Protokoll der Sitzung vom 19.06.2012

den soll. Warum sagen Sie dazu nichts? Mein Eindruck ist: Die Wirtschaftsschule soll am langen Arm verhungern.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie lassen dann doch wieder dem Gymnasium den meisten zeitlichen Raum zukommen. Wenn Sie dann von einer tiefen Verwurzelung in der Bildungstradition unseres Landes sprechen, sollten Sie schon auch dazusagen, dass es in der gymnasialen Tradition nicht vorgesehen war, dass 40 % des Schülerjahrgangs in Bayern auf diese Schule gehen und dass diese quantitative Veränderung des Gymnasiums, die ein Ergebnis der letzten Jahre ist, nicht ohne pädagogische Veränderungen am Gymnasium vor sich gehen kann. Von den Herausforderungen für das Gymnasium sowohl quantitativer als auch qualitativer Art war in Ihrer Rede nichts zu hören.

Es wäre gut gewesen, wenn in dieser Rede ein bisschen Selbstkritik geübt worden wäre.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das wäre beim Thema G 8 sehr gut möglich gewesen, weil das doch Ihre Vorgänger zu verantworten haben und nicht Sie. Beim Umgang mit dem offenkundigen Problem beim G 8 greift Minister Spaenle wieder in seine ganz persönliche Trickkiste. Wenn etwas von der Ära Spaenle übrig bleibt - und davon bin ich überzeugt -, dann ist es die Erinnerung an den Erfindungsreichtum bezüglich neuer Namen im bayerischen Bildungssystem.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das sind Namen, die bald oft wieder vergessen werden. Von der Gelenkklasse redet keiner mehr.

(Renate Will (FDP): Das ist auch nicht seine Erfindung!)

Ist die Arthrose schon so weit fortschritten? Als weitere Beispiele nenne ich die Mittelschule und die Lehrer als Schulwegbegleiter. Ich dachte immer, das sind die Leute, die mit Winkerkelle am Zebrastreifen stehen. Erst vor Kurzem wurde der Begriff - das war sozusagen eine Sturzgeburt - "das Intensivierungsjahr an den Gymnasien" ganz neu geboren. Auch von diesem, Ihrem jüngsten sprachlichen Begriff haben Sie sich, Herr Minister, wohl schon wieder verabschiedet. Jetzt spricht der Minister von der individuellen Lernzeit.

(Zuruf der Abgeordneten Theresa Schopper (GRÜNE))

Das persönliche Lerntempo soll entscheiden. Das ist richtig. Das persönliche Lerntempo der Schülerinnen und Schüler wird in unserem Schulsystem nicht genügend beachtet. Wir müssen darauf mehr achten. Sie machen das Modellprojekt der flexiblen Eingangsstufe. Das ist ein schönes Modell - Kollege Güll hat darauf hingewiesen -, und das verwenden Sie dazu, um die Qualitätsverbesserung im bayerischen Bildungswesen zu verkaufen. Tatsächlich gibt es jetzt an 20 von über 2.200 Grundschulen in Bayern eine flexible Eingangsstufe, also an einem Prozent der Grundschulen. Hiervon hat wiederum ein Prozent der Schüler die Klassen 1 und 2 in einem Jahr durchlaufen, und fünf Prozent haben ein Jahr länger gebraucht. Die Rede ist also einmal von einem und zum anderen von fünf Prozent an 20 Grundschulen. Bei insgesamt 2.200 Grundschulen mit über 200.000 Erst- und Zweitklässlern hat gerade eine Handvoll Kinder das persönliche Lerntempo zugestanden bekommen. Ab Klasse 3 ist es mit dem persönlichen Lerntempo ohnehin vorbei, weil dann wegen des Übertritts nach Klasse 4 Gleichschritt herrscht.

