Protocol of the Session on January 21, 2015

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Ich eröffne die 74. Sitzung der

Bürgerschaft (Landtag).

Meine Damen und Herren, in der nächsten Woche

jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 70. Mal. Auschwitz ist das Synonym für den Massenmord der Nazis an den europäischen Juden. Mit Blick auf das Kainsmal der deutschen Geschichte ist es schier unerträglich, dass Jüdinnen und Juden in Europa immer noch beziehungsweise wieder Angst vor Übergriffen haben müssen. Es sollte uns beschämen, dass sie sich mancherorts mit der Kippa kaum noch auf die Straßen trauen.

Ebenfalls nicht hinnehmbar ist es, dass spätestens

nach dem schweren und brutalen Anschlag in Paris Muslime in Deutschland unter Generalverdacht ge nommen und pauschal in Verbindung mit mordenden Extremisten, die sich auf den Islam berufen, gebracht werden. Das grenzt an Hetze, das stiftet Unfrieden, den wir alle nicht wollen; nicht wollen und nicht dulden, meine Damen und Herren!

Dieser Tage wird uns so deutlich wie schon lange

nicht mehr vor Augen geführt, dass Terrorismus und Antisemitismus die moderne und zivilisierte Gesell schaft vor gewaltige Herausforderungen stellt. Bei einer Mahnwache in Berlin zum Gedenken an die Opfer von Paris betonte Bundespräsident Joachim Gauck: Der Terrorismus ist international, aber das Bündnis der Freien und der Friedfertigen ist es erst recht. „Euer Hass ist unser Ansporn“, rief er den Tätern zu. Ja, das verstehe ich als Ermutigung zum Widerstand, als Aufforderung, aktiv zu bleiben, uns einig zu sein für Freiheit, Toleranz und Demokratie.

Bremen ist dazu fähig und bereit. „Bremen tut

was“ – unter diesem Motto wird sich am kommenden Montag die Stadtgesellschaft zu einer Toleranzof fensive auf dem Marktplatz versammeln. Wir wol len ein Zeichen setzen für ein weltoffenes, für ein freundschaftliches Zusammenleben in Bremen und Bremerhaven.

Meine Damen und Herren, Konflikte und Feind

bilder werden nicht nur von außen in unsere Ge sellschaft hineingetragen, wir wissen, dass auch von Deutschland aus Menschen mit radikaler Gesinnung zu jenen Stätten reisen, an denen der Heilige Krieg gelehrt und forciert wird. Darüber hinaus müssen wir erkennen, dass der Rechtspopulismus im unserem Lande zur Gefahr wird. Rechtes Gedankengut ge deiht in den Köpfen hier in Deutschland, es bedroht unseren demokratischen Grundkonsens, unsere solidarische Gemeinschaft. Es treibt Keile in unsere Gesellschaft der Vielfalt, es ist darauf ausgerichtet, diese zu spalten.

Diesen Versuchen müssen wir entschlossen gegen

übertreten mit unserem Wertesystem, mit Aufklärung und mit einer Politik, die nahe bei den Bedürfnissen und Zweifeln der Bürgerinnen und Bürger ist, die

die Menschen miteinbezieht und mitwirken lässt, aber auch jeder Einzelne ist aufgerufen, seinen ganz persönlichen Beitrag für das demokratische Ganze zu leisten.

Ich darf einen wichtigen Satz zitieren, den Bürger

meister Jens Böhrnsen während des Neujahrsemp fangs im Rathaus gesagt hat: Wir werden Menschen, die Sorgen und Ängste haben, nicht dafür verurtei len, aber wir dürfen von ihnen erwarten, dass sie sich informieren, dass sie sich von Alt-Nazis und von neuen rechten Rattenfängern distanzieren. Das unterstützen wir in der Bürgerschaft.

Meine Damen und Herren, wer Menschen, Mei

nungsträger und Meinungen mit Gewehren und an deren Waffen vernichtet, wie es in Paris, in Frankreich geschehen ist, hat uns als entschiedenen Gegner. Wir bleiben wehrhaft und meinungsstark, weil wir das den Opfern von Paris schuldig sind und weil wir von unserer staatlichen Ordnung, von Meinungs- und Pressefreiheit, von Verständigung und Humanität fest überzeugt sind. Charlie Hebdo – das steht für Entsetzen, für Trauer und für ein Vermächtnis, näm lich jene Kräfte, die in Deutschland, Frankreich und anderswo in der Welt Hass und Fremdenfeindlichkeit zu schüren versuchen, mit allen Mitteln des Rechts staates zu bekämpfen.

Ich bitte Sie nun, sich von Ihren Plätzen zu erheben,

um der Menschen, die bei den blutigen Anschlägen am 7. Januar in Frankreich ermordet wurden, zu gedenken!

Ich danke Ihnen!

Meine Damen und Herren, zur Abwicklung der

Tagesordnung der Bürgerschaft (Landtag) wurde interfraktionell vereinbart, dass heute zu Beginn der Sitzung der Tagesordnungspunkt 58, Nous sommes Charlie!, Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, der CDU und DIE LINKE, Drucksache 18/1714, behandelt wird.

