Protokoll der Sitzung vom 21.06.2006

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf die 104. Plenarsitzung eröffnen, wenn alle aufmerksam sind. – Danke schön. Ich begrüße Sie ganz herzlich und hoffe, dass Sie alle einen guten Morgen gehabt haben.

(Dr. Walter Lübcke (CDU): Guten Morgen, Herr Präsident!)

Wir haben zur Tagesordnung festzuhalten – ich bitte, jetzt die Begrüßungszeremonien einzustellen –: Erledigt sind die Punkte 1, 2, 19, 71, 74 und 75.

Wir tagen heute bis 18 Uhr, zwei Stunden Mittagspause. Wir beginnen mit dem gemeinsamen Antrag zum Thema Gewalt an Hessens Schulen, Punkt 21. Danach rufe ich den Tagesordnungspunkt 41 auf. Heute Mittag beginnen wir – für alle, die das vorplanen wollen – mit Punkt 37 zusammen mit Punkt 72.

Zu Tagesordnungspunkt 64,dem Gesetzentwurf der Fraktion der FDP für ein Gesetz über die Mittelstufe der Verwaltung, ist noch ein Änderungsantrag der SPD, Drucks. 16/5723, eingegangen und verteilt worden.

Aufgrund einer interfraktionellen Vereinbarung findet zum Gesetzentwurf der Landesregierung zur Änderung des Weiterbildungsgesetzes keine dritte Lesung statt, sodass Punkt 65 von der Tagesordnung abgesetzt werden kann. – Dem widerspricht keiner. Das ist so vollzogen.

Um ca. 13.05 Uhr tagt der Europaausschuss im Raum 230 M.

Frau Kollegin Lautenschläger wird uns heute gegen 11 Uhr verlassen.

Ich will heute Morgen den Geburtstagsgruß für einen rund Gewordenen

(Heiterkeit)

selbstverständlich vom Alter her – nachholen. Herr Caspar wurde 50.Ich gratuliere Ihnen persönlich,auch im Namen des ganzen Hauses, und wünsche alles Gute.

(Allgemeiner Beifall)

Das waren heute in einer angenehmen Kürze die amtlichen Mitteilungen.

Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 21 auf:

Antrag der Fraktionen der CDU, der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP betreffend Maßnahmen gegen Verrohung und Gewalt an Hessens Schulen – Drucks. 16/5552 –

Vereinbarte Redezeit: 15 Minuten. Es beginnt Herr Irmer für die Fraktion der CDU.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zuerst ausdrücken, dass wir als CDUFraktion außerordentlich erfreut darüber sind, dass es erstmals gelungen ist, zu diesem Thema einen gemeinsamen Antrag zu formulieren, damit sich dieses Haus gemeinsam dazu bekennt, Gewalt zu ächten und Verrohungstendenzen entgegenzutreten – dies mit der Macht aller Fraktionen dieses Hauses.

(Beifall bei der CDU, der FDP und des Abg. Lothar Quanz (SPD))

Es gab in den letzten Jahren verschiedentlich Anfragen, Berichtsanträge, Anträge von Fraktionen, die ich nicht alle im Detail aufführen will. Es war im November 1995 die Kollegin Zeimetz-Lorz, die zu dieser Thematik eine Anfrage gestellt hat. Es war vier Jahre später erneut die CDU, die einen entsprechenden Antrag gestellt hat. Es war im Jahre 2001 ein gemeinsamer Antrag von CDU und FDP. Es war im Jahre 2005 ein weiterer Antrag der FDP, ebenfalls die SPD am 8. November letzten Jahres.

Jetzt haben wir erstmals einen gemeinsamen Antrag. Ich bin deshalb darüber froh – das sage ich sehr offen –, weil die Problematik viel zu schwierig ist, um sie ständig im parteipolitischen Kleinklein zu zerreden. Ich begrüße es ausdrücklich, dass alle Fraktionen bereit sind, die Bemühungen der Landesregierung im Bereich der Gewaltprävention anzuerkennen; denn dies bedeutet übersetzt zumindest ein indirektes kleines Lob für das, was die Landesregierung zu Recht macht. Wir sagen ebenfalls in diesem Antrag, dass die Landesregierung für Maßnahmen und Projekte zur Prävention von Gewalt an Schulen direkt und indirekt Mittel zur Verfügung stellt und dies weiter geschehen muss.

Ich will an dieser Stelle nicht vertiefen, was alles im Antrag steht – Sie sind alle, wie wir auch, des Lesens mächtig –: Netzwerk gegen Gewalt, Prävention im Team, die AGGAS beim Polizeipräsidium Mittelhessen, die AG Jaguar beim Polizeipräsidium Westhessen, das Projekt SMOG, Streitschlichtungsseminare, Buslotsenprojekte und vieles andere mehr.

