Ich komme noch einmal zurück zum Verfassungs schutz. Nach der Durchsicht einer Vielzahl von Akten und der Befragung vieler Zeugen aus dem Landesamt kann man nicht behaupten, dass der Verfassungs schutz in dem Untersuchungszeitraum grundsätzlich auf dem rechten Auge blind war. So einfach waren und sind die Verhältnisse nicht. Vielmehr verhielt es sich so, dass zwar vieles, ich meine sogar viel zu vie les, beobachtet und registriert worden ist, aber hie raus sind nicht die richtigen Schlüsse gezogen wor den, und insbesondere ist die Gefährlichkeit der rechtsextremistischen Szene grob fahrlässig unter
schätzt worden. Über die Gründe hierfür kann man philosophieren. Den Aussagen, insbesondere denjeni gen der damaligen Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz, kann aber entnommen werden, dass Rechtsextremismus eben als ein Beobachtungs objekt neben anderen gesehen worden ist, dass man immer darauf bedacht war, Links- und Rechtsextre mismus möglichst gleichzubehandeln, weil ja beides angeblich gleich schlimm sei, die gleichen Ursachen habe und sich nicht in der Mitte der demokratischen Gesellschaft wiederfinde, und dass sie der Meinung waren, ihre bayerischen Rechtsextremisten schon zu kennen und im Griff zu haben. Welch ein Irrtum, meine Damen und Herren!
Insbesondere waren die Kenntnisse über die Zusam menarbeit zwischen Rechtsextremisten in Nordbayern und Thüringen äußerst lückenhaft. Man hat nicht er kannt, was unter der Oberfläche geschehen ist, ob wohl der Verfassungsschutz auch über Informations quellen verfügt hat, die den politisch normal Interessierten und der Presse nicht zugänglich waren, nämlich über Informanten und V-Leute aus der Szene.
Im Untersuchungszeitraum waren in Nordbayern immer etwa 20 V-Leute des Bayerischen Landesam tes für Verfassungsschutz als sogenannte Quellen im Einsatz. Dazu kamen noch weitere V-Leute anderer Inlandsgeheimdienste. Sie sind von Beamten des Landesamtes für Verfassungsschutz zunächst ausge wählt, belehrt, überprüft und dann geführt worden. So geschah dies jedenfalls laut den Vorschriften. Wer aber wen geführt hat, ist nicht immer eindeutig klar geworden. Im Gegenteil hat sich häufig der Eindruck ergeben, dass die V-Leute ihre V-Mann-Führer durch aus im Ungewissen gelassen haben darüber, was sie an Erkenntnissen gewonnen haben.
Nach Angaben von Zeugen aus dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz hat keiner der VLeute von der Existenz des NSU und der Mordan schläge gewusst, diese unterstützt oder das Landes amt darüber informiert. Tatsache ist aber, dass mindestens eine Quelle des Landesamtes vor dem Untertauchen des NSU-Trios im Jahr 1998 dieses zu mindest aus der Szene gekannt hat und dass bei einer weiteren Quelle Indizien dafür vorliegen, die auf eine Bekanntschaft hinweisen. Tatsache ist auch, dass es, jedenfalls zwischen einem V-Mann des Bay erischen Landesamtes und einem V-Mann des thürin gischen Verfassungsschutzes, der Verbindungen zum Umfeld des NSU bis hin zu einigen der jetzt vor dem Oberlandesgericht München Angeklagten hatte, beste Beziehungen gegeben hat. Der thüringische V-Mann behauptet sogar, der bayerische V-Mann habe in Oberfranken die gleiche Rolle eingenommen wie er
selbst in Thüringen und dass der bayerische V-Mann für ihn sogar so etwas wie ein Vorgesetzter in der rechten Szene war. Tatsache ist weiter, dass dieser V-Mann zunächst kein Angehöriger der rechtsextre mistischen Szene in Bayern war, sondern vom Bayeri schen Landesamt für Verfassungsschutz zielgerichtet dort erst implantiert worden ist und den speziellen Auftrag erhalten hat, einen Einwählknoten zu dem so genannten Thule-Netzwerk zu installieren. Im Übrigen ist ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung später nach Rücksprache mit dem Bayerischen Lan desamt für Verfassungsschutz mit dem Hinweis auf seine V-Mann-Eigenschaft eingestellt worden. Tatsa che ist außerdem, dass dieser V-Mann die rechtsext remistische Szene in Oberfranken nicht nur beobach tet und bei den Aktionen anderer mitgemacht hat, sondern entgegen den Vorschriften selbst eine maß gebliche, ja sehr wahrscheinlich sogar eine bestim mende Rolle eingenommen und Aktionen organisiert hat, die es ohne ihn nicht gegeben hätte. Er ist also dafür bezahlt worden, über Vorgänge zu berichten, die es nicht gegeben hätte, wenn er nicht als V-Mann vom Landesamt eingesetzt worden wäre.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei diesem Befund, der keineswegs einmalig sein dürfte, sondern eine im Umgang mit V-Leuten offensichtlich jahrelang gängige Praxis widerspiegelt, die im Übrigen auch dazu beigetragen hat, dass das erste NPD-Verbots verfahren gescheitert ist, drängt sich die Frage auf, ob weiterhin V-Leute eingesetzt werden dürfen sollen oder nicht.