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Nous sommes Charlie!

Antrag (Entschließung) der Fraktionen der SPD,

Bündnis 90/Die Grünen, der CDU und DIE LINKE

vom 20. Januar 2015

(Drucksache 18/1714)

Die Beratung ist eröffnet.

Als erster Redner hat das Wort der Abgeordnete

Tschöpe.

Herr Präsident, meine sehr

verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Wochen wurden in Paris 17 Men schen von drei islamistischen Attentätern ermordet. Getötet wurden linksliberale Journalisten, Polizisten, zufällig ausgewählte Juden in einem Supermarkt. Auf ihrer Flucht ermordeten sie kaltblütig den bereits

(A) (C)

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hilflos am Boden liegenden Polizisten Ahmed Me rabat. Ein weiterer Attentäter erschoss wahllos eine Polizistin und dann, einen Tag später, vier jüdische Geiseln in einem Supermarkt. Unmittelbar nachdem die Attentäter elf Menschen in der Redaktion von Charlie Hebdo brutal umgebracht hatten, riefen die Täter: „Wir haben Charlie getötet!“

Meine Damen und Herren, dem französischen

Philosophen Voltaire wird folgendes Zitat zuge schrieben: „Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dür fen.“ Wahrscheinlich schwingt zu viel Pathos in diesem Zitat mit, ich jedenfalls weiß nicht, ob ich in einer für mich existenziell gefährlichen Situation wirklich wie Lassana Bathily handeln würde und unter Lebensgefahr das Leben von sechs jüdischen Geiseln retten könnte. Ich weiß auch nicht, ob ich wie Ahmed Merabat pflichterfüllend umgehend zu einem Einsatzort eilen würde, an dem Männer mit Schnellfeuergewehren auf mich warten, ich weiß auch nicht, ob ich, nachdem man mein Büro in Brand gesetzt hat, weiterhin unbeirrt religionskritische Karikaturen gezeichnet hätte.

Lässt man aber diesen historisch bedingten Pathos

weg, kommt in diesem Voltaire zugeschriebenen Zitat etwas anderes zum Ausdruck: Es kommt zum Aus druck, dass jeder in einer freiheitlichen Gesellschaft seine Meinung frei und ohne Druck äußern darf. Es kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass auch die andere Meinung den gleichen Wert hat, gehört zu werden, und es kommt zum Ausdruck, die Über zeugung, dass man abweichende Meinungen auch erdulden muss, selbst wenn es einem schwerfällt, eine, wie ich finde, ganz entscheidende Positionie rung von Demokraten.

Meine Damen und Herren, eine demokratische

und menschliche Gesellschaft hat diese Meinungs- und Pressefreiheit zu gewährleisten. Wenn heute die Bremische Bürgerschaft den vorliegenden Ent schließungsantrag verabschiedet, dann machen wir dies im Gedenken an die Opfer von Paris und um ein Zeichen zu setzen gegen den Terror und für die Meinungsfreiheit in unserer Gesellschaft. Ich mache das in voller Überzeugung in Trauer um die Opfer von Paris, aber ich gebe auch zu, mit einer gehö rigen Portion Wut; Wut auf die Täter, die Religion als Rechtfertigung für ihre Morde missbrauchen, aber ich sage auch ganz deutlich, Wut auch auf die Rechtspopulisten, die jetzt versuchen, zynisch Kapital aus diesem Terror zu schlagen.

Beide wollen und wollten einen Keil in unsere

freie und offene Gesellschaft treiben. Ich bin aber sicher, es wird ihnen nicht gelingen, denn in vielen europäischen Städten haben die Menschen auf den Straßen in den vergangenen Tagen ein beeindru ckendes Signal gesetzt: Wir gehören zusammen, Atheisten, Christen, Muslime und Juden. Wir haben gemeinsame Werte, frei und ohne Angst, so wollen die Menschen, so wollen wir leben. Wir wollen kei

ne Einschränkung der Pressefreiheit, weder durch Selbstzensur noch durch staatliche Maßnahmen. Wir wollen keine Sippenhaft für Muslime, für Killer, die sich auf den Islam berufen, und wir wollen nicht und auf keinen Fall wieder, dass sich in Europa oder irgendwo sonst Juden in Kellern verstecken müssen, um ihr Leben zu schützen.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen

und Kollegen! Wir haben Charlie Hebdo getötet. Das haben die Attentäter von Paris gerufen, als sie aus den Redaktionsräumen gestürmt sind. Die letzten Wochen haben gezeigt: Nein, das habt ihr nicht! Die Demokratie ist stark, weil die Menschen für ihre Werte zusammenstehen, sie ist stark, weil sie aufstehen gegen den Terror der Verlierer aber auch gegen den Hass der Realitätsverweigerer, die Demokratie ist stark, weil sie ihre Werte verteidigen kann und verteidigt. Dies wird europaweit von vielen Menschen ausgedrückt, unter denen für mich zusam mengehörenden Bannern: Nous sommes Charlie, je suis Ahmed, nous sommes tous des juifs de France!

Der damalige norwegische Ministerpräsident Jens