Protokoll der Sitzung vom 27.05.2009

Hinsichtlich der Abwicklung der Tagesordnung wurde vereinbart, dass die Sitzung der Bürgerschaft (Landtag) heute Vormittag mit der Aktuellen Stunde beginnt und im Anschluss daran der Punkt außerhalb der Tagesordnung, Grundgesetzänderung zum Neuverschuldungsverbot nicht unterzeichnen!, Drucksache 17/792, aufgerufen wird.

Zu Beginn der Sitzung der Bürgerschaft (Landtag) heute Nachmittag werden die miteinander verbundenen Tagesordnungspunkte 5 und 16, Gesetz zur Änderung schulrechtlicher Bestimmungen, und danach der Punkt außerhalb der Tagesordnung, Eigeninitiative und Eigenverantwortung von Kindern und Jugendlichen stärken, Chancengerechtigkeit schaffen, Drucksache 17/781, behandelt.

Die Sitzung der Bürgerschaft (Landtag) am Donnerstagvormittag beginnt mit der Fragestunde, und zu Beginn der Sitzung am Donnerstagnachmittag wird der Punkt außerhalb der Tagesordnung, Heimgesetz jetzt vorlegen!, Drucksache 17/782, aufgerufen.

Wird das Wort zu den interfraktionellen Absprachen gewünscht?

Ich sehe, dass ist nicht der Fall.

Wer mit den interfraktionellen Absprachen einverstanden ist, den bitte ich um das Handzeichen!

Ich bitte um die Gegenprobe!

Stimmenthaltungen?

Ich stelle fest, die Bürgerschaft (Landtag) ist mit den interfraktionellen Absprachen einverstanden.

(Einstimmig)

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Ihnen mitteilen, dass die CDU-Fraktion einen neuen Fraktionsvorstand gewählt hat. Fraktionsvorsitzender ist der Abgeordnete Thomas Röwekamp, und

stellvertretende Fraktionsvorsitzende sind die Abgeordneten Dr. Rita Mohr-Lüllmann und Heiko Strohmann. Die Fraktion der SPD hat auch einen neuen Fraktionsvorstand gewählt. Fraktionsvorsitzender ist der Abgeordnete Dr. Carsten Sieling, und stellvertretende Fraktionsvorsitzende sind die Abgeordneten Birgit Busch und Martin Günthner. Allen einen herzlichen Glückwunsch!

(Beifall)

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Aktuelle Stunde

Meine Damen und Herren, für die Aktuelle Stunde ist von der Abgeordneten Frau Troedel und Fraktion DIE LINKE folgendes Thema beantragt worden:

Die neueste Steuerschätzung und ihre Auswirkungen – Bremen vor dem Ruin?

Dazu als Vertreterin des Senats Frau Bürgermeisterin Linnert.

Die Beratung ist eröffnet.

Als erster Redner hat das Wort der Abgeordnete Rupp.

Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Zahlen, die die letzte Steuerschätzung für Bremen hervorgebracht hat, sind ja gemeinhin bekannt: dieses Jahr 157 Millionen Euro, nächstes Jahr 349 Millionen Euro und übernächstes Jahr 396 Millionen Euro weniger Einnahmen. Ich habe mich gefragt, ob es allein die Einnahmeverluste sind, die uns Ärger machen, und mir die Frage gestellt, wie sich eigentlich ein möglicher Haushalt Bremens von heute bis 2020, insbesondere vor der Möglichkeit, dass wir, um die Zinsbeihilfen zu bekommen, sehr strenge Sanierungsauflagen erfüllen müssen, entwickelt.

