Protokoll der Sitzung vom 29.06.2016

Ich rufe jetzt zur gemeinsamen Beratung auf:

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Hubert Aiwanger, Florian Streibl, Prof. (Univ. Lima) Dr. Peter Bauer u. a. und Fraktion (FREIE WÄHLER) Nach Brexit: Europa retten, Bayern schützen, Regionen stärken! (Drs. 17/12130)

und

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Thomas Kreuzer, Reinhold Bocklet, Kerstin SchreyerStäblein u. a. und Fraktion (CSU) Konsequenzen aus dem Brexit besonnen ziehen Für eine bessere EU-Politik! (Drs. 17/12132)

und

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Margarete Bause, Ludwig Hartmann, Thomas Gehring u. a. und Fraktion (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Europa neu begründen: Mehr Gemeinsinn, mehr Demokratie - weniger Nationalismus, weniger Hinterzimmerpolitik (Drs. 17/12135)

und

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Markus Rinderspacher, Hans-Ulrich Pfaffmann, Dr. Linus Förster u. a. und Fraktion (SPD) Den Brexit als Chance nützen: Die Europäische Union besser machen! (Drs. 17/12144)

Ich eröffne die gemeinsame Aussprache und darf als Erstem für die Fraktion der FREIEN WÄHLER Herrn Kollegen Aiwanger das Wort erteilen.

Sehr verehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa steckt in einer handfesten Krise, und wir von der Politik müssen alles tun, um diese Krise zu überwinden, weil wir Europa brauchen. Ich glaube, in diesem Punkt sind wir alle einer Meinung. Wir müssen auch feststellen, dass die zentralen Akteure in den europä

ischen Gremien in den letzten Jahren vielleicht nicht erkannt haben, dass ein Vertrauensverlust erst schleichend und dann galoppierend eingesetzt hat, sodass immer mehr Bürger nicht mehr hinter dieser EU-Politik stehen, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben. Begonnen hat es mit der Euro-Rettungspolitik. Es gab die ersten Vorzeichen, als Bürger gefragt haben: Stecken wir da mit drin, und kommen wir aus dieser Situation irgendwie wieder heraus? Man hatte schon irgendwie das Gefühl, von anderen bevormundet zu sein und nicht selbst hinter den Dingen stehen zu können.

In den letzten Jahren haben sich viele weitere Themen zugespitzt, und die Entwicklung gipfelte – zu schlimmer Letzt, muss man sagen – im Brexit. Man stellt eine Ohnmacht der EU-Politik im Hinblick auf die Flüchtlingskrise fest. All das hat den Bürgern gezeigt: Die Politiker, die vorne steuern, haben den Laden nicht im Griff, und wir trauen ihnen nicht. Die Engländer haben mit einem gewissen nationalen Zusatzton, den es in anderen Regionen vielleicht nicht so gibt, gesagt: Okay, dann gehen wir raus.

Wie sind jetzt die Reaktionen? – In meinen Augen schon wieder falsch. Herr Juncker sagt: Wir fragen bei bestimmten Themen wie CETA und TTIP die Bevölkerung einfach nicht mehr, sondern machen das gleich über die EU und fragen auch die Mitgliedstaaten gar nicht mehr.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN)

Auch wird gegenüber den Briten mit einem gewissen Schmollton gesagt: Raus ist raus, jetzt aber schnell, macht euch vom Acker. Auch das ist falsch. Das gilt vor allem im Hinblick auf die bayerische Wirtschaft. In dieser Hinsicht sind wir von den FREIEN WÄHLERN durchaus der Überzeugung, dass wir dieses Thema in der jetzigen Situation besonders berücksichtigen müssen. Es gilt, Schadensbegrenzung zu betreiben.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN)

Jeder zehnte BMW geht nach Großbritannien. Wir können es uns nicht leisten, dass diese Insel völlig abschmiert, dass die Zahlungsfähigkeit leidet und am Ende der Export aus Deutschland und damit der Wohlstand und die Arbeitsplätze in Deutschland betroffen sind. Insofern ist es angesagt, vernünftig weiterzuarbeiten, nicht die Jalousien herunterzulassen und zu sagen, man wolle mit den Leuten nichts mehr zu tun haben.

