Protokoll der Sitzung vom 10.11.2006

Der Fortschrittsbericht der Kommission von dieser Woche weist in der Türkei gravierende rechtsstaatliche Defi zite aus, zum Beispiel die unzureichende Beachtung von Menschenrechten und den klaren Vertragsbruch gegenüber dem EU-Mitglied Zypern. Angesichts all der problematischen Punkte im Wertekatalog, kann man nicht sagen, in der derzeitigen Diskussion konzentriert man sich einfach nur auf zwei Punkte. Das ist falsch. Man muss die ganze Palette der Defi zite sehen, nicht nur § 301 in der türkischen Verfassung und das Ankara-Protokoll. Erst dann, wenn die Probleme ausgeräumt sind, kann man mit der Türkei weiterverhandeln. Die Türkei teilt die in Europa vorhandenen Werte nicht. Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei wird im Dringlichkeitsantrag der CSU abgelehnt. Das entspricht auch der Haltung der Bayerischen Staatsregierung.

Im Fortschrittsbericht der Europäischen Union ist klar formuliert: „Wenn die Türkei die eingegangenen vertraglichen Verpfl ichtungen nicht erfüllt, muss dies ernste Konsequenzen haben.“ Die richtige Konsequenz aus der Nichteinhaltung der Verpfl ichtungen und dem negativen Fortschrittsbericht sollte dann das Einfrieren der neuen Verhandlungen sein.

Die Europäische Union würde sich mit einer Weiterführung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei völlig unglaubwürdig machen. Es ist bereits jetzt nicht mehr zu vermitteln, dass die EU-Beitrittsverhandlungen mit einem Land geführt werden, das einen Mitgliedstaat der Europäischen Union, nämlich Zypern, nicht anerkennt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch Sie würden keinen Vertrag eingehen, bei dem Sie zum Beispiel schon im Vorfeld wissen, dass Sie von demjenigen, der den Vertrag mit Ihnen eingeht, gar nicht anerkannt werden. So etwas

ist weder akzeptabel noch realistisch, und darüber muss man reden.

Da sich die Türkei unter anderem weigert, elementare rechtsstaatliche und politische Grundsätze einzuhalten, dürfen keine neuen Verhandlungskapitel eröffnet werden. Es ist höchste Zeit, den Verhandlungen mit der Türkei eine neue Richtung der Intensivierung der Beziehungen zur Europäischen Union jenseits eines Beitritts zu geben und zu eröffnen. Die Bundesregierung muss die deutsche Ratspräsidentschaft auch dazu nutzen, um die politischen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitgliedstaaten in der Welt weiterzuentwickeln und zu stärken, um das Gewicht der Europäischen Union im globalen Wettbewerb zu stärken.

Die fachpolitischen Forderungen des Dringlichkeitsantrags zu den Bereichen Energie, Klimaschutz, Finanzen, Beschäftigungs- und Sozialpolitik, Justiz und Inneres, Agrarpolitik und transeuropäisches Verkehrsnetz entsprechen den bayerischen Positionen.

Ich möchte nochmals auf den vorhin angesprochenen Agrarbericht zurückkommen. Wir wollen, dass in den Jahren 2008 und 2009, wenn es bei der mid term review um eine Neuausrichtung und Überarbeitung geht, wie es mit der Finanzierung weiterhin aussieht, auch im Agrarbereich die Weichen richtigstellen. Das bedeutet: Wir wollen in der Mittelausstattung mehr Mitspracherecht haben. Wir streben auch im Agrarbereich eine Kofi nanzierung an, weil wir das für absolut zielführend und richtig halten. Herr Kollege Zeller hat das im Vorfeld schon angesprochen.

Ich möchte aus diesem Katalog nur den Bereich Justiz/ Inneres herausgreifen. Hier muss während der deutschen Ratspräsidentschaft die Fortentwicklung der Zusammenarbeit von Justiz und der operativen Polizeiarbeit sowie die Verbesserung des Informationsaustausches in der Tat im Mittelpunkt stehen.

Allerdings ist die Zusammenarbeit konsequent auf Fälle mit grenzüberschreitendem Bezug zu beschränken. Eine umfassende Vergemeinschaftung bei Justiz und Innerem ist entschieden abzulehnen. Ich möchte nicht, dass die Europäische Union uns ganz genau vorschreibt, wie wir mit der Polizei zu verfahren haben. Das kann nicht unser gemeinsames Ziel sein.