Ich meine, dass erschreckend deutlich geworden ist, dass V-Leute mehr schaden als nützen, weswegen künftig auf sie verzichtet werden sollte.
Ebenso verstörend sind die Erkenntnisse, die über die Rolle des Verfassungsschutzes bei der Zusammenar beit mit der BAO Bosporus gewonnen werden konn ten. Das Verhalten des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz, trotz Kenntnis der konkreten Um stände, trotz Kenntnis der Tatsache, dass die BAO Bosporus dabei war, zu fünf Mordanschlägen in Bay ern zu ermitteln und sie aufzuklären, und trotz Kennt nis des Inhalts der sogenannten zweiten operativen Fallanalyse monatelang keinerlei Daten und Informa tionen an die BAO Bosporus zu liefern, kann, mit Ver laub, nur als Arbeitsverweigerung bezeichnet werden. Die Erklärungsversuche hierfür konnten nicht über zeugen. Insbesondere standen weder das Trennungs gebot noch Datenschutzvorschriften der Übermittlung
der angeforderten Informationen und personenbezo gener Daten an die BAO Bosporus entgegen. Dass schließlich ein Kompromiss des Inhalts gefunden wurde, lediglich aktenkundige Rechtsextremisten aus eng eingegrenzten Postleitzahlenbereichen in Nürn berg zu übermitteln, stellte sich im Nachhinein als einer der größeren Fehler bei der Ermittlungsarbeit dar.
Wenn es aufseiten des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz aber keine Arbeitsverweigerung gab, sondern den Versuch, eigene Informationen für sich zu behalten und nicht an die Ermittlungsbehör den weiterzugeben, wäre es noch viel schlimmer. In der Tat noch schlimmer und offensichtlich Teil der Ideologie im Landesamt und im Innenministerium ist die Aussage des langjährigen Abteilungsleiters, dass sich der Anstieg rechtsextremistischer Gewalttaten immer synchron zu dem Anstieg der Asylbewerber zahlen entwickelt habe und dass politische Entschei dungen wie zum Beispiel der sogenannte Asylkom promiss extremistische Tendenzen im Lande entweder fördern oder konterkarieren können - eine interessante Aussage, die tief blicken lässt. Schuld an der Zunahme des Rechtsextremismus’ soll also die Politik sein, die jahrelang nichts gegen die Zunahme der Asylbewerberzahlen unternommen hat. Meine Damen und Herren, warum nur dort, wo es fast keine Asylbewerber gegeben hat? Warum ausgerechnet zu einer Zeit, als die Zahl der Asylbewerber längst wie der zurückgegangen ist? Gerade dort und zu der Zeit hat es Anschläge auf Menschen mit Migrationshinter grund gegeben.
Selbstverständlich kann niemand behaupten, dass die Täter früher entdeckt worden wären, wenn das Lan desamt früher mehr Daten zur Verfügung gestellt hätte. Die Wahrscheinlichkeit dafür wäre aber gestie gen.
Am Rande möchte ich noch erwähnen, dass Anfragen der BAO Bosporus beim Landesamt für Verfassungs schutz über eventuelle Kenntnisse des Verfassungs schutzes über Beziehungen der Opfer zur organisier ten Kriminalität immer schnell, prompt und ohne irgendwelche Bedenken beantwortet worden sind. Ganz anders war es bei Fragen nach Rechtsextremis ten, die ein mögliches Motiv gehabt haben können, Ausländer umzubringen. Meine Damen und Herren, das ist uns schon aufgefallen. Dass sich die BAO Bosporus mit keinem Wort bei vorgesetzten Dienst stellen über die zögerliche Bearbeitung der Anfrage durch das Landesamt beschwert hat, ist zumindest ein Indiz dafür, dass die Leitung der BAO Bosporus offensichtlich selbst keinen gesteigerten Wert auf die Überprüfung der Hypothese der zweiten operativen Fallanalyse, gelegt hat.
