Im Übrigen nimmt die Bürgerschaft (Landtag) von der Antwort des Senats auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Kenntnis.
Gemäß Paragraf 29 unserer Geschäftsordnung hat der Senat die Möglichkeit, die Antwort auf die Große Anfrage der Bürgerschaft mündlich zu wiederholen. Ich glaube, wir gehen gemeinsam davon aus, dass darauf verzichtet werden kann, sodass wir in eine Aussprache eintreten können.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Bremen trauert und ist fassungslos über den Tod des kleinen Kevin. Die Ursachen seines sinnlosen Todes dürfen nicht tabuisiert werden, sondern müssen restlos aufgeklärt und Mängel im System abgestellt werden. Es kann nicht sein, dass ein in staatlicher Vormundschaft stehender Mensch offensichtlich Zeit seines jungen Lebens misshandelt wird und auf so tragische Weise umkommt. Wir erwarten eine rasche und lückenlose Aufklärung der Umstände und die Einleitung aller Konsequenzen für die Verantwortlichen.
Dort, wo Eltern versagen oder gar mit krimineller Energie ihren Kindern schaden, wird zu Recht erwartet, dass der Staat zur Stelle ist und die Kinder schützt. Dabei darf den Behörden die größtmögliche Aufmerksamkeit und Sorgfalt abverlangt werden. Andererseits sollten wir nicht verkennen: Wir sind darauf angewiesen, dass möglichst niemand wegschaut, möglichst viele Sicherungen bestehen, die bewirken, dass die zuständigen Behörden auf kritische Situationen aufmerksam werden und dann handeln können und auch handeln müssen.
Kevins Tod führt uns allen vor Augen, dass das Netz der öffentlichen Hand im Bereich der Jugendhilfe engmaschiger geknüpft werden muss. Widmen wir uns in Demut vor dieser Tragödie mitten in unserer Stadt und mit angemessener Sensibilität dem Thema Kinderarmut, auch wenn es nicht leichtfällt, gerade in diesen Stunden diese Debatte zu führen und es alles andere ist als eine routinemäßige Aufgabe, lassen Sie uns über das Thema Armut von Kindern und Jugendlichen sprechen, von Kindern, die mitten in unserer Stadt aufwachsen! ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.
Kinderarmut ist nicht nur ein materielles und finanzielles Problem, nein, oftmals sind Mängel in der medizinischen Versorgung, gesundheitliche Probleme sowie schlechtere Bildungschancen und soziale Ausgrenzung die Folge. Die CDU-Bürgerschaftsfraktion hat zu diesem Thema in den vergangenen Wochen eine Fachtagung mit Experten veranstaltet, und schon dabei wurde deutlich, dass die Schwierigkeit darin besteht, den sogenannten relativen Armutsbegriff abzugrenzen, der den Statistiken ja oft zugrunde liegt. Statistiken sind eben nur bedingt geeignet, sich mit dem Phänomen Kinderarmut auseinanderzusetzen.
In einer reichen Gesellschaft wie Deutschland, in einem Wohlfahrtsstaat, geht es nicht um die existenzielle Armut, das reine Überleben, wenn wir über Armut sprechen, sondern um das soziokulturelle Existenzminimum. Es geht um die Teilhabe am Leben, um gesellschaftliche Teilhabe. Zur Antwort des Senats auf die Große Anfrage der CDU-Fraktion Folgendes: In einer langen Einleitung hält sich das Sozialressort allein mit der Definitionsfrage auf, bevor man seitens des Sozialressorts zu dem Schluss kommt, es sei sehr schwierig, hier wohl zu schwierig, das vorhandene Datenmaterial aus unseren beiden Stadtgemeinden zu bündeln und eine kontinuierliche Berichtslage abzugeben.
Das konnte ich zunächst nicht glauben, als ich das las. Das ist für uns enttäuschend. Die Antwort des Sozialressorts wird in ihrem knappen Umfang der Fragestellung nicht gerecht. Ich sage es so, wie wir die Antwort empfunden haben: Wir sind enttäuscht und werden nicht lockerlassen, bis Sie auch das zweifelsfrei vorhandene Datenmaterial ausführlich bewerten. Was andere Kommunen seit langem schaffen, wird doch auch in Bremen und Bremerhaven machbar sein!
