibt als in vielen anderen Ländern. Die ernste Situation auf dem Ausbildungsmarkt ist dennoch eine politische Verpfl ichtung und Herausforderung. Bei den gemeldeten Stellen haben wir einen Rückgang um 6,6 %. Bei den gemeldeten Bewerbern haben wir gegenüber dem vergangenen Jahr einen Zuwachs von 4,3 %. Im Jahr 2006 – das müssen wir in dem Kontext auch sehen – erreichen wir in demographischer Hinsicht den Höhepunkt beim Zugang Jugendlicher zu den Ausbil

dungsmärkten. Der Freistaat Bayern hat im Bundesvergleich bezüglich des Verhältnisses zwischen gemeldeten Stellen und gemeldeten Bewerbern eine gute Position. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass der Freistaat Bayern mit dem Programm EQJ, mit „Fit for Work“, mit dem Vollzug des Ausbildungspakts des Bundes und mit der berufsbezogenen Jugendhilfe gute Antworten gegeben hat.

(Christa Steiger (SPD): EQJ ist ein Bundesprogramm der Agentur für Arbeit!)

Meine nach mir redenden Kolleginnen und Kollegen werden zu diesen Programmen noch gezielt Stellung nehmen.