Als zweites Beispiel für die individuelle Lernzeit führen Sie das G 8 und die persönliche Lernzeit in der Mittelstufe an. Mit Verlaub, Herr Minister, auch heute wurde nicht klar, was mit dem, was einmal das Intensivierungsjahr war, tatsächlich gemeint ist, wie das umgesetzt und finanziert werden soll. Sie sagen, Sie sammeln jetzt Vorschläge. Gut. Dann warten Sie doch, bis die Vorschläge auf dem Tisch liegen, bis sie ausgewertet sind, bis es ein Konzept gibt und bis seine Umsetzbarkeit von Praktikern bestätigt wird. Dann suchen Sie einen Namen dafür und gehen an die Öffentlichkeit. Das wäre der Weg, den Sie gehen müssten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ein Wort zur Unterrichtsversorgung, weil Sie jetzt zum ersten Mal deutlich gemacht haben, in welche Bereiche die 1.082 Stellen aus dem Nachtragshaushalt gehen. Ich habe schon im Ausschuss gesagt, das Ganze erinnert mich ein bisschen an den See Genezareth mit der wunderbaren Brotvermehrung, denn diese 1.082 Stellen sollen jetzt alle Probleme im bayerischen Bildungssystem lösen. Es wird immer darauf hingewiesen, dass es 1.082 neue Stellen sind. Wir wissen aber alle, dass 1.082 Stellen gestrichen waren, denn das Geld sollte an die Hochschulen gehen. Wenn die Stellen jetzt wieder kommen, ist das schön, verkaufen Sie sie aber bitte nicht als neue Stellen, sondern sagen Sie, was es mit den Stellen auf sich hat, dass es nämlich Stellen sind, die nicht eingespart wurden.

(Beifall bei den GRÜNEN und der Abgeordneten Karin Pranghofer (SPD))

Wir haben hier schon in der letzten Woche über die Ganztagsschulen geredet. Sie gehen darauf ein und zitieren die Bertelsmann-Studie. Ich frage mich, wie politisch einäugig muss man sein, um aus der Bertelsmann-Studie nur zu zitieren, dass Bayern die größte Dynamik beim Ausbau der Schulen hat, aber nicht das zu zitieren, was bei Bertelsmann auf der gleichen Seite steht, dass nämlich Bayern bei den tatsächlichen Ausbauzahlen mit etwa fünf Prozent der Schülerinnen und Schüler weit abgeschlagen auf dem letzten Platz liegt. Und auf diesem letzten Platz wird Bayern noch viele Jahre sein. Zur Dynamik muss ich sagen: Man kann im Unterholz vielleicht Sprünge machen, es dauert aber Lichtjahre, bis man bei den Kronen der großen Bäume angekommen ist.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es ist zwar schön und wichtig, dass Sie das Thema Inklusion angesprochen haben; in dieser Frage sind wir auch gemeinsam unterwegs. Man muss aber auch sagen, dass die Regierungserklärung hinter dem zurückbleibt, was in der interfraktionellen Arbeitsgruppe erarbeitet worden ist. Der Artikel 30 b, der neu im Gesetz ist, geht weiter als das von Ihnen zitierte und eigentlich nicht mehr stimmige Prinzip der Inklusion durch Kooperation. In Artikel 30 b wird Inklusion eindeutig als Aufgabe aller Schulen, auch aller Regelschulen, benannt, auch im Sinne der Inklusion eines einzelnen Kindes. Diese Inklusion muss zum Regelfall werden, doch dafür fehlt noch die Ausstattung. Dafür müssen wir etwas tun.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Schulen mit dem Profil Inklusion sind Wegbereiter und Beispiele für den Weg zur Inklusion mit Sonderpädagogen als Teil des Kollegiums. Das gilt übrigens auch für die Tandemklassen, die auch zu diesem Modell gehören. Ihre heutigen Ausführungen machen deutlich, dass die interfraktionelle Arbeitsgruppe wieder Fahrt aufnehmen muss, um tatsächlich wieder zum Tempomacher und zum Beweger in Sachen Inklusion in Bayern zu werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Interessant ist es immer, wenn Bildungspolitiker einen Ausflug in die Bundespolitik machen. Ihre Äußerungen hinsichtlich des Föderalismus zeugen dann von Abgrenzung gegen bundespolitische Vorstellungen. Vielleicht hätten Sie sagen sollen, dass es in Ihrer Koalition hierzu auch einen Konflikt gibt. Ich bin gespannt, was Frau Kollegin Will nachher dazu sagt. Wir sollten uns als Bildungspolitiker aller Landesparla

