Protokoll der Sitzung vom 11.11.2009

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen, damit wir die Sitzung aufnehmen können.

Ich eröffne die 33. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde wie immer vorweg erteilt. Hörfunk und Fernsehen des Bayerischen Rundfunks übertragen die anschließende Feierstunde sowie die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Horst Seehofer live. Dafür danken wir auch. In Bezug auf Übertragungen geht es uns in Bayern gut. An dieser Stelle möchte ich mich deshalb dafür bedanken.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor zwei Tagen jährte sich zum 20. Mal die Öffnung und dann der Fall der Mauer. Wir wollen heute am Beginn der Vollsitzung im Rahmen einer Feierstunde an dieses historische Ereignis im November 1989 erinnern. Dazu darf ich zunächst eine Reihe von Ehrengästen sehr herzlich willkommen heißen, die auf der Besuchertribüne Platz genommen haben. Ich begrüße den Präsidenten des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes, Herrn Dr. Karl Huber.

(Allgemeiner Beifall)

Ich begrüße Herrn Bundesminister a. D. Dr. Theo Waigel und seine Frau Dr. Irene Epple-Waigel.

(Allgemeiner Beifall)

Ich begrüße ganz herzlich den Generalkonsul der Republik Ungarn, Herrn Jozsef Kovács.

(Allgemeiner Beifall)

Herzlich willkommen, Herr Generalkonsul. Ebenso herzlich begrüße ich den Generalkonsul der Tschechischen Republik, Herrn Josef Hlobil.

(Allgemeiner Beifall)

Herzlich willkommen, Herr Generalkonsul. Ein ebenso herzliches Grüß Gott richte ich an den Beauftragten der evangelisch-lutherischen Kirchen Bayerns, Herrn Kirchenrat Dieter Breit.

(Allgemeiner Beifall)

Ein besonderes Anliegen ist es mir, dass heute auch Gäste dieser Feierstunde beiwohnen, die Zeitzeugen des Mauerfalls waren, oder auch junge Menschen, die damals noch gar nicht geboren waren. Ich freue mich sehr, dass Sie anschließend bei einem kleinen Empfang miteinander ins Gespräch kommen können. Ich

begrüße stellvertretend für Sie alle, verehrte Gäste, das Ehepaar Günter und Petra Wetzel, denen 1979 - also vor 30 Jahren - mit einem selbst genähten Heißluftballon eine abenteuerliche Flucht aus der DDR gelang. Herzlich willkommen.

(Allgemeiner Beifall)

Ich begrüße sehr gerne Helferinnen und Helfer, Betreuerinnen und Betreuer und Flüchtlinge aus dem Auffanglager in Vilshofen an der Donau und der Aufnahmestelle in Nürnberg. Einen ganz herzlichen Gruß richte ich ebenso an die früheren Bürgermeister des lange Zeit geteilten Dorfes Mödlareuth. Für die junge Generation begrüße ich eine 12. Klasse des JohannChristian-Reinhart-Gymnasiums in Hof sowie Studierende aus ganz Bayern. Danke schön, dass Sie heute stellvertretend für viele junge Menschen hier sind.

(Allgemeiner Beifall)

Ebenso begrüße ich den Bildhauer Wolfgang Fritz, der zusammen mit anderen Künstlerinnen und Künstlern an dem Kunstprojekt "Deutsche Einheit" beteiligt war.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, im Mittelpunkt dieser Feierstunde stehen zwei Persönlichkeiten, die anschließend jeweils aus ihrer Sicht zu uns sprechen werden. Ich darf sie beide sehr herzlich im Bayerischen Landtag willkommen heißen. Ein ganz herzlicher Gruß gilt der bisherigen Präsidentin des Thüringer Landtags, Frau Prof. Dr. Dagmar Schipanski.

(Allgemeiner Beifall)

Einen ebenso herzlichen Gruß entbieten wir Ihnen, dem Schriftsteller, sehr geehrter Herr Dr. Kunze. Herzlich willkommen. Außerdem schicke ich einen Gruß nach oben zu Ihrer Gattin. Danke schön.

(Allgemeiner Beifall)

Herr Dr. Kunze, Sie haben heute bei den 13. Landshuter Literaturtagen noch eine Verpflichtung. Sie werden dort heute Abend zu einer Lesung erwartet.

Verehrte Frau Prof. Schipanksi, sehr geehrter Herr Dr. Kunze, wie wir alle, die die Nacht des 9. November 1989 bewusst erlebt haben, werden Sie den Fall der Mauer und die Zeit danach mit ganz persönlichen Erinnerungen verbinden. Für mich gehört es nach wie vor zu den bewegendsten Erlebnissen meines politischen Lebens, wie ich damals als Staatssekretärin im Sozialministerium viele Flüchtlinge aus der DDR in Bayern empfangen und begrüßen konnte - Menschen jeden Alters, aber besonders auch viele junge Eltern mit ihren Kindern, die sich auf den Weg in die Freiheit gemacht

hatten. Für mich war damals klar, was ich vielen von Ihnen zur Begrüßung sagte: "Sie tragen die Wiedervereinigung im Herzen".