Die Kinderarmut hat in ganz Deutschland eine historische Dimension erreicht. Nach einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hat die Zahl der von Armut betroffenen Kinder eine Rekordzahl von 1,7 Millionen erreicht, im Bundesdurchschnitt sind das 14,2 Prozent, wir in Bremen liegen doppelt so hoch. Wir wissen, dass wir als städtische Ballungszentren Bremen und Bremerhaven einen erhöhten Sozialgeldbezug von unter Fünfzehnjährigen haben, nämlich über 28 Prozent, das heißt jedes vierte Kind. In der Seestadt sind es sogar 38,4 Prozent. Das ist das Dramatische an der Lage, das in einem solchen Bericht nicht deutlich wird. Wir fragen uns, warum!
Meine Damen und Herren, zahlreiche Studien belegen es: Die Ursachen der Kinderarmut liegen oftmals im familiären Hintergrund. So sind beispielsweise Kinder von Alleinerziehenden häufiger betroffen als jene, die von beiden Elternteilen versorgt werden; hinzu kommen die jeweilige Arbeitsmarktsituation sowie der Migrationshintergrund. Seit Mitte der neunziger Jahre sind Kinder in nicht deutschen Haushalten stärker von Armut betroffen als Kinder in deutschen Haushalten. Dieses Phänomen und damit das
Problem der Kinderarmut zeichnet sich in Bremen auch in der Zusammensetzung der Bevölkerung in den Stadtteilen deutlich ab.
Wir müssen die Instrumente der Familienförderung ohne ideologische Präferenzen überprüfen und ein einheitliches, ineinandergreifendes System aufbauen. Aufgabe von Politik und Gesellschaft muss es sein, den Kindern auch und gerade aus einkommensarmen Familien eine Zukunftsperspektive zu geben. Die Einführung des von der Bundesregierung eingeführten Elterngelds ist hierbei ein Baustein, denn es gilt gerade hier, für gering verdienende Familien einen Ausgleich zu schaffen, und das kommt auch dann den Kindern zugute. Ich erinnere daran, dass aber neben dem Elterngeld flexible und vielfältige Kinderbetreuungsmöglichkeiten geschaffen werden müssen. Hier haben wir in Bremen und Bremerhaven beim Ausbau der Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen noch eine lange Wegstrecke vor uns, die aber zügig zurückgelegt werden muss.
Kinder unter sieben Jahren sind in deutlich überproportionaler Häufigkeit auf Mindestsicherungsleistungen angewiesen, das ist das Dramatische. Gleichzeitig werden gerade in dieser Zeit die Grundlagen des Lebens- und Bildungsweges des Kindes geprägt. Kinder mit erhöhtem Armutsrisiko haben häufiger als nicht arme Kinder gesundheitliche Probleme oder sind in ihrer körperlichen Entwicklung zurückgeblieben. Weitere Merkmale der Ausgrenzung armer Kinder können unregelmäßige Arztbesuche, mangelnde körperliche Pflege, Auffälligkeiten im Spiel- und Sprachverhalten oder geringere Teilnahme am Gruppengeschehen sein. Armut hat viele Gesichter, Gesichter, die beim genauen Hinschauen erkennbar werden. Defizite in der Essensversorgung produzieren Übergewicht oder andere Ernährungsstörungen, auch Zahnkrankheiten.
Armut zieht sich in den preisgünstigen Wohnraum zurück. Das führt zu weiteren Problemlagen in unseren benachteiligten Wohnquartieren. Kinder mit sogenannten schlechten Adressen haben aus Schamgefühl weniger soziale Kontakte. Verstärkt wird dies, wenn bildungsferne Eltern häufig auch emotionale Defizite haben, die ein vermindertes Selbstwertgefühl bei den Kindern erzeugen.
Bildungs- und Lebenschancen können durch andauernden Geldmangel oder auch durch Suchtproblematiken in der Familie und Geldverschwendung an falscher Stelle nicht genutzt werden. Kinder und Jugendliche aus armen Elternhäusern, auch das ist ein Gesicht der Armut, kennen praktisch keine fernen Länder. Sie nehmen selten an Schüleraustauschprogrammen teil, sie verfügen über wenig Erfahrung mit Ausflügen, Reisen, Sprachen und fremden Kulturen. Ihnen fehlen für eine wissensorientierte Gesellschaft die elementarsten Voraussetzungen. Wohlstand und Bildung sind fatalerweise weitgehend deckungsgleiche Begriffe, wie wir den Schülervergleichsstudien entnehmen können.
