Die interfraktionellen Absprachen können Sie dem verteilten Umdruck der Tagesordnung mit Stand von heute, 10.00 Uhr, entnehmen.
Erklärung der Bremischen Bürgerschaft zum 30. Oktober 2016 Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE und der FDP vom 27. Oktober 2016 (Drucksache 19/803)
Es ist von den Fraktionen dieses Hauses verabredet worden, dass der Präsident der Bremischen Bürgerschaft diese Rede zu dem heutigen Tag hält.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es waren noch düstere Tage nach dem verheerenden Krieg. „Schwarz und brandig ragten in der Innenstadt die Mauern der Kaufmannshäuser in die Luft, die mittelalterlich anmutenden Türme von unseren Kirchen sind heute nur noch Stein gewordene Klage der Hilflosigkeit. Die Wohnviertel sind eine Wüstenei. Sie wissen wie ich, dass der Zweite Weltkrieg Bremen auf die Hälfte seines Daseins und seiner Kräfte reduziert hat.“ Das sagte der erste bremische Bürgermeister nach 1945, Wilhelm Kaisen, während der ersten von den Alliierten ernannten Bürgerschaft im April 1946. Die Hälfte der Häuser war mehr oder weniger zerstört, und die Wirtschaftskapazitäten waren auf ein Drittel reduziert. Die Menschen waren unterernährt und ermüdet. Das größte Hindernis für den Wiederaufbau waren gar nicht so sehr die Finanzen, sondern das Beschaffen der Rohstoffe und der Arbeitskräfte.
Nun sollte die Demokratie wieder die Wunden heilen, die die Diktatur geschlagen hatte, und in der Tat, Bremen waren seine alten Bürger- und Freiheitsrechte wiedergegeben worden. Der Wille zur produktiven Arbeit lebte auf, die Fähigkeit zur Organisation und technischen Entfaltung wuchs von Tag zu Tag, und über allem stand das Improvisationstalent in Zeiten des Mangels.
Während Bürgermeister Wilhelm Kaisen, der in Personalunion auch in der Bürgerschaft präsidierte, den Aufbau eines neues Rechtszustands, verankert in der demokratischen Verfassung, und die Demokratisierung der Wirtschaft als eine der dringendsten Aufgaben der Bremer Politik bezeichnete, brachte der spätere Präsident eines frei gewählten Parlaments, August Hagedorn, für alle drei Fraktionen einen Ent
schließungsantrag ein. In diesem einstimmig angenommenen Dokument wurde gefordert, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches einen Weg über jede Parteipolitik hinweg einzuschlagen, der „über die Wiedergutmachung zur sozialen und nationalen Neuordnung führt“. Der Antrag reklamierte die „Überwindung eigensüchtiger Privatinteressen sowie des Nationalsozialismus zur Herstellung der Einheit des Reiches, zur Sicherung der friedlichen demokratischen Entwicklung und zur Erringung der Anerkennung der Gleichberechtigung unter den Völkern in der Welt.“ Das war am 17. April 1946.
Nach der ersten Bürgerschaftswahl im Oktober 1946 konstituierte sich am 30. des Monats die erste gewählte Bürgerschaft. In dieser Sitzung wurde ebenfalls eine Entschließung aller Fraktionen einstimmig angenommen, und darin heißt es:
„Wir erklären, geschlossen zur Mitarbeit am Aufbau Bremens bereit zu sein. Die Einheit dieses Zieles und dieser Arbeit soll ein sichtbares Zeichen sein für die weitere Hebung des neu erstandenen Ansehens der Freien Hansestadt Bremen nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Die Bereitschaft der Fraktionen ist zugleich ein Zuruf an die Bevölkerung, sich geschlossen hinter Senat und Bürgerschaft zu stellen. Die Fraktionen rufen dazu auf, sie appellieren an alle Instanzen des Staates, an alle Organisationen der Wirtschaft, der Kammern, der Gewerkschaften und Parteien sowie an die gesamte Bevölkerung, in diesem Geiste sich an der Aufbauarbeit zu beteiligen.“
August Hagedorn meinte: „Ohne die Freiheit wird in Deutschland sich die Demokratie nicht entwickeln können.“
Meine Damen und Herren, ich höre immer wieder von Paaren, die nach einem langen Leben des Mitund Füreinanders nach 30 oder 40 Jahren ihr Eheversprechen feierlich erneuern. Sie zeigen damit, dass sie die erlebten Veränderungen angenommen haben und trotz zwischenzeitlicher ehelicher oder anderer Krisen auch in Zukunft zusammenbleiben und zueinander stehen wollen. Ähnliches erfahren Sie heute hier im Plenarsaal, kein Eheversprechen, keine Liebe, aber Einigkeit: Die Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft bekennen sich 70 Jahre nach der ersten gewählten Bürgerschaft nach dem Krieg zu Freiheit und zur Demokratie, und wir sind dankbar für das, was uns die erste Generation der bremischen Abgeordneten an demokratischen Werten mit auf den Weg gegeben hat. Diese Werte wollen wir bewahren und – gemäß dem gesellschaftlichen Wandel – anpassen und fortentwickeln.
