Protokoll der Sitzung vom 28.11.2006

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 80. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben wie immer um Genehmigung gebeten, und natürlich wurde die Genehmigung wie immer erteilt.

(Franz Maget (SPD): Vollsitzung ist gut!)

Wir sind manchmal noch weniger, Herr Kollege Maget.

(Margarete Bause (GRÜNE): Weniger geht fast nicht mehr!)

Ich wollte noch einer Kollegin, die Präsidiumsmitglied ist, zum Geburtstag gratulieren. Ich werde das später tun, wenn sie anwesend ist, da sie einen halbrunden Geburtstag feiert.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde

Für die heutige Sitzung ist die Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN vorschlagsberechtigt. Die Kolleginnen und Kollegen haben eine Aktuelle Stunde zum Thema „Schulsterben stoppen – mehr Freiheit wagen“ beantragt.

Wie das geschäftsordnungsmäßig in der Aktuellen Stunde läuft, wissen Sie. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, selber auch ein bisschen auf die Uhr zu schauen – es ist nun einmal so, dass die Redezeit zehn bzw. fünf Minuten beträgt –, damit ich nicht immer einschreiten muss.

Ich darf Frau Kollegin Tolle als erste Rednerin bitten. Die Redezeit beträgt zehn Minuten, Frau Kollegin.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das heutige Thema heißt: „Schulsterben stoppen – mehr Freiheit wagen“. Ich stelle hier ein „Abgeordnetensterben“ fest bzw. stellte fest, die Anwesenheit der CSU-Abgeordneten stirbt. Ich zähle nur zwei CSU-Abgeordnete. Das macht deutlich, Herr Kollege Waschler, wie wichtig der schwarzen Mehrheitsfraktion der ländliche Raum und die Zukunft des ländlichen Raumes ist.

(Prof. Dr. Gerhard Waschler (CSU): Ich bin da, Frau Kollegin!)

Die Schule auf dem Dorf liegt im Sterben. Die Schule auf dem Dorf ist dem Tod geweiht. Das Schlimmste, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist erstens das Desinteresse der CSU, die hier nicht anwesend ist, zweitens, dass Sie sich davor scheuen, das Problem zu benennen, und drittens, dass es eine Medizin gibt, dass Sie sich aber wie der Teufel vor dem Weihwasser scheuen, sich damit auseinanderzusetzen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Und wenn wir die Schule auf dem Land zu Grabe tragen, sehr geehrte Damen und Herren, und mit ihr die Zukunft des Dorfes beerdigen, dann bin ich mir sicher, dass am Grab ein CSU-Abgeordneter schluchzend bekennen wird: Wir wollten nur das Beste.

(Zuruf von der SPD: Jawohl!)

Der Anlass für diese Aktuelle Stunde ist die Antwort des Ministeriums auf eine aktuelle Anfrage von mir. Ich stelle fest: Das Ministerium ist nicht da. Ich möchte für das Protokoll sagen, dass gerade im Ministerium das Wort „Pünktlichkeit“ sehr häufi g fällt. Das Ministerium hat mir aber geantwortet, dass in den Schuljahren 2005 bis 2008 mehr als 300 Hauptschulen geschlossen worden sind. Betroffen sind fast 11 000 Schülerinnen und Schüler. Bei insgesamt noch 1100 vorhandenen Hauptschulen bedeuten 300 aufgelöste Hauptschulen ungefähr eine Auflösungsquote von einem Drittel. Diese Entwicklung müssen wir mit der Bevölkerungsprognose sehen.

Ich habe Daten vom Statistischen Landesamt über die prozentuale Veränderung der Bevölkerungszahlen. Die für uns relevante Altersgruppe liegt zwischen 6 und 18 Jahren. In einem Fünfjahreszeitraum sinken in einem Fünftel der kreisfreien Städte und Landkreise die Schülerzahlen um mehr als 10 %, zum Beispiel in Unterfranken, Herr Kollege Hünnerkopf, oder in Rhön-Grabfeld um 13,2 %, in Tirschenreuth um 12,4 % und in Forchheim um 11,7 %. Wenn wir, Kollege Waschler, zehn Jahre betrachten, dann wird es noch schlimmer. Dann kommt es in drei von vier betrachteten Regionen zu gravierenden Umbrüchen. Beispiel: Rhön-Grabfeld 24,3 %. Beispiel: Tirschenreuth 23,4 %. Beispiel: Coburg. Da müssen Sie gar nicht so entsetzt schauen, Herr Kollege Kreuzer.

(Zuruf des Abgeordneten Thomas Kreuzer (CSU))

Die Statistik hätten Sie schon längst haben können. Ich stelle sie Ihnen gerne zur Verfügung.

Am schlimmsten trifft es Ober- und Unterfranken. Dort werden wir in zehn Jahren dramatische Rückgänge zu verzeichnen haben, Herr Herrmann, die alle in Unterfranken, bis auf die Stadt Aschaffenburg, zu verkraften sind.

Und was tut die CSU? Kollege Nöth, der heute auch nicht da ist, hat im März in diesem Parlament noch behauptet, es gebe überhaupt keinen Grund, etwas zu tun; denn die Schulen seien mit diesen Zahlen überlebensfähig.

Herr Minister, der Bildungsbericht zumindest hat den demografi schen Wandel zur Kenntnis genommen. Ich kann aber nicht fi nden, dass Sie Handlungsoptionen aufzeigen. Sie handeln vielmehr nach dem Motto: Aus Angst vor einer unbekannten Zukunft klammern wir uns an die uns bekannte Vergangenheit. Die Folgen Ihres Verdrängens werden aus der Hüfte geschossene Schulschließungen sein, Herr Staatssekretär, die den Beteiligten jeglichen Gestaltungsspielraum nehmen. Sie lassen, Herr Kollege

Waschler, die Dinge treiben und hoffen, dass es bis zur Landtagswahl für Sie einigermaßen glimpfl ich abgehen wird.