Ich habe Ihnen einmal, damit das nicht auf der Ebene der wörtlichen Rede bleibt, ein kleines Blatt ausgedruckt, wo ich versucht habe, die unterschiedlichen Szenarien, die sich daraus ergeben, darzustellen, weil es nicht einfach ist, mit diesen Zahlen immer so umzugehen. Ich werde versuchen zu beweisen, dass diese Projektion deutlich macht, dass die Frage, ob Bremen vor einem Ruin steht, aus der Luft gegriffen ist. Unserer Meinung nach sind wir in einer Lage, in der es ausgesprochen schwierig ist, 2020 noch ein Gemeinwesen zu haben, wie wir es heute kennen.

Ich habe die Eckwerte der Finanzsenatorin vom Januar dieses Jahres als Grundlage genommen und ha––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

be versucht, bis 2020 hochzurechnen unter folgenden Annahmen:

Die erste Annahme: Die durchschnittlichen Zinsen auf unsere Schulden bleiben bei ungefähr 4,4 Prozent. Mit Chance wird es ein bisschen weniger, möglicherweise auch mehr, wir wissen es nicht so genau.

Ich habe auch zwei verschiedene Projektionen gemacht, einmal eine Projektion ohne Zinsbeihilfen und einmal eine Projektion mit Zinsbeihilfen. Ob wir die 300 Millionen Euro auch wirklich zehn Jahre lang erhalten, hängt ja wahrscheinlich davon ab, inwieweit wir uns innerhalb der noch zu treffenden Verwaltungsvereinbarung bewegen.

Ich habe eine dritte Annahme getroffen, und die ist vergleichsweise waghalsig. Ich habe gesagt, wir werden ab 2012, wenn die Einnahmeverluste von diesem, dem nächsten und dem übernächstem Jahr weg sind, wieder zwei Prozent Mehreinnahmen haben. Wie gesagt, ich halte das für begrenzt waghalsig, denn es ist so, dass ungefähr 40 Prozent der Mindereinnahmen, die wir in diesem, nächstem und in dem übernächsten Jahr haben, nicht unmittelbar konjunkturbedingt sind, sondern sie sind Folge von langfristigen Steuersenkungen auf Bundesebene, und deswegen werden sich diese Einnahmeverluste mit großer Wahrscheinlichkeit in der Größenordnung von 70 bis 100 Millionen Euro auch noch bis in die Folgejahre, also bis nach 2011, fortsetzen.

Aber nehmen wir einmal an, das läuft alles wunderbar, und ab 2012 haben wir richtig gute Karten, und die Einnahmen in Bremen steigen wieder um zwei Prozent. Dann stellt sich die Frage, was man dann tun muss, um 2020 einen ausgeglichenen Haushalt zu haben. Das ist ja unser Ziel. Das heißt, keine Neuverschuldung mehr, und wenn man dieses Ziel unter den vorgenannten Bedingungen erreichen will, dann ist man unglücklicherweise gezwungen, den primären Teil des Haushaltes um circa ein Prozent jährlich zu kürzen, sonst geht es nicht, sonst haben wir 2020 immer noch ein Defizit im Haushalt, wären immer noch zu Neuverschuldung gezwungen.

Der Unterschied ist gar nicht so groß. Mit Zinsbeihilfen haben wir 2020 dann ungefähr einen ausgeglichenen Haushalt, ohne Zinsbeihilfen haben wir noch eine Differenz von ungefähr 110 Millionen Euro. Also sind wir gezwungen, zehn Prozent zu kürzen, und wenn man diese zehn Prozent nimmt, kommt ungefähr 2020 eine Ebene von etwa 90 Prozent heraus. Wie Sie sehen, haben wir dieses Jahr ungefähr 3,5 Milliarden Euro Primärausgaben, und 2020 sind es rund drei Milliarden. Das sind rund zehn Prozent. Das Blöde ist, dass wir alle wissen, es gibt so etwas wie Inflation, es gibt so etwas wie Tarifsteigerungen, das heißt, wenn man ein reales Bild haben will, wie viel Geld wir 2020 unter diesen Bedingungen noch zur Verfügung haben, ist man unglücklicherweise gezwungen einzurechnen, dass es Tarifsteigerungen und Inflation gibt. Ich habe das einmal mit zwei Prozent

angenommen über die Zeit, damit man ein ungefähres Maß hat. Wenn man das annimmt, dann haben wir 2020 noch ein Ausgabenniveau von der Kaufkraft her von ungefähr 72 Prozent oder meinetwegen auch 75 Prozent dessen, was wir heute haben.