Demokratie ist kein Naturgesetz, sondern ein Prozess, der Überraschungen ebenso in sich birgt wie Ungewissheiten. Diese Dynamik zwingt uns permanent zum Nachdenken, zum Lernen und zum Handeln, und das
Bremische Bürgerschaft (Landtag) – 19. Wahlperiode – 30. (außerordentliche) Sitzung am 30.10.16 2198
ist uns in den vergangenen Jahrzehnten gar nicht so schlecht gelungen. Das System der repräsentativen beziehungsweise parlamentarischen Demokratie ist erprobt und hat sich bewährt. Sie ist vor allem der stete Versuch, dem Freiheitsstreben der Menschen größtmöglich gerecht zu werden und dabei das Sicherheitsbedürfnis nicht aus den Augen zu lassen. Es ist ein schwieriger Balanceakt, denn Freiheit und Sicherheit treten immer wieder in Konkurrenz zueinander.
Die Erklärung, die die Bremische Bürgerschaft heute verabschiedet, ist aber auch ein Ausdruck der Sorge, denn um die Demokratie ist es gegenwärtig nicht gut bestellt, auch in Europa nicht. Es gibt die Nichtregierungsorganisation Freedom House, die die politischen Entwicklungen weltweit untersucht. In ihrem Bericht 2016 heißt es, dass die „globale Freiheit“ im zehnten Jahr in Folge abnimmt. Es scheint, dass in einer Zeit, in der ganze Nationen von Angst, insbesondere Angst vor Terrorismus, bewegt sind, die Freiheit ein erstes Opfer der grassierenden Verunsicherung sein wird.
Der eben erwähnte Balanceakt ist aus den Fugen geraten, und das spielt den Autoritären in vielen Ländern in die Hände. Weltweit können jene Politiker auf Erfolge verweisen, die für Härte und Rechtsbeugung stehen sowie Volksnähe und Nationalismus auf ihre Fahnen geschrieben haben. In diesem Denken und Verhalten steckt ein Anfang vom Ende der Demokratie unserer Prägung. Dieser Gefahr müssen wir standhalten und entgegenwirken, eben auch und gerade auf lokaler und regionaler Ebene.
Mit dieser Resolution stehen wir für die demokratischen Grundsätze dieses Landes ein, für lebendige Demokratie, lebendigen Parlamentarismus, für Integration und Teilhabe. Wir verpflichten uns mit der Resolution, die Erinnerung an unsere Geschichte wachzuhalten, um zu verhindern, dass sie sich wiederholt. Wir bekennen uns ausdrücklich zu unverzichtbaren Grundrechten, die in den Artikeln 1 bis 20 des Grundgesetzes festgelegt wurden. Menschenwürde, die persönliche Freiheit jedes Einzelnen, die Glaubensfreiheit und das Asylrecht sind Beispiele für unveräußerliche Grundrechte, die niemals zur Disposition gestellt werden dürfen.
Worum geht es uns im Einzelnen? Im Bewusstsein, dass es die letzten Zeitzeugen des Nationalsozialismus bald nicht mehr geben wird, sehen wir es als unverzichtbar und verpflichtend an, die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wachzuhalten und ihrer Leiden stets zu gedenken.