Auch die Unterschiede, die das Leben von armen Kindern im Gegensatz zu Kindern aus nicht armen Familien ausmachen, sind nicht wirklich überraschend. Der größte Unterschied ist im materiellen Bereich festzustellen. Ausdruck der Mangellage ist zum Beispiel vor allem, kein eigenes Kinderzimmer zu haben, Einschränkungen bei der Kleidung oder beim Spielzeug hinnehmen zu müssen.
Wir können also feststellen, Armut schränkt Kinder und ihre Familien ein und grenzt sie sozial aus. Je länger Armut andauert, desto gravierender werden die Folgen für die Betroffenen und für uns alle, die Gesellschaft. Eines wird damit klar: Wir haben es mit einem sehr komplexen Thema zu tun, wenn wir über Kinderarmut reden. Allein deshalb ist es auch schlecht möglich, eine einfache Antwort zu finden. Die langsam, aber kontinuierlich entstandene Armutswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen braucht unser ernsthaftes politisches und gesellschaftliches Engagement.
Die CDU-Bürgerschaftsfraktion hielt es deshalb vor dem Hintergrund der Entwicklung und der zwingenden Sensibilisierung dieses gesellschaftlichen Schlüsselthemas für dringend geboten, Kinderarmut erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Insbesondere aus den Kindertagesstätten als Anlaufstelle Nummer eins erfahren wir es ständig, dort sind Kinder, die hungrig nach Hause gehen, Kinder, die freitags schon wissen, dass sie erst montags die nächste warme Mahlzeit bekommen. Hier sind die Eltern, die Hilfe brauchen und die an diesen Stellen nach Beratungsangeboten suchen. Deshalb ist es sinnvoll, dass wir die Kindertagesstätten zu Familienzentren erweitern.
Es gibt viele Initiativen in dieser Stadt, insbesondere auch seitens des Kinderschutzbundes, mit dem sogenannten eckigen Tisch. Sie kennen die runden Tische aus dem Bereich Bildung. Wir begrüßen diesen eckigen Tisch, es ist der Versuch, ein gesamtgesellschaftliches Engagement und den Bürgersinn in dieser Stadt zu nutzen, um dem Thema Kinderarmut gerecht zu werden. Auch die Bremer Bürgerstiftung hat dabei eine wichtige Rolle. Wir unterstützen dies ausdrücklich.
Die Arbeit in unseren WiN-Gebieten ist so wichtig, aber auch in unseren Häusern der Familie, den Mütterzentren, den Kindertagesheimen, den Schulen, den Wohlfahrtsverbänden sowie den vielen anderen Institutionen, um alle aufzuzählen fehlt mir leider die Zeit. Wir brauchen eine Vernetzung all dieser engagierten Menschen. Das Umdenken muss in unseren Köpfen stattfinden. Der Tod von Kevin mahnt uns: Das darf es in dieser Stadt nie wieder geben!
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich persönlich sehr, auch wenn aus Kommunikationsproblemen wir die Anfrage nicht mit unterschrieben hatten, weil wir sie eigentlich noch etwas ausweiten wollten, dass wir dieses wichtige Thema hier auf Initiative der CDU diskutieren.
Gleichwohl muss man, ohne hier jetzt eine besondere Schärfe hineinbringen zu wollen, noch einmal einige Sachen ein bisschen anders diskutieren, glaube ich. Dass keine Daten vorhanden beziehungsweise nicht vernünftig aufbereitet sind, das liegt nicht unbedingt nur am Senat. Es gab in der vorigen Legislaturperiode ausgehend von einer Großen Anfrage, die damals Mario Käse und Uta Kummer formuliert und eingebracht hatten, eine Debatte darüber, ob wir nicht einen Armuts- und Reichtumsbericht für diese Stadt erstellen sollten, differenziert nach unterschiedlichen Sachthemen. Die Grünen hatten das dann aufgegriffen, wie sie das immer schnell machen, wenn wir gute Initiativen bringen. Dass die Grünen hinterher einen entsprechenden Antrag stellten, dass man das einmal einrichten sollte, war ja gar nicht falsch. Er wurde allerdings nicht beschlossen. Es ist nicht an den Stimmen der SPD gescheitert, dass wir das nicht hatten.
Wir müssen aufpassen, dass wir den Worten, die wir hier sprechen, versuchen möglichst Taten folgen zu lassen. Ich gebe Ihnen in vielen Punkten, Herr Bartels, auch wirklich recht.
(Beifall bei der SPD – Abg. I m h o f f [CDU]: Das Schwarzer-Peter-Spiel ist jetzt nicht ge- fragt!)