Einige Anmerkungen zur Ermittlungsarbeit der Polizei: Es war richtig und es ist nicht zu kritisieren, dass nach den ersten Mordanschlägen in Ermangelung objekti ver Spuren von dem Täter oder den Tätern allen denkbaren Hinweisen nachgegangen wurde und auch das familiäre Umfeld der Opfer ausgeleuchtet worden ist. Dass auch noch nach dem fünften Mordanschlag in Bayern, wiederum begangen an einem Ausländer, wiederum begangen im gleichen Modus Operandi, wiederum begangen mit der gleichen Tatwaffe, immer noch krampfhaft nach Verbindungen der Opfer unter einander und zur organisierten Kriminalität gesucht und das familiäre Umfeld in einer Art und Weise aus geleuchtet worden ist, dass es von den Angehörigen schon als Belästigung empfunden werden musste, wie es einige Zeugen ausgeführt haben, ist schon er staunlich gerade zu einer Zeit, wo man eins und eins nur noch hätte zusammenzählen müssen, wie es eini ge Zeugen aus der BAO Bosporus selbst ausgeführt haben.
Die Tatsache, dass zwar allen noch so vagen und zum Teil abstrusen Hinweisen auf Verbindungen der Opfer zur organisierten Kriminalität mit einem seit den Zeiten der RAF-Morde nicht mehr gekannten Perso nal- und Sachaufwand nachgegangen worden ist und dass die Hinweise und Vermutungen über politische ausländerfeindliche Motive des Täters oder der Täter aber jahrelang mit dem Argument abgetan worden sind, es gebe dafür keine Beweise – die gab es für die andere These auch nicht –, hat Anlass zu vielen Nachfragen gegeben. Die Antworten waren erschre ckend. Man wollte es schlicht nicht wissen und wahr haben. Tatsache ist, dass es für beide als denkbar erachtete Motive – Rachemorde im Bereich der orga nisierten Kriminalität beziehungsweise Ausländer feindlichkeit – jeweils nur vage Hinweise, aber keine Spuren gegeben hat.
Eine der wichtigsten Fragen war deshalb, weshalb in Richtung organisierter Kriminalität ein immenser Auf wand und in Richtung ausländerfeindliches Motiv ein viel geringerer Aufwand betrieben worden ist. Das galt sogar dann noch, als nach jahrelangen ergebnislosen Ermittlungen, der sogenannten zweiten operativen Fallanalyse erstmals sogenannte missionsgeleitete ausländerfeindliche Täter ins Spiel gebracht worden sind. Das wollten viele nicht wahrhaben, weder bei der BAO Bosporus noch beim Bundeskriminalamt. Das Bundeskriminalamt hat sich sogar die Mühe ge macht, die Hypothesen der zweiten Fallanalyse im Einzelnen zu zerpflücken, anstatt nach dieser zweiten Fallanalyse das Schwergewicht der Ermittlungen end lich auf Personen mit einem möglichen ausländer feindlichen Motiv, auf Personen mit hoher Schießfer tigkeit und auf Personen zu legen, die schon einmal als Radfahrer in der Nähe vom Tatort beobachtet wor
den sind. Das hat man nicht gemacht. Stattdessen ist eine weitere Fallanalyse in Auftrag gegeben worden, die alles infrage gestellt und relativiert hat, und zwar mit durchaus eigenartigen Argumenten.
In der nunmehr schon dritten operativen Fallanalyse mit einer, wie sie es bezeichnet haben, Gesamtanaly se der bundesweiten Serie von Tötungsdelikten an Kleingewerbetreibenden mit Migrationshintergrund vom Januar 2007, nachdem bereits neun Morde ver übt worden sind und mehrfach zwei männliche Perso nen auf Fahrrädern in der Nähe von Tatorten beo bachtet worden sind, heißt es wörtlich:
Somit ist davon auszugehen, dass den Täter die Fähigkeit und die Bereitschaft charakterisiert, die Tötung einer Reihe von menschlichen Individuen im Rahmen eines kühlen Abwägungsprozesses in seinen Gedanken vorwegzunehmen. Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu be legt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems außerhalb des hiesi gen Normen- und Wertesystems verortet ist.
