Protokoll der Sitzung vom 13.12.2000

D a z u

Mitteilung des Senats vom 7. November 2000

(Drucksache 15/521)

(Unruhe – Glocke)

Meine Damen und Herren, nur zur Information, die Sitzung hat bereits begonnen! – Vielen Dank!

Dazu als Vertreter des Senats Bürgermeister Dr. Scherf, ihm beigeordnet Staatsrat Bettermann.

Der Bürgermeister ist noch nicht im Haus, ich wollte ihn fragen, ob er die Antwort noch einmal schriftlich wiederholen will. Ich nehme an, dass das nicht der Fall ist.

Dann frage ich, ob wir in eine Aussprache eintreten wollen.

Das ist der Fall.

Der erste Redner ist der Abgeordnete Dr. Kuhn.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wer den kürzesten Weg hat, kommt immer zu spät, das war schon zu Schulzeiten so!

(Abg. F o c k e [CDU]: Manchmal auch gar nicht!)

Ja, oder manchmal gar nicht, das stimmt!

Meine Damen und Herren, der Ministerpräsident des Staates Luxemburg hat am letzten entscheidenden Abend vor der langen Nacht in Nizza ein bisschen genervt und sarkastisch erklärt, es werde wohl eine Einigung auf niedrigem Niveau geben, aber dann würden alle nach Hause fahren und einen großen Erfolg melden.

Er hat Recht gehabt, der Jean-Claude Juncker, aber diejenigen, wie wir, die zu Hause bleiben durf

ten, haben da mehr Freiheit in der Bewertung, und insofern werde ich jetzt in meinem ersten Teil eine Bewertung dieser Ergebnisse der Konferenz von Nizza vornehmen, in dem zweiten Teil mich beziehen auf die Position der deutschen Länder, wie sie in der Vor-Nizza-Zeit formuliert worden ist, und im letzten Teil dann zu dem so genannten Nach-Nizza-Prozess übergehen.

Meine Damen und Herren, das schönste und zukunftsträchtigste Bild bei der Konferenz von Nizza war für mich das Bild, dass die Regierungschefs der 15 EU-Länder gemeinsam mit den Staats- und Regierungschefs der Beitrittskandidaten zusammengetroffen sind, um die Charta der Grundrechte feierlich zu proklamieren. Das bedeutet, dass das Neue, was die Grundrechtecharta bedeutet, auch von Anfang an mit den beitrittswilligen Ländern gemeinsam gemacht werden soll. Das war ein gutes Signal.

Ein gutes Signal ist auch gewesen, dass der Rat die Hoffnung ausgesprochen hat, dass einige dieser Länder schon 2004 teilnehmen können an den nächsten Wahlen zum Europaparlament. Diese Signale aus Nizza sind jedenfalls in Warschau, Budapest und in anderen Hauptstädten Mittel- und Osteuropas sehr gut aufgenommen, sehr gut verstanden worden. Die Tür zur Erweiterung der EU nach Mitteleuropa, nach Osteuropa ist ein ganzes Stück weiter aufgestoßen worden, und die Überwindung der Teilung Europas ist in Sicht. Das ist ein Ergebnis von Nizza, das wir Grüne sehr begrüßen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Eine andere Frage ist, ob die Europäische Union mit dieser Konferenz selbst sich fit gemacht hat für die Erweiterung, ob sie handlungsfähig geworden ist, und da gehen die Meinungen schon ziemlich auseinander.

Das Europäische Parlament hat gestern sehr kritisch diskutiert, die Kommission ist sehr zurückhaltend in ihren Äußerungen, und auch die Presse hat sich skeptisch, ja enttäuscht über die Ergebnisse, und ich füge hinzu, vor allen Dingen auch über den Ablauf der Konferenz in Nizza gezeigt. Vor allen Dingen die nationalen Borniertheiten, Besonderheiten, die Kurzsichtigkeiten etlicher Regierungschefs, die schwierigen Verhandlungen um Macht, um Stimmengewichte haben ein schlechtes Bild abgegeben, so dass viele gefragt haben, wo bleibt eigentlich Europa auf dieser Konferenz.