In den vergangenen Tagen und Wochen haben die Medien häufig an die Ereignisse vor 20 Jahren erinnert. Ich sage bewusst "erinnert"; denn man hat oft den Eindruck, dass das, was damals war, inzwischen schon vergessen ist oder zumindest verdrängt wurde. Natürlich ist seitdem eine neue Generation herangewachsen, die nichts anderes als das geeinte Deutschland kennt. Trotzdem scheint immer mehr aus der gemeinsamen Erinnerung verschwunden zu sein, warum die Menschen in der DDR aufgestanden sind und weshalb sie friedlich, aber mit Nachdruck und oft mit großem persönlichen Mut für mehr Freiheit und bessere Lebensbedingungen demonstriert haben. Statt dessen beobachten wir, dass sich immer mehr das ausbreitet, was etwas beschönigend Ostalgie genannt wird, also die fast schon wehmütige Erinnerung an ein scheinbar behagliches Leben in der DDR. Gewiss, es hat auch das gegeben, was der Journalist Günter Gaus einmal die Nischengesellschaft in der DDR nannte: kleine persönliche Freiräume, in die man sich flüchten konnte. Doch dies war in erster Linie Ausdruck der Unzufriedenheit mit den Lebensverhältnissen und Schutz vor drohenden Repressalien des Staates.

Ich meine deshalb, es ist notwendig, die Erinnerung an die 40 Jahre vor dem 9. November 1989 wachzuhalten und uns gleichzeitig bewusst zu machen, was in den zwei Jahrzehnten seit dieser denkwürdigen Nacht in ganz Deutschland und in Europa schon erreicht worden ist: Frieden und Freiheit für Millionen von Menschen und das Ende des Kalten Krieges. All das hätte es nicht gegeben ohne die mutigen Menschen in der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung und die friedliche Revolution vor 20 Jahren, an die wir uns heute dankbar erinnern.

Bevor wir anschließend unsere beiden Festredner das Wort ergreifen lassen, darf ich Sie nun bitten, zunächst einen kurzen Film über die Ereignisse vor 20 Jahren an der deutsch-deutschen Grenze einzuspielen. Frau Professor Schipanski, dann darf ich Sie nach diesem Filmbeitrag um Ihre Ansprache bitten.

(Folgt Filmeinspielung des Bayerischen Rund- funks über die Ereignisse vor 20 Jahren an der Grenze)

Frau Professor Schipanski, Sie haben das Wort. Sie haben selbst den Titel gewählt: "Wunder dauern etwas länger". Bitte schön.

Landtagspräsidentin a. D. Prof. Dr. Dagmar Schipanski: Frau Landtagspräsidentin Stamm, sehr verehrter Herr Ministerpräsident Seehofer, meine sehr

verehrten Landtagsabgeordneten, sehr geehrte Gäste! Liebe Barbara Stamm, ich danke Ihnen sehr herzlich für die Einladung zur heutigen Feierstunde. Sie haben mich eingeladen, um an den 9. November zu erinnern, als die Mauer fiel und die innerdeutsche Grenze geöffnet wurde.

Meine Damen und Herren, unser Land durchzog eine der grausamsten Grenzen der Welt, gespickt mit Minen, Selbstschussanlagen, Panzersperren, mit einem sorgfältig gepflügten Todesstreifen, abgerichteten Hunden und unzähligen Stacheldrahtzäunen, bewacht von Tausenden junger Grenzsoldaten, denen der Hass auf den Klassenfeind tagtäglich anerzogen wurde. In Berlin zeugte die Mauer vom tödlichen Hass zweier Systeme, gebaut von Walter Ulbricht und seinen Genossen, die sich in Wandlitz selbst vor dem eigenen Volk versteckt hielten.

Diese Grenze war aber auch das nach außen gekehrte, weithin sichtbare Zeichen einer abgeschotteten und eingeengten Gesellschaft, die unter der Kontrolle und Überwachung der DDR-Machthaber stand. Diese Grenze war das Symbol für die Isolation von der westlichen Welt, der Isolation von Informationen und von Kenntnissen über das Leben jenseits des Eisernen Vorhangs. Wir waren abgeschnitten von geistigen Strömungen, künstlerischen und wissenschaftlichen Entwicklungen und, nicht zu vergessen, vom wirtschaftlichen Aufschwung. Hinter dieser Grenze lag eine Welt außerhalb unseres Erfahrungshorizonts.

Auch für Sie lag hinter dieser Grenze eine Welt außerhalb Ihres Erfahrungshorizonts. Auch Sie hatten nur vage Vorstellungen davon, wie sich der Alltag in der sozialistischen Diktatur abspielte. Was tägliche Angst und Rechtsunsicherheit bewirken, das spüren wir noch heute bei unseren vielfältigen Gesprächen. Wir haben uns auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall gegenseitig viel von verschiedenen Erfahrungen, andersartigen Erlebnissen und unterschiedlichen Bewertungen zu berichten. Denn wir alle - Sie und wir - trugen die Grenze auch in unseren Köpfen. Wir in dem Bewusstsein, dieses Land nicht verlassen zu können, nicht zu Urlaubsreisen, nicht um Geschäfte zu tätigen oder wissenschaftliche Kongresse zu besuchen. Die meisten trugen schwer an diesem Bewusstsein. Tatsache ist aber auch, dass viele der Täter offensichtlich bis heute nicht bereuen und noch immer der alten Ideologie anhängen.