Was heißt denn das? Meine Damen und Herren, die Antwort kennen Sie selbst. In der dritten operativen Fallanalyse heißt es weiter, "dass ein Einzeltäter oder Täter-Duo auszuschließen ist, die ohne konkreten Bezug zu den Opfern diese erschießen, bloß weil diese einem bestimmten zum Beispiel ethnischen Kol lektiv zugeordnet werden, weil alle Opfer weitere Ge meinsamkeiten aufweisen, nämlich eine undurchsich tige Lebensführung". Das war nicht nur objektiv falsch und eine Beleidigung der Opfer sowie ihrer Angehöri gen, sondern zeigt auch, wes Geistes Kind die Ver fasser dieser sogenannten Fallanalyse waren.
Mehr als Unverständnis musste auch hervorrufen, dass vielfachen Hinweisen, ja sogar Zeugenaussagen darüber, dass an Tatorten, wie bereits gesagt, Män ner mit Fahrrädern beobachtet worden sind, auch dann noch keine Bedeutung beigemessen worden ist, als im Jahre 2004 bei einem Anschlag in Köln zwei Männer mit Fahrrädern gefilmt worden sind und eine Zeugin aus Nürnberg, nachdem ihr dieser Film vorge führt worden ist, angegeben hat, dass einer von den beiden Radfahrern mit einem der beiden Radfahrer identisch ist, die sie selbst in Nürnberg bei dem Mord anschlag auf den Herrn Yasar gesehen hat. Dass sich ihre Aussage nicht wortgetreu im polizeilichen Ver nehmungsprotokoll wiederfindet und es trotz dieser und weiterer Zeugenaussagen über Radfahrer und trotz des Umstands, dass auch in Köln die Opfer Aus länder waren, es nicht für nötig erachtet wurde, eine
vergleichende Fallanalyse vorzunehmen, muss im Nachhinein als weiterer entscheidender Fehler der Er mittlungsarbeit bezeichnet werden.
Ein weiterer entscheidender Fehler der Ermittlungsar beit war, dass der zuständige Staatsanwalt keinen Kontakt zur Staatsanwaltschaft in Köln aufgenommen hat, weil man wegen der verschiedenen Modi Operan di – einerseits Hinrichtungen, andererseits Bomben anschlag – nicht Äpfel mit Birnen vergleichen wollte. Dass die Polizei in ihrer Not mit Billigung der Staats anwaltschaft und mit richterlichen Beschlüssen zur Er hebung und Auswertung von Millionen von Daten und zu sonstigen fragwürdigen Ermittlungsmethoden ge griffen hat, nämlich dem Einsatz von verdeckten Er mittlern unter der Legende von Journalisten und Pri vatdetektiven, um eine ohnehin nicht vorhandene behauptete Mauer des Schweigens bei den Angehöri gen aufzubrechen, und auch noch Dönerbuden betrie ben hat, kann nur am Rande erwähnt werden, zumal all diese Maßnahmen keinerlei verwertbare Erkennt nisse gebracht haben.
Einige Sätze müssen aber auch noch zu dem lang wierigen Zuständigkeitsstreit innerhalb der Polizei ge sagt werden. Nachdem schon neun Mordanschläge verübt worden waren, waren neben der BAO Bospo rus in Bayern und dem Bundeskriminalamt – dort al lerdings nur in Sachen Ceska-Spur – weitere Sonder kommissionen in Hamburg, Rostock, Dortmund, Kassel und Köln mit den Ermittlungen befasst. Das war also zu einem Zeitpunkt, als jederzeit wieder ein Mordanschlag hätte verübt werden können. Zur glei chen Zeit waren sechs verschiedene Staatsanwalt schaften mit der Sachleitung der Ermittlungen befasst, nicht aber der Generalbundesanwalt. Bei aller Liebe zum föderalen Staatsaufbau und allem Verständnis für die Bewahrung aller Kompetenzen der Länder und bei aller Wertschätzung für die Arbeit der bayerischen Polizei muss es doch als gravierender Fehler gewer tet werden, dass es keine zentralen Ermittlungsbehör den gegeben hat, dass auf der Ebene der Staatsan waltschaft kein Sammelverfahren eingeleitet und die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts zu schnell verneint worden ist. Ich müsste noch Ausführungen zur sogenannten Medienstrategie machen, die darauf abgezielt hat, das mögliche ausländerfeindliche Motiv der Täter möglichst im Unklaren zu lassen und die Öf fentlichkeit nicht damit zu behelligen. Aus zeitlichen Gründen kann ich das nicht tun.