Die Politik muss sich auch an die eigene Brust klopfen und fragen, wie es dazu kommen konnte. Falsch ist es zu sagen: Wenn nicht so abgestimmt wird, wie wir das erwarten, dann lassen wir nicht mehr abstimmen.

Nein, wir von der Politik müssen diesen Vertrauensverlust aufarbeiten. Wir von den FREIEN WÄHLERN bringen hierbei das Zauberwort der Regionalität ins Spiel. Ich frage mich, warum man sich windet, wenn es darum geht, mehr regionale Zuständigkeiten nicht nur in Sonntagsreden anzuführen, sondern auch einzufordern und einzuführen.

Die EU hat bei vielen Dingen zu viele Kompetenzen an sich gezogen, die man gezielt im Einzelfall wieder zurückgeben könnte. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Fehlentwicklungen bei der Agrarpolitik. Die Agrarpolitik ist in Europa der am weitesten vergemeinschaftete Wirtschaftszweig. Reden Sie einmal mit den Bauern, nicht nur hierzulande, wie sie sich unter dieser politischen Prämisse fühlen. Man muss fragen, ob diese europäische Agrarpolitik ein Erfolgsmodell ist oder ob man nicht eher feststellen muss, dass die Landwirte zunehmend auf der Strecke bleiben und dass die gleichen Agrarausgleichszahlungen von Deutschland bis Rumänien bezahlt werden, ohne auf die Regionalität zu achten. Bei uns ist es zu wenig, und in Rumänien ist es vielleicht zu viel. Deshalb siedeln sich dort Großinvestoren aus dem Westen an, bedienen sich dort und schließen bei uns die Tore. Wir haben hier Verwerfungen, aber es bleibt leider nicht die Zeit, die Probleme der Agrarpolitik zu vertiefen. Sie kann aber als Beispiel dafür dienen, dass auf diesem Feld die Vergemeinschaftung mit Sicherheit nicht die goldene Zukunft gebracht hat, die man sich erhofft hat.

Reden Sie mit den Bürgermeistern bezüglich der Ausschreibungspflichten. Wenn ein bayerischer Bürgermeister nicht einmal mehr eine Turnhalle bauen kann, ohne entweder irgendwelche Winkelzüge anstellen zu müssen oder europaweit ausschreiben zu müssen, worauf eine portugiesische Firma die Ausschreibung gewinnt, so ist das zu beklagen. Dann will man noch TTIP oder CETA oben draufsetzen, um noch andere Kontinente mit einzubeziehen, damit noch andere Kontinente in die Ausschreibungsmodalitäten einfließen. Das zeigt, dass wir an vielen Stellen zu viel Europa haben, während wir an anderer Stelle zu wenig Europa haben, wenn es zum Beispiel um Flüchtlingspolitik, Sicherheitspolitik, internationalen Terrorismus oder Armutsbekämpfung geht.

Wir müssen das Zusammenspiel von europäischer Ebene und nationaler Ebene unter Einbeziehung von Regionalität neu justieren. In vielen Fällen würde mehr Regionalität Druck vom Kessel nehmen – ob es die Schotten, die Basken oder die Bayern sind.

In Ihren Reihen gibt es Leute, die immer posten, Bayern solle aus Deutschland austreten. Wenn Bayern in Deutschland mehr Ellbogenfreiheit hat – –

(Gudrun Brendel-Fischer (CSU): Schmarrn!)

Das ist kein Schmarrn, lesen Sie die Eintragungen Ihrer Facebook-Freunde!

Wenn Bayern also mehr Ellbogenfreiheit in Deutschland hätte, dann würde vielleicht auch der Bayer gar nicht auf diesen Gedanken kommen. Auch der Franke würde sich wohlfühlen, wenn er regional ordentlich bedient würde. Regionalität ist das Zauberwort, das wir von den FREIEN WÄHLERN in die Debatte einbringen wollen, und zwar für ein Europa der Bürger und der Regionen. Mit dieser Überschrift sind wir in den Europawahlkampf 2014 gestartet. Wahlentscheidend waren dann ganz andere Themen. Wie man Regionalität schreibt, interessiert niemanden. Langsam glaube ich aber, dass das Thema immer mehr interessieren wird. Wenn man die Bürger nicht mitnimmt, wird der Brexit nicht der letzte Betriebsunfall dieser EU gewesen sein. Mir wird angst, wenn ich sehe, welche Leute weiterhin das große Rad in dieser EU drehen. Mir wird angst, wenn ein Ignorant wie Herr Juncker sagt: Dann sperren wir das Volk aus, dann machen wir alleine ohne das Volk weiter. Das ist der falsche Weg.

