Protokoll der Sitzung vom 30.01.2018

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 122. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben und zweier ehemaliger Kollegen zu gedenken.

(Die Anwesenden erheben sich)

Am 21. Januar verstarb im Alter von 78 Jahren Herr Dr. Helmut Simon. Er gehörte dem Bayerischen Landtag von 1991 bis 1998 sowie im Jahr 2003 an und vertrat für die SPD den Wahlkreis Schwaben. Während seiner Zugehörigkeit zum Hohen Haus engagierte er sich unter anderem im Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten. Sein politisches Engagement ging über sein Wirken im Landtag hinaus. So hat er auch auf kommunaler Ebene Verantwortung übernommen: Über zwei Jahrzehnte lang war er Mitglied im Stadtrat von Kaufbeuren, wo er die Entwicklung der Stadt maßgeblich mitgestaltet hat.

Am 24. Januar verstarb im Alter von 96 Jahren Herr Winfried Wachter. Er gehörte dem Bayerischen Landtag von 1962 bis 1966 sowie von 1970 bis 1978 an und vertrat für die FDP den Wahlkreis Schwaben. Während seiner Zugehörigkeit zum Hohen Hause engagierte er sich unter anderem im Ausschuss zur Information über Bundesangelegenheiten sowie im Ausschuss für Staatshaushalt und Finanzfragen. Sein langjähriges politisches und ehrenamtliches Engagement wurde unter anderem mit der Verfassungsmedaille in Silber sowie mit dem Bayerischen Verdienstorden gewürdigt. Der Landtag trauert mit den Angehörigen und wird den Verstorbenen ein ehrendes Andenken bewahren. –

Sie haben sich zum Gedenken an die Verstorbenen von den Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.

(Unruhe)

Wir treten in die Tagesordnung ein. Deswegen bitte ich, die Plätze einzunehmen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde gem. § 65 BayLTGeschO auf Vorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN "Gleiches Recht auf gute Chancen: Mehr Unterstützung für Alleinerziehende"

Die Regeln für die Aktuelle Stunde sind bekannt. Die fraktionslosen Abgeordneten Claudia Stamm, Günther Felbinger und Alexander Muthmann können jeweils bis zu zwei Minuten sprechen. Erste Rednerin ist die Frau Kollegin Schulze von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurzeit ist es mal wieder so weit: Viele Kinder haben Fieber und Husten und müssen zu Hause bleiben. Die Grippe scheint auch bei der CSU-Fraktion zugeschlagen zu haben; anders kann ich mir die leeren Reihen nicht erklären. Oder sie interessiert anscheinend mehr Unterstützung für Alleinerziehende nicht.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wenn Kinder krank daheim sind, muss oft ein Elternteil ebenfalls daheimbleiben, obwohl zum Beispiel die Chefin dringend auf die Präsentation wartet oder einige Kolleginnen und Kollegen aus dem Team auch schon fehlen. Die pflegebedürftigen Großeltern warten auf einen Besuch, und die eigenen Freunde fühlen sich schon lange vernachlässigt, und zwar zu Recht.

In einer Partnerschaft bekommt man das alles meistens noch irgendwie geregelt. Aber wie geht es denen, die das alles alleine schultern müssen, rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr? – Sie müssen enorm viel leisten, sind häufiger arm und stehen oft am Rand der Gesellschaft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, sie bekommen in Bayern auch nicht die politische Aufmerksamkeit und Unterstützung, die ihr gutes Recht wäre.

(Beifall bei den GRÜNEN)

"Allein, alleiner, alleinerziehend" – mit dieser Steigerung bringt es die Autorin Christine Finke auf den Punkt. Wenn wir uns einmal die Zahlen anschauen, sehen wir, dass sie enorm sind. Jedes fünfte Kind wächst in einer Familie mit einem Elternteil auf. In neun von zehn Fällen sind das Frauen, und die meisten haben sich das nicht selber ausgesucht.

