Ich eröffne die 44. Sitzung der Bürgerschaft (Landtag). Ich begrüße die hier anwesenden Damen und Herren sowie die Zuhörer und die Vertreter der Medien. Auf der Besuchertribüne begrüße ich recht herzlich eine Seniorengruppe der IG Metall. Seien Sie herzlich willkommen!
Die interfraktionellen Absprachen können Sie dem Umdruck der Tagesordnung mit Stand von heute, 9.00 Uhr, entnehmen. Nachträglich wurde interfraktionell vereinbart, bei Tagesordnungspunkt 16, Mitteilung des Senats über die vom Senat beschlossene Mitantragstellung zur Bundesratsinitiative „Entschließung des Bundesrates zur Neuordnung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes“, Antrag des Landes SchleswigHolstein, auf eine Aussprache zu verzichten. Wir treten in die Tagesordnung ein.
Dazu als Vertreter des Senats Herr Staatsrat Kück. Gemäß Paragraf 29 unserer Geschäftsordnung hat der Senat die Möglichkeit, die Antwort, Drucksache 18/818, auf die Große Anfrage in der Bürgerschaft mündlich zu wiederholen. Ich gehe davon aus, Herr Staatsrat Kück, dass Sie die Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU nicht mündlich wiederholen möchten. Ich frage, ob in eine Aussprache eingetreten werden soll. – Das ist der Fall. Die Aussprache ist eröffnet. Als erster Redner hat das Wort der Abgeordnete Dr. vom Bruch.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach wie vor ist die Situation an den Schulen in Bremen und Bremerhaven ausgesprochen unruhig. Mit den Stichworten Unterrichtsversorgung, Unterrichtsausfall und gerechte Bezahlung für unsere Lehrkräfte hat sich eine kri––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.
tische Lage ergeben, die insgesamt immer wieder einen gemeinsamen Tenor hat: Unzufriedenheit mit der Politik des Senats auf allen Feldern!
In den vergangenen Monaten hat der Senat versucht, mit Worten und unkonkreten Ankündigungen Politik zu machen, von „Schippe drauf“ war die Rede und von zusätzlichen Stellen. Was Sie dagegen geliefert haben, ist eine babylonische Sprachverwirrung um Zahlen, bei denen man zumindest zeitweise den Eindruck hatte, dass Sie selbst nicht mehr durchblicken. Nun lichtet sich zwar ein wenig der Zahlennebel, aber die „Schippe drauf“ entpuppt sich als reine „Luftnummer“ beziehungsweise als buchhalterischer Trick.
Herr Dr. Güldner, Gedröhne der Opposition? Mitnichten! Nein, es ist ein Zitat, eine Einschätzung des Bündnisses für Bildung, hoffentlich auch in Ihren Augen unverdächtig, von vornherein unserer Meinung zu sein.
Es ist schon mehr als fahrlässig, was da passiert, und die Schippe, die wir Ihnen mitgebracht haben, ist symbolisch durchaus mit Absicht die kleinste, die wir bekommen haben, meine Damen und Herren.
Herr Staatsrat, ich lege Ihnen die Schippe hier einmal hin, sie ist vielleicht auch als Mitbringsel für Herrn Bürgermeister Böhrnsen geeignet.
Ihre Rechenkünste und Ihr Verwirrspiel, einmal zwischen Bildungsressort und Finanzressort, dann zwischen Rot und Grün und dann auch zwischen Bremen und Bremerhaven waren in den vergangenen Monaten und Jahren dagegen eher ein Akt der Selbstüberlistung. Ihre Diskussionen könnten jemanden gelegentlich erheitern, wenn sie nicht in Wahrheit so traurig wären, denn Sie hatten nicht nur keinen Überblick über die Zahlen, wie zum Beispiel die peinliche Diskussion zwischen Herrn Frost und Herrn Paulenz gezeigt hat. Ihnen fehlt es an allem: an klarer Zielsetzung und Verlässlichkeit, so ist zum Beispiel auch die Debatte „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ um die Ganztagsschulen ein tatkräftiger Beweis Ihrer Unzuverlässigkeit in Bildungsfragen.
Aber nicht nur die Situation ist kritikwürdig, auch Ihre Art und Weise des Umgangs damit folgt immer dem gleichen fatalen Muster: bestreiten, relativieren,
einräumen, nachbessern, hilfsweise verwirren. Genauso war es beim Stichwort Unterrichtsausfall. Ihre ersten Einlassungen gibt es eigentlich gar nicht, Ihre jetzigen Verlautbarungen klingen da schon ein wenig anders: Ja, das ist wohl ein Problem, dessen müssen wir uns notgedrungen annehmen. Wenn nichts mehr half, haben Sie treuherzig auf die demografische Rendite verwiesen. Für die, die nichts damit anzufangen wissen: Das ist so eine Art bildungspolitisches Ungeheuer von Loch Ness. Sie haben immer wieder behauptet, das gibt es wirklich, wir haben es auch schon gesehen, irgendwann taucht es wirklich auf.