Wir stellen uns der Geschichte der Bremischen Bürgerschaft der Zwischenkriegszeit im Wissen, dass aus den Reihen ihrer gewählten Mitglieder sowohl Täter als auch Opfer des Nationalsozialismus kamen. Diese Erfahrung zeigt uns, dass demokratische Institutionen allein keinen Schutz vor menschenverachtendem Gedankengut oder Diktatur bilden, sondern eines gelebten demokratischen Miteinanders bedürfen.
Wir gehen bewusst mit der bremischen Geschichte und der NS-Vergangenheit etlicher späterer Bürgerschaftsmitglieder um.
Wir wissen, dass die Mahnung zu Frieden und Freiheit, zu Respekt und Toleranz nichts an Aktualität verloren hat. Deshalb wenden wir uns entschieden gegen Staaten, Gesellschaften und Gruppen, in denen Menschenrechte und Mitmenschlichkeit missachtet werden, und wir sind solidarisch mit allen, die unter Unterdrückung, Entrechtung und Willkürherrschaft leiden.
Wir sind davon überzeugt, dass Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse, verschiedener Herkunft und Kulturen sowie gegensätzlicher politischer Ansichten in Frieden und Respekt zusammenleben können. Den heutigen Flüchtlingen, die aus Angst vor Gewalt und Terror ihre Heimat verlassen, wollen wir Schutz und Hilfe bieten.
Mit Entsetzen stellen wir wieder ein stärkeres Aufkommen von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus fest. Diese Kräfte wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen und die gewachsene demokratische Kultur zerstören. Sie scheuen selbst vor einer Verunglimpfung von Opfern der nationalsozialistischen Diktatur nicht zurück. Wir stellen uns entschieden gegen jede Form von Extremismus. Wir handeln entschlossen gegen Demokratiefeinde und Verächter unserer liberalen Grundordnung. Nie wieder werden wir dulden, dass die Saat von Antisemitismus, Rassismus und religiösem Fanatismus, von Diskriminierung und Intoleranz in unsere Gesellschaft getragen wird!
Wir sind davon überzeugt, dabei alle Demokratinnen und Demokraten und die eindeutige Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger an unserer Seite zu haben.
Wir bekennen uns zum friedlichen Miteinander und respektvollen Umgang untereinander. Bremen und Bremerhaven haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zu Orten friedlichen und respektvollen Umgangs von Menschen verschiedener Religionen und Weltanschauungen entwickelt. Einen Rückschritt vom Erreichten werden wir nicht zulassen.
Die Freie Hansestadt Bremen ist ein weltoffenes, vielfältiges und tolerantes Bundesland. Die parlamentarische Demokratie in einer pluralistischen Zivilgesellschaft mit ausgeprägter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger weiterzuentwickeln, sehen wir Abgeordnete als eine wesentliche Aufgabe an. Unser politisches Handeln richtet sich auf ein Leben in sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlicher und ökologischer Verantwortung und mit Grundrechten auf Würde, auf Bildung, Meinungsfreiheit, Gleichheit, Sicherheit und körperlicher Unversehrtheit.
Bremische Bürgerschaft (Landtag) – 19. Wahlperiode – 30. (außerordentliche) Sitzung am 30.10.16 2199
Die Bremerinnen und Bremer haben mit ihrer fortschrittlichen Landesverfassung, die am 21. Oktober 2017 70 Jahre alt wird, die Lehren aus ihrer dunklen jüngeren Geschichte gezogen und den Weg zu Frieden und Gerechtigkeit konsequent verfolgt. Wir Abgeordnete wollen mit ihnen daran mitwirken, dass sich nach dem vereinten Deutschland auch die Hoffnung auf ein eng zusammengewachsenes Europa in Frieden, Vielfalt und gegenseitigem Verständnis erfüllt.