(Allgemeiner Beifall)

Die meisten von uns Ostdeutschen bekamen diese Grenze erst zu Gesicht, als sie ihren Schrecken verloren hatte. Wir waren durch Sperrgebiet und sorgfältigste Überwachung sogar von der Grenze isoliert, die uns

eingesperrt hielt. Umso größer waren Jubel und Freude - wir haben es eben noch einmal gesehen -, als am 9. November 1989 in dieser Grenze Lücken entstanden, feine Risse sich ausbreiteten zu begehbaren Pfaden und wir Deutschen aus Ost und West uns in den Armen lagen. Uns interessierte nicht: War es ein Versprecher von Schabowski? War es Absicht? - Wir genossen den Augenblick. Ich glaube, wir sollten in unserer heutigen Berichterstattung die Gefängniswärter von damals nicht zu Freiheitsbringern hochstilisieren; denn die Öffnung der Mauer hat das Volk erzwungen - die Menschen der DDR.

(Allgemeiner Beifall)

Ich glaube, niemand kann die Kraft der Kerzen der Demonstranten gegen die Macht der Stasizentralen vergessen, die schweigende Entschlossenheit der Demonstranten in vielen kleinen und großen Städten, als die Angst vor den Herrschenden überwunden wurde und der Ruf "Wir sind das Volk" uns befreite. Auch an dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass wir immer die "chinesische Lösung" auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Hintergrund unserer Gedanken hatten.

Am denkwürdigen 9. Oktober in Leipzig, als 70.000 Menschen demonstrierten trotz schussbereiter Armee auf allen Dächern, trotz mobilgemachter Kampfgruppen, trotz bereitgestellter Blutkonserven und Leichensäcke, da war unsere eigentliche innere Befreiung. Um es mit Joachim Gauck zu sagen: Wir haben uns mit dem Verlust der Angst unsere Würde zurückgeholt.

(Allgemeiner Beifall)

Wir sind damals von Untertanen wieder zu Bürgern geworden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, deshalb hat dieser 9. November eine so ungeheure Bedeutung für unsere deutsche Geschichte. Es war eine Revolution. Es war eine Revolution der ostdeutschen Menschen, die die SED-Machthaber zwangen, abzudanken und Demokratie anzuerkennen. Es war die erste gelungene Revolution in der langen Geschichte der Deutschen, und dass sie friedlich verlief, das erfüllt uns mit besonderer Dankbarkeit. Denn mit dem Ruf "Wir sind das Volk" und später "Wir sind ein Volk" haben wir Ostdeutschen der deutschen Geschichte ein besonderes Kapitel hinzugefügt. Ich glaube, wir können auf dieses Kapitel beide gleich stolz sein - Sie im Westen und wir im Osten.

(Allgemeiner Beifall)

Denn Demokratie und Freiheit, das war für uns im Herbst 1989 eine Sache des Herzens. Diese politische

Erfahrung ist etwas außerordentlich Kostbares, gerade weil unser Land eine so lange Tradition der Unterdrückung und Unfreiheit kennt. Deshalb ist der Wille zu Freiheit, Demokratie und politischer Mitverantwortung das wichtigste Erbe des Herbstes 1989.

Bürgerrechtler der DDR, Bürgerrechtler aus Polen, Ungarn und Tschechien haben zur Bedeutung dieses Herbstes in besonderer Weise beigetragen, und dafür gilt allen Bürgerrechtlern in Osteuropa unser herzlicher Dank.

(Allgemeiner Beifall)

Ich möchte uns auch an die Freude und Erleichterung erinnern, an die Freude, die Grenze überwunden zu haben, die Isolation aufgebrochen zu haben, frei zu sein von Bevormundung, von Zensur, von Gesinnungsdiktat, Beobachtung und Bespitzelung, und vor allem die Freude, wieder vereint zu sein, wieder ein deutsches Volk zu sein.

Viele haben dieses Ereignis am 9. November 1989 als Wunder bezeichnet. Auch ich empfinde die Beendigung der Teilung Deutschlands noch heute als das Wunder meines Lebens. Doch, meine sehr verehrten Damen und Herren, wie sind wir Deutschen mit diesem Wunder umgegangen? Haben wir uns den Sinn für das Wunder bewahrt, oder sind wir nicht allzu oft von Larmoyanz, Nörgelei und gegenseitiger Besserwisserei geprägt, sind Verzagtheit und Passivität an die Stelle von Mut und Freude getreten? - In der öffentlichen Debatte könnte man das manchmal so wahrnehmen, wenn wir uns die Talkrunden im Fernsehen oder bestimmte Presseberichterstattungen ansehen.