(Beifall bei der CSU)

Die Bayerische Staatsregierung wird selbstverständlich auch während der deutschen Ratspräsidentschaft darauf drängen, dass die aus bayerischer Sicht vorrangigen Themen und Aufgaben hinreichend berücksichtigt werden, unter anderem auch in der Abteilung Europapolitik im Wirtschaftsministerium. Die Erklärung des Bundeskabinetts zur deutschen Ratspräsidentschaft vom 5. November 2006 weist in die richtige Richtung. Das Bundeskabinett unterstreicht hierin die Notwendigkeit einer Erneuerung der Europäischen Union. Als vorrangige Themen werden dabei der EU-Verfassungsvertrag, die Erweiterungspolitik, die Globalisierung, die Stärkung des Wettbewerbs, die Stärkung der Wirtschaft sowie die Energie und der Klimaschutz genannt. Es wird nun darauf

ankommen, wie die Bundesregierung diese Zielvorgaben konkret in ihrem Arbeitsprogramm umsetzen wird. Die Bayerische Staatsregierung wird den gesamten Prozess jedenfalls aufmerksam begleiten.

Abschließend möchte ich dem Landtag empfehlen, den Dringlichkeitsantrag der CSU zu unterstützen; denn er ist zielführend und ausgewogen.

(Beifall bei der CSU)

Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Damit ist die Aussprache geschlossen. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Dringlichkeitsantrag auf Drucksache 15/6692 seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. – Das ist die CSU-Fraktion. Wer ist dagegen? – Die SPD-Fraktion und die Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN. Stimmenthaltungen? – Keine. Damit ist der Antrag angenommen.

Zur gemeinsamen Behandlung rufe ich auf:

Dringlichkeitsantrag der Abg. Franz Maget, Johanna Werner-Muggendorfer, Susann Biedefeld u. a. u. Frakt. (SPD) Keine Aufweichung des Ladenschlussgesetzes in Bayern – Familie hat Vorrang (Drs. 15/6693)

und den nachgezogenen

Dringlichkeitsantrag der Abg. Joachim Herrmann, Renate Dodell, Thomas Kreuzer u. a. u. Frakt. (CSU) Für interessengerechte Ladenöffnungszeiten in Bayern – Entwicklung in anderen Bundesländern sorgsam auswerten (Drs. 15/6761)

Ich eröffne die gemeinsame Aussprache und darf Frau Kollegin Sonnenholzner das Wort erteilen. Bitte schön, Frau Kollegin.

Frau Präsidentin, Kolleginnen und Kollegen! Ganz bewusst haben wir als SPD-Fraktion unseren Antrag überschrieben mit den Worten „Keine Aufweichung des Ladenschlussgesetzes in Bayern – Familie hat Vorrang“, weil in der Tat eine weitere Aufweichung bzw. Liberalisierung – wie das heute so schön heißt – auf sehr viele Menschen im Lande negative Auswirkungen hätte. Im Wesentlichen beträfe sie aber die Familien.

Die SPD-Landtagsfraktion hat sich ausführlich mit dem Thema beschäftigt. Wir haben alle betroffenen Interessengruppen befragt und sind nach ausführlicher Beratung einhellig zu dem Ergebnis gekommen, dass eine weitere Aufweichung der Ladenschlusszeiten in Bayern in sehr vielen Bereichen negative Auswirkungen hätte.

Wir freuen uns über den Beschluss zumindest der Hälfte der Mehrheitsfraktion in diesem Hause, bei der wir davon ausgehen können, dass sie das Anliegen unseres Antrags teilt. Sie haben heute früh schon eine Sondersitzung

gebraucht. Ich bin zuversichtlich, dass diese 50 % kein Problem haben werden, unserem Antrag zuzustimmen.