Ich sage Ihnen aber: Nach 2008 werden Sie die Schulen auf dem Lande rasieren, und das wird genauso ungeplant vor sich gehen wie beim G 8.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Allen Betrachtern der vorgenannten Zahlen muss sich doch die Frage aufdrängen: Wie wollen Sie bei diesem Schülerinnen- und Schülerrückgang ein dreigliedriges System aufrechterhalten, ohne die Kinder im ländlichen Raum in große anonyme Zentren zu karren? Wie wollen Sie die Schule auf dem Lande aufrechterhalten, von der der Herr Minister selbst im Februar im „Nordbayerischen Kurier“ gesagt hat, man gehe in den nächsten 20 Jahren von einem Rückgang von 40 % aus?

Zukunft, Herr Minister, so sagt ein Zitat, ist die Zeit, in der du bereust, dass du das, was du heute tun kannst, nicht getan hast.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die GRÜNEN wollen es nicht so weit kommen lassen. Wir wollen den demografi schen Wandel aktiv gestalten. Das ist eine Hausaufgabe, die längst hätte angegangen werden müssen. Der demografi sche Wandel ist keine Naturgewalt, die über uns hereinbricht. Wir können ihn gestalten. Sie, meine Damen und Herren von der CSU, kennen die langfristigen Trends zwar ganz genau, machen aber eine kurzsichtige Politik.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir GRÜNEN wollen die Zukunft gestalten; wir wollen die Schule im Dorf lassen. Wir wollen eine moderne Bildungsinfrastruktur schaffen, und die beste Möglichkeit, den demografi schen Wandel mit einer pädagogischen Reform zu verknüpfen, wäre die Einführung einer neunjährigen gemeinsamen Schulzeit.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Hierbei sind die Kommunen wichtige Akteure. Es ist nämlich so, dass die Verantwortung für Bildung mitnichten nur bei den Bundesländern liegt; denn den Kommunen kann es nicht egal sein, und den Kommunen ist es auch nicht egal, was mit ihren Talenten am Ort passiert. Es geht jetzt darum, gemeinsam mit den Kommunen Kooperationsstrukturen zu etablieren, die sich auf die Anpassung an den demografi schen Wandel konzentrieren. Deshalb wollen wir, dass die Kommunen mit einem gefährdeten Schulstandort durch eine Öffnungsklausel die Möglichkeit erhalten, die Organisation der Bildungseinrichtungen den örtlichen Gegebenheiten anzupassen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Hierbei können wir uns Folgendes vorstellen: eine Schule für alle. Herr Kollege Hünnerkopf, der demografi sche Wandel wäre überhaupt kein Problem; die Schule vor Ort ist da, und da gehen wir dann alle hinein.

(Zurufe von der CSU)

Insofern wäre das Problem dann ganz gut gelöst.

Für eine gewisse Zeit könnten wir auch mit einem schulartübergreifenden Unterricht bis zur sechsten Jahrgangsstufe leben oder, als Minimum, mit der jahrgangsübergreifenden Variante in der Grundschule, aber ordentlich mit Lehrern ausgestattet, so wie in der Hauptschule.

In diesem Zusammenhang beklage ich noch einmal das Streichen von über 1600 Lehrerstellen an Volksschulen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Mittelfristig wollen wir die Verantwortung für die Bildung auf die Kommunen übertragen. Dafür brauchen wir natürlich selbstständige Schulen mit eigenem Budget und eigener Personalhoheit sowie demokratischer Teilhabe durch ein Bildungsforum.

Wie bürokratisch Ihre Organisation ist, sieht man im Moment bei den Arbeitsverträgen für die Leute, die sich bei den Ganztagsschulen engagieren. Was man uns da im Laufe der Haushaltsberatungen vorgetragen hat, ist ein Muster an Bürokratie. Die Leute haben vielfach heute noch kein Geld bekommen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Länder wie Kanada machen uns vor, wie selbstständige Schulen funktionieren. Da müssen wir das Rad nicht neu erfi nden. Langfristig wollen wir selbstverwaltete Bildungszentren nach dem Vorbild der Early Excellent Center in Großbritannien.

Ich fordere Sie auf: Wagen Sie etwas! Zeigen Sie Mut, Herr Kollege Herrmann, Sie und Ihre Fraktion! Wagen Sie endlich Freiheit und wagen Sie Vielfalt; denn davon werden alle profi tieren.

(Beifall bei den GRÜNEN – Joachim Herrmann (CSU): Mehr als Sie!)

Unser Vorschlag bedeutet eine kraftvolle Zukunft für den ländlichen Raum. Damit werden wir gewinnen. Aber die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen ist sie die Unbekannte – Sie merken, ich rede über Sie –, und für die Mutigen ist sie die Chance. Es hat sich herumgesprochen, dass die GRÜNEN in Bayern zu den Mutigen gehören.

(Beifall bei den GRÜNEN – Zurufe von der CSU: Ha, ha, ha!)

Deshalb bitte ich Sie, meine Damen und Herren von der CSU, unserem Vorschlag näher zu treten; denn unser Vorschlag gestaltet die Zukunft des ländlichen Raumes

in aktiver Weise. Mit dem Vorschlag wird die Chance genutzt, eine pädagogische Reform einzuleiten.