Ich will an dieser Stelle aber ausdrücklich festhalten, dass jedenfalls die deutsche Regierungsdelegation, dass Bundeskanzler Schröder und der Außenminister Fischer zu diesem negativen Bild nicht beigetragen haben.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Die SPD ist noch nicht so ganz bei der Sache.

(Abg. T ö p f e r [SPD]: Was haben Sie denn gesagt? Wiederholen Sie noch ein- mal!)

Ich habe den Bundeskanzler für seine gute Verhandlungsführung gelobt und dass er ein gutes europäisches Bild abgegeben hat. Bitte schön, Ihr Einsatz!

(Beifall bei der SPD)

Beschlossen worden ist, meine Damen und Herren, lassen Sie mich ganz knapp die Ergebnisse zusammenfassen in den drei so genannten Übrigbleibseln von Amsterdam: erstens eine nicht gerade radikale Begrenzung der Kommission auf maximal 27 Mitglieder, wobei der jeweils zweite Kommissar der großen Staaten wegfällt, zweitens eine kompliziert aussehende, aber doch sehr sinnvolle Abstufung im Verfahren bei Abstimmungen im Rat, eine so genannte dreifache Mehrheit: Zunächst muss die Mehrheit der Staaten zustimmen, dann müssen 71 Prozent der Stimmen, die die Staaten jeweils haben, also eine Gewichtung ähnlich der im Bundesrat, für eine qualifizierte Mehrheit sein, und außerdem müssen hinter den Stimmen und hinter den Staaten 62 Prozent der Bevölkerung stehen.

Im Klartext, weder die kleinen Staaten, die ja in der Zahl mehr werden, noch die großen Staaten können sich gegenseitig überstimmen, es muss eine Balance zwischen beiden Seiten gefunden werden. Das ist auch der Sinn dieses Gremiums, insofern finde ich die Regelung zwar auf den ersten Blick kompliziert, aber im Grundsatz richtig.

Drittens aber, und das ist jetzt der kritische Punkt, der Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit, hier ist nur ein kleiner Schritt gemacht worden, wo hier gerade ein sehr großer Schritt am dringendsten notwendig gewesen wäre, um tatsächlich die jetzt bestehenden Vetomöglichkeiten aufzuheben, was einen Fortschritt in vielen Fragen gebracht hätte. Denken Sie an die Steuerfrage, die über Jahre hinweg ohne Ergebnis diskutiert worden ist!

Hier war das Bremserhäuschen leider voll besetzt. Jeder hat großzügig erklärt, jawohl, das Veto muss fallen, aber bitte bloß nicht dort, wo es mir gerade besonders am wichtigsten ist. Da konnte es leider keinen wirklichen Fortschritt geben, da ist tatsächlich die Konferenz von Nizza einem Misserfolg am nächsten gekommen. Gut, man kann sich trösten, die Richtung stimmt noch, nur das Tempo ist sehr, sehr langsam gewesen.

Zur Eingangsfrage, ob die Europäische Union damit fit ist, neue Mitglieder aufzunehmen! Na gut, ich glaube, an den Start gehen kann die Union, wie weit sie dann durchhält, wie lange die Puste reicht,

das muss sich dann tatsächlich nach dieser Regelung erst zeigen.