Anführen möchte ich jedoch: Uns ist aufgefallen, dass sich die Staatsanwaltschaft mit der Rolle begnügt hat, polizeiliche Entscheidungen abzusegnen und nachzu vollziehen, dass nicht nur die taktischen, sondern auch die strategischen Entscheidungen der Ermitt lungsarbeit von der Polizei getroffen worden sind und
nicht von der Staatsanwaltschaft und dass die Staats anwaltschaften – aus welchen Gründen auch immer – keine Sachleitungsbefugnis für sich in Anspruch ge nommen haben; vielleicht wollten sie sie auch nicht.
Nach einem Jahr müssen wir feststellen, dass es bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft auch – neben dem Landesamt für Verfassungsschutz – Fehlein schätzungen und Fehlentscheidungen gegeben hat. Es kommt dann gelegentlich der Hinweis darauf, dass auch die gesamte Öffentlichkeit und die neunmalkluge Presse bis zum November 2011 keine Ahnung von der Existenz des NSU hatten und von Döner-Morden gesprochen worden ist. Das ist wohl richtig, kann aber keine Rechtfertigung dafür sein, dass Hundertschaf ten von professionellen Ermittlern – nicht nur interes sierten Beobachtern – zu keinem Ergebnis gelangt sind.
Natürlich ist einzuräumen, dass überall Fehler passie ren können. Die Häufung von Fehlern ist aber augen scheinlich und spricht dafür, dass nicht nur einzelne Beamte irgendetwas falsch gemacht haben, sondern dass die Strukturen nicht stimmen. Die Verantwortung hierfür trägt natürlich die politische Spitze der Sicher heitsbehörden. Wer denn sonst? Die politische Spitze ist der Innenminister. Wer denn sonst? Es reicht auch nicht, Bedauern zum Ausdruck zu bringen, und es hilft überhaupt nichts, dass er als einer der wenigen von Anfang an ein ausländerfeindliches Motiv in Betracht gezogen hat, sich aber mit dürren Antworten seines Hauses hat abspeisen lassen.
Noch einige Sätze zu den aus meiner Sicht erforderli chen Konsequenzen: Eigentlich müssten als Konse quenz der vielen Fehler, die zusammengefasst zum Versagen auch bayerischer Sicherheitsbehörden ge führt haben, Rücktritte der politisch Verantwortlichen gefordert werden. Der damals verantwortliche Innen minister kann aber nicht mehr zum Rücktritt aufgefor dert werden, weil er nicht mehr im Amt ist. Sein Nach folger war noch nicht im Amt, als die Weichen falsch gestellt worden sind. Ebenso verhält es sich bei den Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz. Der Einzige, dessen Rücktritt noch hätte gefordert werden können, ist der Landespolizeipräsident, der al lerdings vor vier Wochen in Pension gegangen ist.
Ich sage das nicht, um die Forderung nach Rücktritten als lächerlich abzutun. Im Gegenteil: Andere haben schon wegen viel geringerer Vorwürfe Verantwortung übernommen und die Konsequenzen gezogen.
In Bayern meint man, das damit abtun zu können, dass man auf Fehler irgendwelcher nachgeordneter Mitarbeiter verweist.
Neben all den vielen Einzelvorschlägen im Schlussbe richt ist es aus meiner Sicht wichtig, die strukturellen Ursachen des Versagens zu erkennen und zu behe ben. Es wird anerkannt, dass bereits einzelne Konse quenzen gezogen worden sind und zum Beispiel wie der eine eigene Abteilung für Verfassungsschutz im Staatsministerium des Innern eingerichtet worden ist – auch wenn der Abteilungsleiter mittlerweile nicht mehr im Amt ist.
Auch die vielen Empfehlungen der Bund-Länder-Kom mission Rechtsextremismus zur Präzisierung einzel ner Vorschriften über die Zusammenarbeit der Sicher heitsbehörden untereinander und zur Auswahl und Führung von V-Leuten sind überwiegend vernünftig und sollten, soweit es in der Landeskompetenz steht, auch umgesetzt werden.