Ich will nicht nur die europäische Ebene, sondern auch die bayerische Ebene beleuchten. Herr Ministerpräsident, nochmal vielen Dank, dass Sie unsere Unterschriften entgegengenommen haben. Wichtig ist, auch das Thema Freihandelsabkommen in Bayern in die Debatte einzubringen und zu fragen, wo die bayerische Bevölkerung in dieser Hinsicht steht. 20.000 Unterschriften sind symbolhaft für viele Menschen, die das Gefühl haben, alles gehe über ihre Köpfe hinweg und sie wüssten nicht, worum es eigentlich gehe; man weiß nicht, wie sich das Ganze auswirkt. Immer mehr haben berechtigte Sorgen, vom Deutschen Richterbund über die Landwirtschaft bis hin zu den KMUs, die sich zunehmend organisieren und fordern: Bitte, so nicht. Sie fordern auch: Wir wollen mitgenommen werden. Deshalb auch abschließend der Appell an Sie von der Staatsregierung: Nehmen Sie diesen Hilferuf der Bevölkerung ernst, fragen Sie das Volk!

Sobald CETA ausverhandelt ist, hoffen wir, dass es als gemischtes Abkommen gesehen wird und Bayern im Bundesrat gefragt wird. Es darf nicht sein, dass es über unsere Köpfe hinweggeht. Sollte es über die Köpfe hinweggehen, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie in Berlin so stark auf den Putz hauen, dass der Putz von den Wänden fällt. Es darf nicht sein, dass das ohne die Nationalstaaten abgewickelt wird. Das darf nicht passieren. Unabhängig davon können Sie von der Bayerischen Staatsregierung die Bevölkerung fragen. Wir fordern, die bayerische Bevölkerung

zu befragen. Ab Juli wird ein Volksbegehren auf den Weg kommen, um CETA und TTIP zu stoppen. Die Verhandlungen müssen unter einer neuen Sichtweise neu begonnen werden. Dabei muss die Regionalität eine größere Gewichtung haben. Wir brauchen Europa, und wir müssen Europa retten, aber ein "Weiter so‘" darf es nicht geben. Wir wollen ein Europa der Bürger und Regionen.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN)

Vielen Dank. – Für die CSU-Fraktion hat jetzt Herr Kollege Dr. Rieger das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

(Hans-Ulrich Pfaffmann (SPD): Jetzt geht es los!)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Aiwanger, ich habe einen Hinweis für Sie, weil Sie wahrscheinlich nur in Bayern unterwegs sind.

(Hubert Aiwanger (FREIE WÄHLER): Ich bin auch woanders unterwegs!)

In Berlin gibt es viele Betonbauten. Wenn man auf den Putz haut, fällt überhaupt nichts herunter. Herr Aiwanger, vielleicht muss man andere Maßnahmen ergreifen. Man kann nicht immer nur auf den Putz hauen.

(Hubert Aiwanger (FREIE WÄHLER): Doch!)

Das wollte ich Ihnen bloß sagen. Wahrscheinlich wissen Sie das nicht, weil Sie in Bayern immer nur auf den Putz hauen.

(Beifall bei der CSU)

Vielleicht nimmt Sie der Herr Ministerpräsident einmal mit. Möglicherweise überlegen Sie sich dann noch andere Methoden. Mit Brachialgewalt sollte man an dieses Thema nicht herangehen.

Meine Damen und Herren, das Thema ist sehr komplex. Nur eines ist gewiss: Offenbar hat der Ausgang des Referendums die englische Fußballnationalmannschaft so erschüttert, dass sie den Brexit schon am Montagabend vollzogen hat. – Spaß beiseite.