(Beifall bei der SPD)

In diesem Antrag wird um nicht mehr und nicht weniger gebeten als um Zustimmung dazu, das bestehende Ladenschlussgesetz mit den Öffnungszeiten bis 20 Uhr und dem Sonn- und Feiertagsverbot beizubehalten und unverändert für Bayern zu übernehmen. Die große öffentliche Aufmerksamkeit, die das Thema im Moment fi ndet, hat sicher auch mit dem Geeiere zu tun, das Ihre Fraktion an den Tag gelegt hat. Es wäre aber zu einfach, zu behaupten, dass die öffentliche Aufmerksamkeit nur darauf zurückzuführen sei. Tatsächlich haben Sie alle stapelweise Stellungnahmen von besorgten Bürgerinnen und Bürgern und von Verbänden erhalten, die Ihnen sehr dezidiert, ausführlich, detailliert und ernsthaft ihre Bedenken dazu dargelegt haben.

Die Diskussionen über den Ladenschluss begleiten die politische Debatte genauso wie Sie und mich seit Jahrzehnten. Mit abenteuerlichsten Thesen wird die Notwendigkeit von längeren Öffnungszeiten begründet. Da geht es unter anderem um den wirtschaftlichen Aufschwung. Ich weiß nicht, wer sich noch erinnert, dass Herr Rexrodt einmal Wirtschaftsminister war. Er hat jedenfalls gleich die Existenz des Standortes Deutschland an die Ladenöffnungszeiten geknüpft. Ähnliche Argumentationen hört man gelegentlich auch von anderer Seite. Wir produzieren hier aber keine Gelddruckmaschinen. Es kommt nicht mehr Geld ins Land, also kann auch nicht mehr Geld ausgegeben werden.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe nicht viel von Mathematik verstanden, aber mir ist klar, wenn ich jeden Euro nur einmal ausgeben kann, dann nützt es auch nichts, mich ihn bis 24.00 Uhr ausgeben zu lassen.

Das nächste Argument, wonach die bestehenden Öffnungszeiten nicht ausreichen, ist ebenso unsinnig. An sechs Tagen in der Woche kann in Deutschland bis 20.00 Uhr eingekauft werden. Ich meine, wenn es eine Abgeordnete mit drei Kindern und einer Arbeitszeit von 70 Stunden in der Woche schafft, in dieser Zeit einzukaufen, dann können das auch andere. Das ist also kein Argument.

(Beifall bei der SPD)

Schwerwiegend aber wären die Folgen dieser sogenannten weiteren Liberalisierung insbesondere – das steht schon im Titel unseres Antrags – für Familien mit Kindern. Die Frauen, die im Verkauf arbeiten, kommen jetzt schon mit dem Angebot der Kindertagesstätten – Kita – bei Weitem nicht aus. Es gibt keine Kita, die bis 20.00 Uhr offen hat. Es gibt auch keine Kita, die darüber hinaus offen hat. Man muss nämlich auch bedenken, dass die Frauen nicht an ihrem Arbeitsplatz wohnen, sondern noch einen Heimweg haben, für den sie Zeit brauchen. Dass Alleinerziehende noch stärker betroffen sind, liegt auf der Hand.

Das braucht man nicht weiter zu begründen. Insgesamt leidet das Familienleben.

Genau heute vor 50 Jahren hat der DGB unter dem Motto „Am Samstag gehört Vati mir“ für den freien Samstag gekämpft. Jetzt müssen wir uns überlegen, ob wir uns für den freien Sonntag nicht nur für Väter, sondern auch für Mütter einsetzen müssen.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CSU)

Beruhigen Sie sich, Herr Kollege. Sie dürfen nachher lang und umfänglich zum Thema sprechen. Ich verstehe Ihre Aufregung, aber im Moment habe überwiegend ich das Wort.

Für Arbeitnehmerinnen kommt es zu einem weiteren Abbau von Ganztagsarbeitsplätzen zugunsten von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Diesen Trend haben wir schon bei den Öffnungszeiten bis 20.00 Uhr festgestellt. Die Arbeitszeiten werden ungünstiger. Es gibt oft längere Pausen dazwischen. Auch hier stellt sich das Problem der Kinderbetreuung. Die Frage ist auch: Wie sollen die arbeitenden Menschen bei Öffnungszeiten bis 22.00 oder 24.00 Uhr überhaupt nach Hause kommen, wenn sie in einer Gegend wohnen, in der nicht, wie in der Landeshauptstadt München, durchgängig bis 2.00 Uhr nachts öffentliche Verkehrsmittel fahren? Das ist doch alles vollkommen undurchdacht.