Kolleginnen und Kollegen, es ist jetzt also Zeit, dass wir in Bayern aufhören, so zu tun, als wären Familien mit Alleinerziehenden so eine Art Familien zweiter Klasse. Wer alleinerziehend ist, verdient unseren Respekt und unsere Anerkennung. Ganz besonders verdienen Alleinerziehende eine bessere Unterstützung.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Denn viele der Unterstützungssysteme passen schlicht nicht zum wirklichen Leben der Alleinerziehenden. 77 % von ihnen arbeiten, knapp die Hälfte davon in Teilzeit. 81 % der Alleinerziehenden in Teilzeit gaben 2015 persönliche oder familiäre Verpflichtungen als Hauptgrund für ihre Teilzeit an. Mit anderen Worten: Sie würden gerne den Lebensunterhalt für sich und ihre Familie selber verdienen; aber sie können es nicht, weil eben die Voraussetzungen fehlen.

Das heißt hier bei uns in Bayern vor allem: Wir brauchen dringend einen Ausbau der Kinderbetreuung.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In Bayern wird gerade mal jedes vierte Kind unter drei Jahren in einer staatlich geförderten Einrichtung betreut. Das ist peinlich und eine komplette Fehlplanung am aktuellen Bedarf vorbei; denn 42 % der Eltern wollen einen Kitaplatz für ihr Kind. Das heißt also, 2018 muss die Losung lauten: mehr Kindergarten-, Kita- und Hortplätze.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Deswegen fordern wir im Nachtragshaushalt auch ein Investitionsprogramm für mehr Kita-Plätze. Wir haben in Bayern das Geld dafür; es wird nur an der falschen Stelle ausgegeben.

Warum haben wir beispielsweise dieses unsinnige Betreuungsgeld, das die absolut falschen Anreize setzt? – Stattdessen sollten wir die 230 Millionen Euro jährlich lieber in den Ausbau der Betreuung stecken.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir brauchen aber nicht nur mehr Plätze, sondern wir brauchen vor allem auch flexible Betreuungszeiten. Was ist zum Beispiel mit der Polizistin, der Krankenschwester oder der Kassiererin im Supermarkt, die vormittags mit ihrem Kind daheim ist und nachmittags arbeiten muss? – Wir brauchen eine Kinderbetreuung, die zum Leben der Eltern passt – und nicht andersherum.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Eine Zeit lang gab es vonseiten der CSU-Fraktion eine Sonderförderung für Kitas mit längeren Öffnungszeiten. Die haben Sie dann wieder abgeschafft. Da muss ich mich schon fragen, in welcher Realität Sie eigentlich leben – in der von heute jedenfalls nicht.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich weiß schon, was dann immer als Argument kommt: Wir haben aber nicht genug Erzieherinnen und Erzieher. – Ja, das ist richtig, und das ist ein Problem. Darauf weisen wir GRÜNE schon seit Langem hin. Erzieherinnen und Erzieher machen einen unglaublich wichtigen Job. Er ist aber leider nicht so attraktiv, wie er eigentlich sein müsste. Wir müssen die Erzieherinnen und Erzieher dringend besser bezahlen. Wir müssen ihnen mehr Zeit geben für die Elterngespräche und für die Betreuung der Kinder. Wir müssen einen höheren Betreuungsschlüssel ansetzen und natürlich auch die Leitungen entlasten. All das würde diesen Beruf deutlich attraktiver machen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wenn wir den Erzieherinnen und Erziehern zudem in der Ausbildung endlich ein gescheites Gehalt anstatt nur ein Minitaschengeld zahlen würden, dann wäre diesem Berufsbild auch schon mehr geholfen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir müssen aber nicht nur auf mehr Flexibilität setzen, sondern wir müssen uns auch um das große Problem der Armut kümmern. Armut tritt gerade bei Alleinerziehenden und ihren Kindern besonders häufig auf. Das gilt, wenn die Kinder klein sind, aber auch später im Alter. Wenn Frauen sowieso schon wenig verdienen und häufig in Teilzeit arbeiten, dann bleibt nicht viel fürs Alter übrig. Das ist keine neue Erkenntnis.