(Abg. D r. G ü l d n e r [Bündnis 90/Die Grünen]: Schauen Sie sich einfach einmal die Schülerzahlen an!)
In Wirklichkeit ist es ein Phantom, ein Fantasieprodukt kreativer Legendenbildung, am ehesten wahrscheinlich aus dem Finanzressort, Herr Dr. Güldner!
Zumindest wird die demografische Rendite längerfristig keine Wirkung für Bremen und Bremerhaven entfalten, wie wir es Ihnen immer vorausgesagt haben. Auch Sie haben das jetzt wohl irgendwie realisiert, so heißt es in einem einleitenden Satz einer Presseerklärung der SPD-Fraktion zur Baupolitik vom 26. Mai dieses Jahres doch bezeichnenderweise: „Bremen und Bremerhaven gewinnen an Einwohnerinnen und Einwohnern.“ Konsequenzen für die Baupolitik vielleicht, Herr Dr. Kuhn!
Konsequenzen für die Baupolitik vielleicht, für die Bildungspolitik sind Ihre Konsequenzen nicht erkennbar!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Redner Dr. vom Bruch hat das Wort! Fahren Sie bitte in Ihren Ausführungen fort, und ich bitte Sie, auch zuzuhören!
(Abg. D r. K u h n [Bündnis 90/Die Grü- nen]: An die Tatsachen müssen Sie sich schon halten! – Abg. R ö w e k a m p [CDU]: Ja, alle müssen sich an die Tatsachen halten, auch die Grünen!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist der letzte Tag vor den Sommerferien, das bekommen wir auch noch hin! Bitte, Herr Dr. vom Bruch, fahren Sie fort!
(Abg. R ö w e k a m p [CDU]: Irgendetwas muss bei den Grünen in den Fraktionssit- zungen morgens passieren, dass sie so ner- vös sind! Was ist bei Ihnen los? – Glocke)
Meine Damen und Herren, hoher oder zumindest zu hoher Unterrichtsausfall ist davon ein Teilproblem, eine Folge unzureichender Ressourcenvorsorge an den Schulen, insbesondere auch, weil Sie beharrlich nicht die Konsequenzen aus veränderten Verhältnissen und Bedarfen ziehen, und insbesondere natürlich auch aus Ihren eigenen Reformvorhaben.
Schule von heute ist anders und erfordert andere Berechnungen, und das ist Fakt. Inklusion, Integration, Ganztagsschule, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, verändertes Schülerverhalten und soziale Fragen, insbesondere in Brennpunkten, brauchen ein Mehr und ein Anders. Es stellen sich auch an die Lehrkräfte ganz andere Anforderungen durch unzureichende Personalausstattung, die nicht selten als Überforderung erlebt wird. Ein Teil von Absentismus und Unterrichtsausfall hängt konkret damit zusammen. Sie tragen nicht nur vordergründig für den Schulbetrieb, sondern auch für die Beschäftigten an den Schulen Verantwortung.
Immerhin scheinen unsere Appelle und die öffentliche Aufmerksamkeit, die das Thema gewonnen hat, nicht völlig wirkungslos gewesen zu sein. In den Entwürfen für den Haushalt lassen sich zumindest tendenziell Reaktionen erkennen, die in den weiteren parlamentarischen Haushaltsberatungen sicher noch im Einzelnen zu überprüfen sein werden. Unsere erste Einschätzung: mehr Sensibilität ja, aber konsequente Politik und Schwerpunktsetzung allerdings sehen nach wie vor anders aus.
Worum geht im Einzelnen? Erstens: Wir sind der Überzeugung, dass es zu viel ist, wenn circa acht Prozent des Unterrichts nicht regulär stattfinden, und bei dieser Bewertung legen wir schon Ihre Zahlen zugrunde. Gehen Sie einmal an die Schulen, dort wird Ihnen von der realen Lage noch ein ganz anderes Bild vermittelt! Da reichen bürokratische Argumente und Verweise, dies sei in anderen Bundesländern auch nicht besser, nicht mehr aus. Guter Unterricht setzt Kontinuität voraus, und deshalb ist unsere Forderung, Unterrichtsausfall zu reduzieren, ein wichtiger Teil und eine Teilforderung unserer Forderung nach mehr Qualität an den Schulen.
Vielleicht ist ja eine Reduzierung des Unterrichtsausfalls auch einmal eine Möglichkeit, besser zu sein als andere Bundesländer.