(Beifall bei der SPD)

Es leiden aber nicht nur diejenigen, die dort arbeiten, sondern es leiden auch die wohnortnahen Einkaufsmöglichkeiten. Längere Öffnungszeiten sind im Wesentlichen für größere Ketten interessant. Diese haben sich auch schon entsprechend positioniert. Das führt aber zu einer Wettbewerbsverzerrung und einer weiteren Konzentration. Noch mehr kleine Geschäfte werden dem Wettbewerb nicht mehr standhalten können. Besonders negativ sind die Auswirkungen im ländlichen Raum, für den Sie in Ihren Sonntagsreden – reden dürfen Sie sonntags auch jetzt schon – einstehen.

Betroffen ist der ländliche Raum, betroffen sind aber auch die Senioren. Wir diskutieren in der Sozialpolitik zu Recht darüber, dass den alten Menschen so lang wie möglich das Leben in der eigenen Wohnung ermöglicht werden soll. Die alten Menschen müssen aber nicht nur leben, sondern sich auch ernähren und dazu einkaufen. Deswegen müssen sie wohnortnahe Einkaufsmöglichkeiten haben.

(Beifall bei der SPD)

Es ist doch in vielen Gebieten heute schon so, dass man ohne Auto kaum einkaufen kann. Dieser Trend wird sich noch verschärfen.

Im Übrigen haben längere Ladenöffnungszeiten auch negative Auswirkungen auf den Service. Es gibt nicht mehr Personal – deswegen gibt es weniger Personal pro Zeiteinheit, wenn die Ladenöffnungszeiten ausgedehnt

werden, und die Beratung, der Service sowie die Dichte des Personals werden entsprechend weniger. Das hat man auch schon bei der Öffnung bis 20 Uhr gesehen.

(Beifall bei der SPD)

Nicht ohne guten Grund laufen das Handwerk und die kleinen Einzelhandelsläden Sturm. Nehmen Sie doch ernst, was Ihnen zum Beispiel das Bäckerhandwerk in langen und ausführlichen Briefen schreibt, das jetzt schon massiv unter Konkurrenzdruck steht, das jetzt schon darunter leiden muss, dass an jeder Tankstelle, in jedem Supermarkt oder sonst wo Backwaren verkauft werden; dass diese Läden auch sonntags anbieten. Dies macht die kleinen Betriebe kaputt. Dies gilt für die Bäcker, dies gilt aber auch für die Metzger und andere Handwerksbetriebe der Ernährungsbranche.

Zum gesellschaftlichen Leben: Wir beklagen alle zu Recht, dass das ehrenamtliche Engagement zurückgeht. Auch das wird nicht besser werden, wenn die Leute rund um die Uhr arbeiten müssen. Wann sollen sie sich denn neben ihrer Familie, neben ihrem Job auch noch um ihr Engagement in Vereinen oder in der Wohlfahrtsarbeit kümmern?

Ich nenne ganz bewusst das Thema „Keine Aufweichung an Sonn- und Feiertagen“, weil wir dies einschränkungslos fordern. Sie sagen das auch. Ihr Ministerpräsident sagt aber im gleichen Atemzug, dass noch vor Weihnachten die Diskussion darüber eröffnet werden wird, weil es um den Weihnachtseinkauf geht, was längere Öffnungszeiten betrifft, und dass in Unterfranken wegen des Drucks aus Hessen die Diskussion darüber beginnen wird. Was tun Sie denn, verehrte Kolleginnen und Kollegen in der CSU, wenn in Unterfranken gesagt wird: Auch am Sonntag wandern uns die Leute ab; sie fahren am Sonntag alle nach Hessen zum Einkaufen? Ich kann mir vorstellen, wie schnell Sie dann bei der Hand wären, auch dieses aufzuweichen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Abschließend bitte ich nochmals, zumindest die Hälfte Ihrer Fraktion, um Zustimmung zu unserem Antrag in namentlicher Abstimmung.

Zu Ihrem Antrag: Das, was Sie uns heute vorlegen, ist wirklich beinahe lächerlich. Dies beginnt schon mit den interessengerechten Ladenöffnungszeiten. Welchen Interessen sollen sie denn gerecht werden? Dieser Antrag wird maximal Ihrem Interesse gerecht, mit einem entschiedenen Sowohl-als-auch im Moment weder ihre eigenen Reihen noch irgendeine Klientel draußen zu bedienen. Das wird aber nicht gehen.