Sie alle kennen diese Zahlen – darüber diskutieren wir hier im Bayerischen Landtag immer wieder – und wissen es: Kinder sind ein Armutsrisiko. Rund 2,5 Millionen Kinder und ihre Familien in Deutschland sind arm.

(Gudrun Brendel-Fischer (CSU): In Deutschland!)

Jedes zweite Kind im Hartz-IV-Bezug lebt in einem Alleinerziehendenhaushalt. Das darf es in einem so reichen Land einfach nicht geben. Angesichts solcher Zahlen blutet mir das Herz.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Anstatt jetzt höhnische Kommentare abzugeben, könnten Sie sich lieber mal auf Bundesebene für dieses Thema einsetzen; aktuell finden ja GroKo-Verhandlungen statt. Wir GRÜNE haben jedenfalls schon Vorschläge vorgelegt, die man auf Bundesebene sofort umsetzen könnte. Da wir hier jedoch im Bayerischen Landtag sind, möchte ich ein paar Punkte anführen, die wir ganz konkret in Bayern verändern könnten.

Wir könnten uns zum Beispiel endlich darum kümmern, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Eine teure Wohnung zu bezahlen, ist für Alleinerziehende nämlich doppelt schwierig. Wenn ich dann noch höre, dass Herr Söder sich dafür feiern lässt, dass er jetzt 2.000 soziale Wohnungen bauen lassen möchte, nachdem er davor 31.000 GBW-Wohnungen verkauft hat,

(Zuruf: 33.000!)

dann kann ich einfach nur lachen.

(Beifall bei den GRÜNEN – Zurufe von der CSU)

Von diesem Manöver haben die Alleinerziehenden nämlich überhaupt nichts. Alleinerziehende haben etwas davon, wenn endlich die Wohnraumförderung aufgestockt wird, damit mehr Wohnungen gebaut werden können. Dafür möchten wir 150 Millionen Euro in die Hand nehmen.

Ich bin der Meinung, dass wir uns bei diesem Thema auch einmal um kreative Lösungen bemühen müssen. Warum fördern wir zum Beispiel nicht Alleinerziehenden-WGs? – Das senkt die Mietkosten, es hilft bei der Kinderbetreuung, und Einzelkinder hätten auf diese Weise einen Spielkameraden oder eine Spielkameradin im Nebenzimmer. Ich finde, gerade bei diesem Thema sollten wir doch endlich mal kreativ denken und offen sein für unkonventionelle Lösungen.

Dieses Mehr an Mut und Kreativität gebe ich nicht nur uns hier im Bayerischen Landtag mit auf den Weg, sondern das wünsche ich mir auch von der Wirtschaft: Eine Unternehmenskultur, die Rücksicht auf die Bedürfnisse von Eltern nimmt, würde viel helfen. Flexible Vollzeit, das Rückkehrrecht in Vollzeit und ein Recht auf Homeoffice – das würde den Alleinerziehenden hier in Bayern ganz konkret helfen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Sache ansprechen, die mir persönlich ganz wichtig ist. Alleinerziehende Frauen sind häufig doppelt diskriminiert, zum einen, weil sie eben Frauen sind, und dann noch als alleinstehende Mütter. Das beginnt im Job und hört im Privatleben noch längst nicht auf. Die Gesellschaft bestraft Alleinerziehende für ihre Lebensform und macht sie ganz oft zu Bittstellerinnen. Sie müssen oft um den Unterhalt für ihre Kinder kämpfen; das Steuerrecht benachteiligt sie und privilegiert die Ehe. Die Altersarmut lässt grüßen. Auch gesellschaftlich passt das Alleinerziehendenmodell für viele nicht in ihre Vater-Mutter-Kind-Welt.

Ich bin einmal gespannt, was Sie sagen, wenn Sie jetzt die folgende Jahreszahl hören: Bis 1961 waren ledige Mütter bzw. Alleinerziehende nicht sorgeberechtigt. Das Amt übernahm die Vormundschaft. Diesen Geist, den man manchmal auch heute noch spüren kann, müssen wir endlich restlos entsorgen.