mente eingestehen, dass der Bildungsföderalismus insgesamt vor einer großen Herausforderung steht. Er hat ein großes Legitimitätsproblem, seine Anerkennung bei der Bevölkerung ist fast bei Null. Wir müssen sehen, dass Bildungsföderalismus faktisch oft in Provinzialismus endet.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wenn wir Sozialpolitik, wofür hauptsächlich der Bund zuständig ist, auch als Bildungspolitik verstehen wollen, dann müssen wir überlegen, wie wir zu einem neuen Verhältnis der Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen kommen. Wir haben das jetzt beim Bildungs- und Teilhabepaket erlebt: Wenn der Bund über das Bildungs- und Teilhabepaket vermeintlich in Bildung investiert, dann kommt nichts sehr Sinnvolles, sondern viel Murks heraus.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir brauchen deshalb eine ehrliche Debatte über das Verhältnis zwischen Bund und Ländern jenseits des bisherigen Kooperationsverbotes. Ich sage das ganz bewusst als jemand, der vom Bildungsföderalismus überzeugt ist. Ich glaube aber, wir müssten ihm wieder zu einer Zukunft verhelfen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Minister Spaenle, besonders aufmerksam werden wir in der Landtagsfraktion der GRÜNEN dann, wenn Sie von Dialog, Bildungsregion und eigenverantwortlicher Schule reden. Das sind nämlich Kernthemen unserer Bildungspolitik, die eine Politik der Teilhabe ist. Man muss Ihnen das Kompliment machen, und das mache ich auch gern, dass Sie als ein Minister gelten, der draußen gerne zuhört. Das unterscheidet Sie positiv von Ihren Vorgängern und Ihrer einen Vorgängerin. Wenn man sich das im Laufe der Zeit aber genauer ansieht, dann stellt man fest, dass aus dem Zuhören keine Beteiligung der Betroffenen erwächst. Beispiele sind die Dialogforen, die letzten Endes einen tollen Namen hatten, die aber tatsächlich Frontalunterrichtsveranstaltungen waren. Es war schon im Voraus klar, was am Ende herauskommt. Mein Eindruck ist, bei den Bildungsregionen ist es das Gleiche. Es ist gut, wenn man sich in der Region zusammensetzt. Runde Tische sind nie schlecht, die Frage ist jedoch, was kann man in der Region entscheiden, was kann man gemeinsam auf den Weg bringen, was kann man umsetzen? - Dazu gibt es aber keine Antworten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ein paar Mal miteinander geredet zu haben und dann das Siegel "Bildungsregion" vom Kultusministerium zu

bekommen, kann es nicht sein. Das ist Alibipolitik anstelle einer tatsächlichen Teilhabe der Akteure in der Region.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir GRÜNEN wollen mit unserer Bildungspolitik tatsächlich mit den Betroffenen in Dialog treten. Wir wollen mit den Lehrkräften, den Eltern, den Schülerinnen und Schülern und der kommunalen Ebene in Dialog treten. Wir wollen Dialogforen, die ihren Namen verdienen, bei denen am Ende vielleicht etwas anderes herauskommt als es im Kultusministerium vorher ausgedacht wurde. Wir wollen, dass tatsächlich maßgeschneiderte Ideen für die Regionen entstehen.

(Zuruf einer Abgeordneten der GRÜNEN: Genau!)