Zum zweiten Punkt, den Erwartungen der deutschen Länder, die ja auch Gegenstand der Großen Anfrage unserer Fraktion gewesen sind, über die wir heute debattieren! Da fällt auf, dass bei der Reaktion aus den deutschen Bundesländern der Punkt, den ich eben angesprochen habe und der in der kritischen Öffentlichkeit auch am kritischsten angemerkt worden ist, nämlich der Schneckengang bei den Mehrheitsentscheidungen, nun gerade die Zustimmung mancher Länderchefs, vor allen Dingen von Herrn Stoiber, voll und ganz gefunden hat. Aus seiner Sicht ist dies tatsächlich auch kein Misserfolg, sondern ein Erfolg, denn die deutschen Länder hatten sich, wie die Antwort des Senats zeigt, auch in das Bremserhäuschen dazu gedrängt, leider, und ich halte noch einmal fest, auch im direkten Gegensatz zu dem klaren Beschluss der Bürgerschaft vom Dezember letzten Jahres, als wir die Einstimmigkeit sehr eng gefasst haben, nur bezogen auf Fragen von Verfassungsrang und Steuerfragen. Eine Begründung für die Abweichung des Senats von dem eindeutigen Auftrag der Bürgerschaft haben wir übrigens nie bekommen.

Für die Länder haben zwei Dinge eine besondere Rolle gespielt, erstens die so genannte Daseinsvorsorge und die Kompetenzverteilung. Die Länder wollten, dass die Kommission im Grunde die Hände von allen Fragen der so genannten Daseinsvorsorge lassen sollte, das wollten sie auch in den Vertrag hineinbekommen. Das haben die Länder, hat die Bundesrepublik Deutschland nicht bekommen, und ich glaube, das werden sie auch nicht bekommen, denn die Kommission hat in einer sehr guten und ausführlichen Mitteilung inzwischen ja präzisiert und ist den Ländern auch insoweit entgegengekommen, welche Rechte dabei die Mitgliedstaaten haben, aber welche Kontrollrechte gleichzeitig die Kommission behalten muss, damit der faire Wettbewerb durch solche Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht gefährdet und nicht berührt ist. Das ist sehr ausgewogen und differenziert, und der Rat hat dies auch ausdrücklich in Nizza so festgestellt.

Wenn man genau hinsieht: Dem Fundamentalismus der Länder läuft die Wirklichkeit ja längst davon. Während der Senat die gegenwärtige Struktur von Landesbank und Sparkassen bis auf zwei Stellen hinter dem Komma noch verteidigt, hat die WestLB, also die führende Bank in dieser Beziehung, kürzlich angekündigt, sich teilen zu wollen in einen öffentlich-rechtlichen und in einen privaten Teil, der ganz normal zu behandeln ist, und der Sprecher der Sparkassen kündigt selbst den Abschied von der Vergangenheit an mit dem Satz: „Wir sind aus eigener Kraft stark am Markt, wir haben nicht, und wir brauchen keine Wettbewerbsvorteile.“ Na bitte, genau das ist auch das, was wir gesagt haben!

Ich schlage vor, das richtet sich auch an den Senat, Herr Dr. Scherf, wir sollten diese Fragen in Zukunft Punkt für Punkt behandeln, sachlich für jede einzelne Frage, die dort zur Debatte steht, und nicht mehr als die Frage von Sein oder Nichtsein für die Länder, denn das glaubt Ihnen in Europa, auch das hat der Gipfel gezeigt, nun wirklich niemand mehr.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Der dritte Punkt ist nun tatsächlich ein klarer Erfolg der deutschen Länder und auch der Bundesregierung in Nizza, den auch wir von Anfang an gewollt haben, den wir deswegen auch begrüßen, nämlich die Vereinbarung, dass 2004 eine weitere Regierungskonferenz stattfindet, auf der über die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta geredet wird, aber auch über die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen europäischen Gremien und Europa, den Ebenen Nationen und Regionen.

Nur, meine Damen und Herren, die Einhelligkeit der Länderposition wird nicht lange vorhalten. Das sieht man auch schon an der Antwort des Senats, wo auf die Frage, welche Position denn die Länder gemeinsam haben, wie das denn abgegrenzt werden soll, komplette Fehlanzeige ist. Das ist auch klar. Es wird eine Diskussion geben, die wird sehr spannend werden, die wird sehr offen werden, die einen wollen eine Konzentration, die wollen die Kompetenzen einschränken, beschränken, allen voran Herr Stoiber, da gibt es andere, die wollen damit einen Verfassungsprozess in Gang bringen, Dritte, die die Integration kräftig voranbringen wollen, wie die Kommission und das Europaparlament, also, wir werden wirklich eine große Debatte führen, und wir werden uns sicherlich daran beteiligen.