(Zuruf des Abg. D r. B u h l e r t [FDP])

Ist es Ihnen zu schnell, soll ich es noch einmal langsamer vortragen? Ich will nur auf die Dramatik aufmerksam machen. Jetzt kommt es auf den Punkt. Wir wissen alle, wir haben ungefähr fünf Prozent freie Spitze in diesem Haushalt, vielleicht sind es auch einmal sechs oder sieben Prozent. Wenn wir gezwungen sind, in den nächsten zehn Jahren den konsumtiven Teil des Haushaltes auf ungefähr 72 oder 75 Prozent des heutigen Standes real abzusenken, dann, meine Damen und Herren, finde ich das einen Ruin auf Raten!

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe es einmal weitergerechnet, wenn Sie 72 Prozent im Jahr 2020 nehmen, das sind statt im Moment ungefähr 1,1 Milliarden Euro Personalausgaben nur noch 790 Millionen Euro. Das heißt, wenn man die Personalausgaben auf 72 Prozent senken will, muss man ungefähr jeden vierten Arbeitsplatz im öffentlichen Bereich streichen und die investiven Mittel von 437 Millionen Euro auf 314 Millionen Euro senken. In welchem Zustand sind denn unsere Straßen, unsere Krankenhäuser und unsere Kanalisation, und wem gehört das alles noch? Wir haben ungefähr 1,8 Milliarden Euro sonstige konsumtive Ausgaben, das dürfen dann nur noch 1,3 Milliarden Euro sein. Haben wir dann noch ein Theater? Wie geht es den Vereinen in Bremen? All diese Fragen muss man sich zum heutigen Zeitpunkt stellen, und Sie wissen wie ich, dass das so nicht funktionieren kann. Sie wissen, dass das weit unterhalb der Grenze dessen ist, was wir an gesetzlichen und vertraglichen Aufgaben haben. Sie wissen, dass die freie Spitze – wie schon gesagt – ungefähr fünf Prozent beträgt. Die spannende Frage ist: Was ist zu tun? Wenn es nach der FDP ginge, würden wir wahrscheinlich zunächst alles verkaufen, was wir haben. Richtig?

(Abg. W o l t e m a t h [FDP]: Ja!)

Die Krankenhäuser, die BSAG, die Gewoba, vielleicht auch das Kanalisationsnetz, vielleicht die Universität, vielleicht einige Schulen! Dann gibt es vielleicht noch einige mehr oder weniger profitable PPP-Projekte oder Cross-Boarder-Leasing. Ich bin sicher, dass die Kollegen, wenn sie gleich in die Bütt kommen oder an das Rednerpult, Verzeihung – –!

(Abg. D r. B u h l e r t [FDP]: Wir reden nicht in der Bütt, wir reden in der Bürger- schaft!)

Genau! Sie reden zur Bürgerschaft. Ich bin relativ sicher, wenn die FDP gleich hier zur Bürgerschaft redet, wird sie uns genau vorrechnen, wie man aus dieser Falle herauskommt.

Meines Erachtens gibt es einfach keinen anderen Weg, als drei Dinge zu tun.