Kinderarmut ist ein sehr bedrückendes Problem. Es hat gravierende Auswirkungen auf das Zusammenleben hier in der Stadt, wenn man sich die Dimensionen anschaut. Hinter Kinderarmut stecken ja nicht nur Kinder, sondern es gibt ja auch noch Erwachsene, die arm sind. Es ist sozusagen ein abgeleitetes Problem. Wir haben es inzwischen mit Spaltungsprozessen in dieser Stadt zu tun. Wir merken es immer deutlicher in einzelnen Stadtteilen, dass da mehr zusammenbricht, und das kann keiner von uns hier wollen. Ich unterstelle jedem hier, dass keiner das will, dass solche Prozesse zunehmen. Wir müssen uns in der Tat ganz ernsthaft fragen, wie wir dagegen angehen können.
Es ist schon dargelegt worden, das will ich jetzt gar nicht weiter ausführen, dass Armut nicht eindeutig definierbar ist, aber sehr mit der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zusammenhängt,
und dass sie sich keineswegs nur auf materielle Aspekte beschränkt. Man kann nicht alles nur mit Geld heilen, da muss man vorsichtig sein, obwohl Geld auch immer dabei ist.
Obwohl wir keine exakten Daten im Moment haben, wissen wir, dass die Dimensionen inzwischen richtig erschreckend sind. Es gibt Stadtteile in dieser Stadt, in denen 50 Prozent aller Schulkinder von ALG-II-Bezug abhängig sind, nur um einmal die Dimension aufzuzeigen. Da merkt man schon, dass es auch mit Geld zusammenhängt. Es geht um einen Regelsatz von 207 Euro für ein dreizehnjähriges Kind, und davon müssen alle, aber restlos alle Ausgaben für dieses Kind bestritten werden. Rechnet man 207 Euro auf den Tag um, dann sind es keine 7 Euro, die ein Kind am Tag für Essen, Trinken, Kleidung, Schuhe, Freizeit und so weiter zur Verfügung hat. Jeder, der Kinder hat, weiß, wie schnell Geld in diesem Zusammenhang ausgegeben ist, allein, weil die Kinder wachsen und die Kleidung passen muss.
Insofern ist es, glaube ich, so, dass wir, dazu komme ich gleich noch einmal, auch die Ursachen etwas genauer benennen müssen und dann uns selbstkritisch hinterfragen – das machen nicht wir hier in Bremen, dafür sind wir Gott sei Dank nicht zuständig –, wie in Berlin teilweise über die Frage ALG-IIBezug diskutiert wird und wer da immer wieder neu auf irgendwelche Sparorgien kommt, weil die alle ja angeblich faul wären. Manche meinten, man könne den Bezug weiter kürzen, denn die haben es sowieso nicht verdient, so in diese Richtung.
Ich will hier jetzt versuchen, weil ich glaube, dass es in der Tat ein vielschichtiges Problem ist, Ursachen noch einmal zu benennen, an die man herangehen muss. Es gibt meines Erachtens drei große Ursachen: Das ist Arbeitslosigkeit, das ist ganz häufig der Beginn von Armutsprozessen. Eine zweite Ursache sind familiäre Probleme im weitesten Sinne, häufig Scheidung der Eltern. Der Vater setzt sich ab, die Mutter steht allein mit den Kindern da. Wenn die Kinder noch klein sind, ist es schwierig zu arbeiten, und schon ist man im ALG-II-Bezug.
Eine weitere Ursache will ich hier auch nicht verschweigen. Wir müssen da im Übrigen aufpassen, dass wir nicht zu heucheln anfangen. Es ist in der Zwischenzeit so, dass Menschen, obwohl sie acht Stunden arbeiten, keine Löhne mehr nach Hause bringen, die armutsfest sind, von denen man ohne Armut leben kann.
Die Zahl derjenigen, die zusätzlich, obwohl sie acht Stunden am Tag arbeiten, ALG II beziehen, wächst ständig. Vor diesem Hintergrund habe ich überhaupt kein Verständnis dafür, wie man auf Bundesebene
dazu kommen kann zu sagen: Mindestlöhne führen wir nicht ein, das halten wir für wirtschaftsschädlich.
Wir müssen uns auch dazu bekennen: Jeder, der acht Stunden arbeitet, muss davon leben können. Wenn er freiwillig meint, er muss nur vier Stunden arbeiten und kann davon nicht leben, dann ist das ein anderes Problem. Wer aber acht Stunden arbeitet, der muss davon leben können, und zwar auch mit seiner Familie. Für solche Löhne müssen wir sorgen.