Ich möchte aber hier an dieser Stelle auch den Präsidenten des Senats heute schon auffordern, diese Diskussion nicht wie die vergangene schon von Anfang an mit Vetopositionen des Alles oder Nichts zu belasten und auch nicht, wie das Bayern jetzt schon gemacht hat, zu sagen, das muss geklärt sein, bevor der nächste Beitritt kommt, nein, diesen Fahrplan hat Nizza ausdrücklich abgelehnt. Wir wollen möglichst schon für 2004, dass neue Mitglieder dabei sind, und wir wollen im Laufe des Jahres 2004 diese neue Regierungskonferenz haben. Also bitte kein Veto und kein Junktim in dieser Frage!

Zunächst komme ich einmal zum Schluss! Ich habe wahrgenommen, dass kein Gipfel bisher so intensiv, sowohl öffentlich als vor allen Dingen auch in den politischen Gremien, auch in dieser Bürgerschaft, diskutiert worden ist, ob das die Kompetenzfrage ist, die Daseinsvorsorge, bis hin zur Charta der Grundrechte. Das finde ich eine ausgezeichnete Entwicklung, das sollten wir beibehalten. Streit kann da nicht schaden, sondern Streit wird gerade in den nächsten Jahren notwendig sein, damit wir in der schwierigen Phase des Ganges von der ökonomi

schen hin zur politischen Union einen weiteren Schritt vorankommen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Neumeyer.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Die Regierungskonferenz von Nizza hatte den Auftrag, entscheidende Weichenstellungen für die zukünftige Gestaltung in Europa vorzunehmen. Die Erweiterung der Europäischen Union um die beitritts- und reformwilligen Staaten in Ost- und Südosteuropa ist die Chance zur endgültigen Überwindung der Teilung unseres Kontinents. Deutschland wird mit der Osterweiterung in die geographische, aber auch in die politische Mitte der Europäischen Union rücken. Die Zeit für diese Zusammenführung Ost- und Westeuropas ist historisch gesehen günstig und bislang einmalig.

Haben nun die Staats- und Regierungschefs in Nizza die Zeichen der Zeit erkannt und als Chance angenommen, oder haben sie mit einer Addition nationalstaatlicher Egoismen ihren Auftrag zur Gestaltung einer Vision des zukünftigen Hauses Europa nicht entsprechend wahrgenommen? Die Ergebnisse des Gipfels sind, das ist durchgängige Meinung, eher als dürftig zu werten. Die notwendigen Voraussetzungen für die Erweiterung der Union sind mit den Beratungsergebnissen nicht ausreichend gegeben. Bestenfalls kann festgestellt werden, dass eine Osterweiterung mit diesem Gipfel weiter möglich ist. Befördert hat der Gipfel das Ziel nur sehr eingeschränkt.

(Beifall bei der CDU)

Wer mit dem Ergebnis zufrieden ist, dass es überhaupt noch die Möglichkeit der Erweiterung geben kann, der kann es mit Bundeskanzler Schröder halten und eine positive Bilanz ziehen. Wir hier in der Bremischen Bürgerschaft befinden uns aber nicht auf dem diplomatischen Parkett und können es uns durchaus erlauben, hier eine ernsthafte Betrachtung der Ergebnisse vorzunehmen. Da muss man eben feststellen, dass die Bilanz negativ ist.

(Beifall bei der CDU)

Einzige Ausnahme ist die Annahme der hier bereits, wie Herr Dr. Kuhn angesprochen hat, sehr intensiv diskutierten Grundrechtecharta, die dort behandelt wurde. Ansonsten ist Nizza nicht mehr als ein Minimalkonsens. Die Entscheidungen werden zukünftig noch intransparenter. Die Kompetenzen ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.