Diese Vorschläge gehen aber nicht weit genug, und einige Vorschläge gehen sogar in die falsche Rich tung. Das gilt insbesondere für die Vorschläge des Bundesinnenministers und des Bundesamtes für Ver fassungsschutz. Es geht nicht darum, die Deiche höher zu bauen – wie es einmal bezeichnet worden ist – und den Inlandsgeheimdienst zur Belohnung für sein Versagen zu stärken. Darum geht es nicht. Im Gegenteil: Es geht darum, die Kontrolle über den In landsgeheimdienst effektiv zu verstärken.
Unseres Erachtens muss der Verfassungsschutz neu aufgestellt, und seine Aufgaben als Inlandsgeheim dienst – man sollte ihn auch als solchen bezeichnen; die Bezeichnung "Verfassungsschutz" ist historisch bedingt und falsch – sollten auf die Beobachtung des gewaltbereiten und rassistisch motivierten Extremis mus konzentriert und beschränkt werden. Er muss so umgebaut werden, dass er unsere freiheitlich demo kratische Verfassung und von rassistischer Gefahr bedrohte Menschen in unserem Lande tatsächlich und besser schützen kann. Die Beobachtung der or ganisierten Kriminalität ist ebenso wenig eine Kern kompetenz des Landesamtes wie die Beobachtung der Cyber-Kriminalität und hat dort nichts verloren. Zur Erfüllung der verbleibenden Aufgaben muss sich das Landesamt künftig sowohl in der Zivilgesellschaft als auch in der Wissenschaft durchaus vorhandenen Sachverstandes bedienen, anstatt diesen – wie in der Vergangenheit – zu beobachten und zu stigmatisie ren.
Auf den Einsatz von V-Leuten sollte aus den genann ten Gründen grundsätzlich verzichtet werden. Die Al ternative ist nicht, wegzuschauen, nicht mehr hinzu schauen – wie gelegentlich unterstellt wird – und in
Kauf zu nehmen, dass bestimmte Dinge passieren, die wir alle miteinander nicht wollen. Die Alternative ist vielmehr, Beamte als verdeckte Ermittler in dem beschränkten Beobachtungsfeld einzusetzen. Diese Vorschläge werden gelegentlich als oppositioneller Reflex abgetan, sind aber schon aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit staatlichen Handelns geboten und richtig. Der Polizei geht es in erster Linie darum, die Sensibilität bei Ermittlungen zu Straftaten gegen Men schen mit Migrationshintergrund zu erhöhen und die Kenntnisse über den Rechtsextremismus und seine Erscheinungsformen deutlich zu erhöhen. Wenn es nicht anders geht, müssen entsprechende Vorschrif ten geschaffen werden.
Wir erwarten auch, dass die Staatsregierung den An gehörigen der Opfer alle Hilfestellungen zuteil werden lässt, derer sie bedürfen, weil sie Angehörige verloren haben und in dem Prozess als Nebenkläger auftreten.
Der Kampf gegen Rechtsextremismus wird nur erfolg reich sein können, wenn er auch in der Zivilgesell schaft geführt wird. Es geht also um die Stärkung des Engagements in den Schulen, den Vereinen und den vielen Initiativen, die oft noch argwöhnisch von der Polizei und vom Verfassungsschutz beobachtet wer den.
Historisch bedingt haben wir in Deutschland – gerade auch in Bayern – eine besondere Verantwortung dafür, gegen Rechtsextremismus in allen seinen Er scheinungsformen vorzugehen. Es darf auch keine Option sein, die rechtsextremistischen Aktivitäten und Forderungen dadurch leerlaufen lassen zu wollen, dass sie vom demokratischen Spektrum selbst über nommen und salonfähig gemacht werden.
Schließlich hoffe ich, dass als eine der Lehren aus den NSU-Morden alles getan wird – an unterschiedli chen Stellen, vom Verfassungsschutz, besser gesagt Inlandsgeheimdienst, über die Polizei bis zur Staats anwaltschaft und der Justiz –, damit es nie wieder An lass gibt, daran zu zweifeln, dass bei Ermittlungen wegen Morden an Menschen mit Migrationshinter grund oder bei Ermittlungen wegen sonstiger Gewalt taten an Menschen mit Migrationshintergrund andere Maßstäbe angelegt werden als bei Ermittlungen bei Straftaten, bei denen die Opfer Deutsche sind. Ich hoffe, dass unser Untersuchungsausschuss dazu einen kleinen Beitrag leisten konnte.