Wir brauchen Bildungsregionen, in denen schulartübergreifende Vernetzung und Zusammenarbeit möglich ist, wo Kompetenzen gebündelt werden. Darauf hat auch schon Herr Kollege Güll hingewiesen: Bei der Inklusion brauchen wir sehr schnell einen Ort, wo die Kompetenz in der Region zusammenkommt, wo einerseits unabhängige Beratung für die Eltern, und zwar schulartunabhängige Beratung, gegeben und andererseits Verantwortung für die Inklusion an den verschiedenen Schularten, an den Förderschulen und an den Regelschulen möglich ist. Dafür müssen strukturelle Grenzen der Schulverwaltung und der Hierarchien überwunden werden. Ich appelliere deshalb an Sie, solche Knotenpunkte, solche Kommunikationspunkte für Inklusion in den Regionen zu schaffen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir GRÜNEN werden hier im Haus einen Gesetzentwurf zur Öffnungsklausel vorlegen, weil es notwendig ist, dass unser Schulsystem gerade im ländlichen Raum neue Modelle zulässt, jenseits der bisherigen Schranken des gegliederten Systems. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler in Bayern wird bis zum Jahr 2025 zurückgehen: An den Grundschulen wird es 17 % weniger Schülerinnen und Schüler geben, an den Hauptschulen mindestens 29 %, an den Realschulen 15 % und an den Gymnasien 21 %. Viele kleine Schulen auf dem Land bangen bereits heute um ihren Bestand. Wie gesagt, die Mittelschulverbünde werden diesen Prozess nicht aufhalten. Wenn wir, und das wollen wir GRÜNE, Bildungsgerechtigkeit und Qualität der schulischen Bildung gerade auch im ländlichen Raum erhalten wollen, dann brauchen wir neue Modelle jenseits der Vorgaben des dreigliedrigen Systems. Wir brauchen eine Schule, in die der Großteil der Kinder aus dem Dorf, aus der Gemeinde, geht. Wir brauchen kein Schulsystem, bei dem die meisten Kinder an der Hauptschule vorbeifahren, bei

steigenden Buskosten, bis die Schule geschlossen wird. Das kann nicht der zukunftsweisende Weg sein. Wir brauchen die Schule für möglichst viele Kinder vor Ort. Deshalb brauchen wir neue Modelle.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Weil wir glauben, dass eine bessere Schule und bessere Schulmodelle nicht von oben nach unten delegiert werden können, wollen wir Schulen von unten entstehen lassen. Wir brauchen den Konsens vor Ort. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand diesem Angebot an die Kommunen verschließen wird, wenn er nicht ideologisch blind ist.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir wollen solche Schulen sichern, die ein weiterführendes Angebot möglich machen, Schulen, die auch den steigenden pädagogischen Anforderungen Rechnung tragen.

Wir haben ein Gesetz zur Neuregelung des Übertritts von der vierten Klasse an die weiterführenden Schulen vorgelegt, das derzeit im Haus beraten wird. Wir wissen sehr wohl, dass es ein ideales Übertrittsverfahren nicht gibt, weil die Trennung der Schülerinnen und Schüler nach Klasse vier der falsche Zeitpunkt und zu früh ist.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Aber wir müssen feststellen, dass das gegenwärtige Übertrittsverfahren in Bayern ungeheuren Druck erzeugt - auf Eltern, auf Schülerinnen und Schüler, auf Lehrerinnen und Lehrer in der Grundschule. Herr Minister Spaenle, es ist schon arg gewagt, muss man sagen, wenn Sie jetzt aus der Zustimmung der Eltern zu der Frage, ob sie damit einverstanden sind, dass nun seit Neuestem - alle Kinder ein Übertrittszeugnis bekommen und nicht nur diejenigen, bei denen es die Eltern beantragen, wenn Sie also aus der Zustimmung der Eltern zu dieser Frage eine allgemeine Zustimmung zum bayerischen Übertrittsverfahren herleiten. Das halte ich für reichlich verwegen, um nicht zu sagen: höchst problematisch.

(Beifall und Zurufe von den GRÜNEN)

Wir wollen mit einem Übertrittsverfahren, das den Eltern die Letztentscheidung zumisst, Druck aus diesem System herausnehmen, und wir wollen vor allem das Verhältnis der Lehrkräfte zu den Eltern wieder auf eine vernünftige Basis stellen, sodass Lehrerinnen und Lehrer die Eltern beraten und es das Gespräch gibt zwischen Eltern und Lehrerinnen und Lehrern über ihr Kind. Momentan geht es nur um die Frage: Gibt der Lehrer meinem Kind die 2,33, die 2,66? Und

wenn nicht, dann drohe ich ihm möglicherweise mit dem Rechtsanwalt. Das ist bayerische Realität, das ist bayerische Schulpolitik.

(Beifall bei den GRÜNEN)