(Hans-Ulrich Pfaffmann (SPD): Das ist kein Spaß, sondern bitterer Ernst!)

Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass die EU in Großbritannien so viele Fans hätte wie der Fußball.

Der Austritt Großbritanniens ist ein historischer Einschnitt für Europa mit voraussichtlich ganz bitteren

Folgen für das Vereinigte Königreich, aber auch für Deutschland und unser Land Bayern. Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union tritt ein ganzer Staat aus, noch dazu die fünftgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Selbst der Versuch, die Briten mit Einräumung von Sonderrechten in der Gemeinschaft zu halten, ist gescheitert. Dass der sogenannte Brexit eine Krise der Europäischen Union zur Folge haben wird, bedarf keiner weiteren Erläuterungen.

Entscheidend ist jetzt, wie wir damit umgehen. Wir dürfen diesen Austritt auf keinen Fall als Anfang vom Ende betrachten, sondern müssen ihn als Weckruf betrachten. Wir sollten diese Krise als Chance wahrnehmen zur Neugestaltung, zur Verbesserung der Europäischen Union, zum Nachjustieren der Regeln, die bisher nicht funktionierten, und insbesondere als Chance, das verlorene Vertrauen der Bürger wieder zurückzugewinnen. Eines steht fest: Die meisten Menschen im Vereinigten Königreich haben nicht rational, sondern emotional abgestimmt, weil sie das Vertrauen in diese Europäische Union verloren haben. Diese Tendenz ist leider auch in vielen anderen Mitgliedstaaten erkennbar.

Wie aber hat eine Neugestaltung Europas jetzt auszusehen? Was soll sie zum Ziel haben? – Die einen fordern mehr Europa, die anderen weniger Europa, wieder andere ein Kerneuropa, die SPD mit ihrem nachgezogenen Dringlichkeitsantrag ein soziales Europa im Sinne einer Sozialunion. Die richtige Antwort lautet jedoch: Wir brauchen ein besseres Europa.

(Lachen bei der SPD)

Großbritannien hat gezeigt, dass die Menschen selbst mit Einräumung von Sonderrechten und eigener Währung nicht mehr zufrieden sind mit diesem Europa, obwohl ihnen dieses Europa 70 Jahre Frieden, Freiheit, Wohlstand und Sicherheit gegeben hat. Wir brauchen deshalb ein Europa, das die Bürger akzeptieren und mit dem sie zufrieden sind. Wir müssen ein besseres Europa aus der subjektiven Sicht der Bürger gestalten. Das ist der richtige Ansatz.

Wie die Union diese Krise durchsteht, hängt vor allem davon ab, ob die Gemeinschaft Antworten für ihre Bürger parat hat. Sie hat die Bürger mit Biegen und Brechen der eigenen Regeln und auch der Verträge allzu oft enttäuscht. Sie muss Lösungen für die großen Herausforderungen unserer Zeit finden, die die Bürger bewegen. Das sind vor allem die Sorgen der Menschen um die Währungsstabilität, die Sorgen der Menschen um die innere Sicherheit und die Sorgen der Menschen wegen der Zuwanderung, insbesondere um ein Scheitern der Integration, was wir fast täglich in Frankreich und Belgien erleben. Die Menschen

sorgen sich außerdem wegen überbordender Bürokratie und nicht nachvollziehbarer Entscheidungen aus Brüssel.

Meine Damen und Herren, dies gilt gerade auch für die Menschen in Bayern. Unsere Bürger wollen eine erfolgreiche Migrations-, Sicherheits- und Währungspolitik, die ein sicheres und wirtschaftlich starkes sowie friedliches Bayern gewährleistet. Sie wollen keine Union, die staatliche Strukturen auflöst, mit denen sie zufrieden sind. Für das Exportland Bayern ist Europa in besonderer Weise ein Wirtschaftsraum mit kurzen Wegen, wirtschaftlicher Kraft und großer Dynamik. Unseren Wohlstand und unsere Zukunftschancen sichern wir in und mit Europa. Für die Stabilität der Währung, für die Sicherung von Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent, für hochwertige Arbeitsplätze, technologische Zukunftsprojekte und für die starke Bedeutung unserer guten Werteordnung – für all das brauchen wir unser Europa.