Erstens: Man darf eben gerade nicht dem Neuverschuldungsverbot und dem damit verbundenen Sanierungsweg zustimmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens ist dies dringend erforderlich, weil einfach die Geschäftsgrundlage weg ist. Diese Steuerschätzung besagt, dass die Geschäftsgrundlage für diesen Kompromiss in der Föderalismusreform einfach weg ist. Die Einnahmen werden sich in einem solchen Maß schlecht entwickeln, dass man darüber anders reden muss, dass man diesen Kompromiss keinesfalls aufrechterhalten muss. Das heißt, wir werden dringend die Bund-Länder-Finanzen neu ordnen müssen, vor allen Dingen unter dem Gesichtspunkt, dass diejenigen, die die Musik bestellen, sie eigentlich auch bezahlen müssen, weil es doch jedem klar ist: Wir haben Mehrausgaben, die wir nicht beeinflussen können, die vom Bund kommen. Wir haben Mindereinnahmen, die wir nicht beeinflussen, die vom Bund kommen. Also ist es nachgerade zwingend und logisch, dass man angesichts einer perspektivisch überhaupt nicht auskömmlichen Finanzierung von Ländern und Gemeinden die Bund-Länder-Finanzen neu ordnen muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Letztendlich brauchen wir eine Verbesserung der Einnahmesituation. Wenn wir dieses Land, auch dieses Bundesland, in der Weise behalten wollen, wie wir es schätzen, dann wird es ohne entsprechende Steuergesetze, die die Einnahmeseite verbessern, überhaupt nicht gehen, oder ich irre mich, es gibt längst bessere Lösungen, und ich habe mich so gründlich verrechnet, dass das, was ich ausgerechnet habe, gar nicht wahr ist. Ich würde wünschen, es wäre so, und in Wirklichkeit sähe alles viel besser aus. Ich glaube, es ist nicht so.

Ich komme zum Schluss: Vielleicht gelingt es in diesem Fall an dieser Stelle einmal, von neusprachlichen Durchhalteparolen, wie „wir müssen kreativ sparen“ oder „ wir brauchen keine Schlankheitskur, sondern eine Fitnesskur“, abzusehen. Vielleicht geht es so, dass wir uns diese Zahlen anschauen und dass meine Nachrednerinnen und Nachredner genau sagen, wo sie sparen wollen, an welchen Stellschrauben sie drehen wollen, um den Sanierungspfad einzuhalten und um einen schleichenden Ruin Bremens zu verhindern. Meine Bitte ist, nennen Sie einfach

Zahlen, und verzichten Sie auf Theaterdonner! – Danke!

(Beifall bei der LINKEN)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Kummer.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Rupp, Bremen steht nicht vor dem Ruin! Wenn dem so wäre, müsste die gesamte Weltwirtschaft und jedes Gemeinwesen in Deutschland vor dem Ruin stehen, und im Moment ist es noch nicht so weit. Auch wenn Sie das mit Ihrer Tabelle passend rechnen und den Nachweis führen, dass Bremen 2020 vor dem Ruin steht, kenne ich die ganzen Tabellen auch andersherum. In dem Klageverfahren, das wir geführt haben, war die Rede davon, dass wir, wenn die Zinsen ordentlich niedrig sind und die Einnahmen sprudeln, 2015 saniert sind. Die Tabellen gibt es auch andersherum, und, Herr Rupp, wir sind beide Ingenieure, wir wissen, man kann alles passend rechnen, und der Glaube an die reine Zahl hilft uns an dieser Stelle überhaupt nicht weiter.

Niemand bestreitet die dramatische Lage, die schwierige Lage. Auch bestreitet niemand, dass die globale Krise ein finanziell eher armes Land jetzt härter trifft als die anderen. Sie haben übrigens absolut nichts zu den aktuellen Steuerschätzungen gesagt, auf die sich Ihre Aktuelle Stunde bezieht. Die Debatte über die Föderalismuskommission werden wir nachher anhand Ihres Antrags führen, deswegen ist mir auch nicht so ganz klar, worauf Sie mit Ihrer Aktuellen Stunde hinaus wollten. Schwarzmalerei bis hin zur Kapitulation helfen im Moment niemandem weiter, im Gegenteil: So etwas trägt nicht dazu bei, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die soziale Marktwirtschaft und in die Politik zu erhalten.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)