Zweitens: Sie relativieren faktischen Unterrichtsausfall immer wieder mit dem Hinweis, dass ein Teil durch Vertretungen aufgefangen würde. Dabei wird aber eher vorsichtig darauf hingewiesen, dass dies zu einem guten Teil durch Mehrarbeit anderer Kollegen an den Schulen realisiert wird. Das ist für uns keine Strategie.
Wir erwarten eine Bekämpfung von Unterrichtsausfall durch in der Regel zusätzliche Kräfte und nicht durch eine Verteilung des Mangels auf die gesamte Schule. Wir erwarten von Ihnen auf der Grundlage einer schnell vorzulegenden Zuweisungsrichtlinie eine auskömmliche Bedarfsdeckung. Sie haben durch die sogenannte Verordnung für unterstützende Pädagogik im Bereich der Inklusion und durch die Ganztagsschulverordnung ja schon einmal beschlossen, was diejenigen machen sollen, von denen wir zum Teil gar nicht wissen, ob sie zukünftig an den Schulen auch wirklich verfügbar sind.
Über Schulsozialarbeiter haben wir ja am letzten Dienstag gesprochen. In diesem Zusammenhang erwarten wir von Ihnen eine verbindliche Aussage und Dimensionierung einer zusätzlichen Vertretungsreserve, die sich an den Erfahrungen der vergangenen Jahre zu bemessen hat.
Drittens: Haben Sie sich in den vergangenen Wochen einmal mit Eltern unterhalten? Zwischen Feier- und Brückentagen, zwischen Personalversammlungen und Abiturprüfungen, zwischen Elternsprechtagen, Fortbildungen und Klassenfahrten findet gefühlt über ganze Wochen kaum Unterricht statt, obwohl keine Ferien sind. Es wird nach wie vor zu großzügig mit Zeit umgegangen, und es ist ein Teil der durch diese Debatte offenkundig gewordenen Mängel, dass insbesondere durch schulische Aktivitäten außerhalb des eigentlichen Unterrichts circa ein Drittel des Unterrichtsausfalls verursacht wird. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie durch eine Verbesserung der Organisation an den Schulen dieses Drittel deutlich reduzieren!
Viertens: Eine Zahl in der Beantwortung der Großen Anfrage hat mich besonders erschreckt: In Bremen und Bremerhaven sind über 100 Lehrkräfte langzeiterkrankt. Dies ist nicht nur schlimm für die Betroffenen, es ist schlimm für die Unterrichtsversorgung und die von Ihnen gepriesene Vertretungsreserve, die damit schon zu einem guten Teil aufgebraucht sein dürfte. Dahinter steckt ein Alarmsignal, das darauf hindeutet, dass es im Kern auf die eigentlichen Anliegen unserer Großen Anfrage ankommt, sich nämlich mit den Ursachen von Unterrichtsausfall und damit mit dem Arbeitsplatz Klassenzimmer zu beschäftigen.
Sie wollen Langzeiterkrankte in den Unterrichtsbetrieb zurückführen, genauer gesagt exakt 43 Lehrkräfte – eine eigenartig krumme Zahl übrigens, nur nebenbei bemerkt, angeblich eine gegriffene Zahl –, mit der eigentlichen Diskussion über die Hintergründe stehen wir dagegen allerdings erst am Anfang der Diskussion und nicht am Ende. Ursachenbekämpfung ist eben eine perspektivisch zu erfüllende Aufgabe. Mit dem Ergebnis der Großen Anfrage, warum die Arbeitsbedingungen der Lehrerinnen und Lehrer ganz konkret so belastend sind, sodass viel zu viele die reguläre Altersgrenze gar nicht erreichen, müssen wir uns dringend näher befassen und hier gezielt die Wissensbasis verbreitern; ein Auftrag, der nach Ihren Antworten auf diese Große Anfrage geradezu auf der Hand liegt, und – das ist mir ganz wichtig – wir müssen Themen aus dem Tabu herausführen. Mich hat zum Beispiel sehr nachdenklich gemacht zu lesen, dass ein Fünftel aller Schülerinnen und Schüler – 20 Prozent! – als psychisch auffällig gilt. Wir dürfen unsere Schulen mit solchen Problemen in der Zukunft nicht allein lassen!
Ich komme gleich zum Schluss, Herr Präsident! Wir wollen mit dieser Großen Anfrage deutlich machen, dass das Thema Unterrichtsausfall kein Thema ist, das für ein politisches Gegeneinander geeignet ist, sondern nach unserer festen Überzeugung muss diese Diskussion beginnen, wir sind am Anfang der Ursachenforschung. Lassen Sie uns gemeinsam dieses Thema auch erneut in der Deputation aufgreifen! – Herzlichen Dank!