Die Bremische Landesverfassung enthält ein frühes Sozialstaatsmodell, in dem sich alle nach ihren Fähigkeiten und auf ihre Weise in die Gesellschaft einbringen und für das Gemeinwohl arbeiten, als verfassungspolitischen Appell. Gerade in Zeiten der Globalisierung und der Flüchtlingsbewegungen gewinnt es an Aktualität. Wir tragen dem Rechnung, und wir setzen uns dafür ein, die ökonomische Abkopplung ganzer Bevölkerungsschichten von der Wirtschaftsentwicklung zu stoppen. Anhaltende Armut und wachsende soziale Unterschiede sind Sprengstoff für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Armut ist in der Regel keine Folge individuellen Fehlverhaltens, sondern fehlgeleiteter gesellschaftlicher Strukturen, die es zu korrigieren gilt. Wir setzen deshalb auf Bildung und Aufklärung, auf ein Mehr an Demokratie und auf ein Mehr an direkter Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger, um am Ende mehr Gerechtigkeit zu erhalten. Der Föderalismus – und damit die Eigenständigkeit der Freien Hansestadt Bremen – haben Verfassungsrang, gleichwohl ist der Föderalismus nicht statisch, sondern ein Prozess mit Anpassungen und Änderungen. So wandelt sich auch die Rolle der Landesparlamente. Bei alledem wollen wir Abgeordnete uns dafür einzusetzen, dass die Bremische Bürgerschaft unverzichtbare und dynamische Mitgestalterin einer Gesellschaft in politischer, kultureller und wirtschaftlicher Vielfalt und Verantwortung bleibt.
Meine Damen und Herren, die erste Sitzung der Bremischen Bürgerschaft am 30. Oktober 1946 erfolgte nach einer Wahl, an der 85,2 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen hatten. Die Menschen hatten ein Ziel vor Augen: Aufbruch in und Arbeiten für bessere Zeiten nach den Schrecken des Nazi-Terrorismus. Bei der vorerst letzten Wahl zur Bremischen Bürgerschaft 2015 fiel die Wahlbeteiligung gut 35 Prozentpunkte niedriger aus. Das ist eine Ermüdung, die uns sehr zu denken geben sollte. So wichtig Bekenntnisse und Resolutionen sind, überzeugend wirken sie erst durch das nachvollziehbare politische Tun. Der Politik muss es gelingen, als aktive Gestalterin im Staat wahrgenommen und respektiert zu werden und nicht als eine Kraft, die im Wesentlichen reagiert. Das Schwierige in diesem Prozess ist, dass es in der Demokratie – anders als von Rechtspopulisten suggeriert – keine einfachen Botschaften und Antworten gibt, und zwar schon allein wegen der verfassungsrechtlich garantierten Freiheit jedes Einzelnen.
Meine Damen und Herren, der heutigen Erklärung ging ein längerer, engagierter Diskussionsprozess, ja, auch stärkerer Meinungsstreit voraus, aber auch das gehört zu unverzichtbaren demokratischen Prinzipien. Die Abgeordneten und Fraktionen haben um einen guten Kompromiss gerungen und ihn gefunden. Es ist heute ein guter, ein besonderer Tag für den Parlamentarismus im Haus der Bürgerschaft und in Bremen. Dafür bin ich sehr dankbar, und darauf können wir auch ein bisschen stolz sein. – Vielen Dank!
Wer dem Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE und der FDP mit der Drucksachen-Nummer 19/803 seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen!
Bremen – oder die Rechtfertigung einer demokratischen Identität Gastrede von Herrn Professor Dr. Christoph Möllers, Humboldt-Universität zu Berlin
Herr Professor Dr. Möllers wird nun zum Thema „Bremen – oder die Rechtfertigung einer demokratische Identität“ sprechen.
Herr Professor Dr. Möllers lehrt Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist zudem eine prägende Kraft am Wissenschaftskolleg in Berlin, und für seine herausragenden Leistungen zum Verfassungsrecht wurde er in diesem Jahr mit dem renommierten Leibniz-Preis ausgezeichnet.
Herr Professor Dr. Möllers beschäftigt sich intensiv mit dem Verhalten, mit Versäumnissen und auch Versagen des Staates, auch mit dem Unbehagen, das dem politischen System entgegenwächst. Keine Politik könnte den Bürgerinnen und Bürgern Unsicherheit vollständig abnehmen, sagte er kürzlich in einem Interview, und Politiker müssten darum ihr Publikum auffordern, die Plausibilität seiner Unsicherheitsgefühle zu überprüfen, statt diesen Gefühlen nachzugeben.