Der Landtag bekennt sich in dem gemeinsamen Antrag ferner dazu, Initiativen, die im Bereich der Gewaltprävention tätig sind, weiterhin angemessen mit finanziellen und personellen Mitteln auszustatten. Dies ist auch in Zukunft zwingend notwendig.Wir werden sicherlich darüber zu diskutieren haben, ob das, was wir bis jetzt gemacht haben, ausreichend oder nicht ausreichend ist und ob man gegebenenfalls mehr machen muss.

Ich glaube, wir sind uns einig, wenn ich sage: All das, was in Gewaltprävention investiert wird, ist unter wirtschaftswissenschaftlichen Aspekten eine Investition in die Zukunft, eine Investition, die sich amortisiert. Deshalb darf es hier kein Zurück geben.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben in dem Antrag gemeinsam gesagt: Wir wollen überlegen, ob es in den Schulen Teams aus Schülern und Lehrern geben kann, die sich verstärkt mit der Thematik Gewaltprävention, Höflichkeit, Fairness und Sicherheit beschäftigen. – Ich will das an einem anderen Beispiel kurz deutlich machen. Im Bereich Studium Plus in Wetzlar gibt es im Rahmen der Ausbildung ein Seminar „Etikette“. Es sind ohnehin schon gut ausgebildete, junge, engagierte Leute,die Studium,Lehre und Beruf zugleich betreiben. Trotzdem machen sie ein solches Seminar mit sehr großem Erfolg. Ich denke, was dort funktioniert, ist an anderen Schulen zwingend notwendig.

Meine Damen und Herren, einige wenige Sätze zum Istzustand. Es gibt eine Emnid-Umfrage vom März 2006, wonach jeder dritte Schüler Angst vor Gewalt hat.Befragt wurden über 1.000 Schüler. 65 % der Opfer sind auf dem Schulhof geschlagen worden, 54 % – es waren Mehrfachnennungen möglich – im Schulgebäude. 13 % der Schüler

haben angegeben – das sollte uns zur Nachdenklichkeit stimmen –, dass die Lehrer wegschauen. Das darf nicht sein. Wenn 13 % aller Schüler, die von Gewalt auf dem Schulhof und im Schulgelände betroffen sind, sagen: „Unsere Lehrer schauen weg“, ist das eine Zahl, die nicht zu akzeptieren ist.Hier muss etwas anderes gemacht werden.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Eine Untersuchung der Universität München kommt zu dem Ergebnis,dass von 10 Millionen Schülern in Deutschland 500.000 regelmäßig drangsaliert werden. Das Bundeskriminalamt hat festgestellt, dass die Zahl der heranwachsenden Tatverdächtigen vom Jahre 1987 bis zum Jahre 2000 bei den unter 14-Jährigen fast verdreifacht und bei den Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren mehr als verdoppelt wurde. Insgesamt sind 10 % der männlichen Jugendlichen und 2 % der Mädchen als gewalttätig zu bezeichnen. Insgesamt sind etwa 50 % aller Tatverdächtigen in Deutschland zwischen 14 und 30 Jahre alt.Auch dies ist eine Zahl,die dramatisch ist.

Der Umgangston unter den Schülern ist rauer und gereizter geworden, Vandalismusschäden haben zugenommen, die Grenze der Bereitschaft zur Verletzung des anderen sinkt. Immer mehr kommen mit Waffen in die Schule. Erpressung gibt es teilweise leider schon in der Grundschule.Wir haben gerade aktuell eine neue Welle der Gewalt, indem man Gewalt aufs Handy lädt und zeigt, wie man Fotos schießt,wo sozusagen live Kinder in der Schule gewalttätig belangt werden, und andere fotografieren diese Gewalttaten und zeigen sie dann weiteren – eine unglaubliche Entwicklung, die fast mit Worten nicht zu fassen ist. Die Zahl der Übergriffe auf Pädagogen, die Zahl der Bedrohungen ist ebenfalls gestiegen. – So weit einige wenige Sätze zum Zustand.

Meine Damen und Herren, ich will eine weitere Vorbemerkung machen. Wenn wir über Jugendgewalt diskutieren, sollten wir gemeinsam klarmachen, dass wir nicht die Jugendlichen meinen und dass wir nicht die Jugendlichen auf die Anklagebank setzen. Im Grunde genommen gehören wir als Erwachsene auf die Anklagebank und nicht unsere Kinder. Denn sie sind das Ergebnis unserer Erziehung oder Nicht-Erziehung. Ich glaube, das sollte man auch einmal so deutlich sagen.

(Beifall bei der CDU)

Ich denke, dass wir auch einig sind, wenn ich sage, dass Gewalt schließlich nicht angeboren ist, sondern Begleitumstände dazu führen, dass sich jemand im späteren Leben mehr gewalttätig verhält als manch ein anderer.

Es gibt eine Studie des Deutschen Lehrerverbandes aus dem Jahre 2003, wonach aus deren Sicht und nach deren Untersuchungen für jugendliche Gewalttäter folgende Merkmale weitgehend gelten – Ausnahmen bestätigen die Regel –: ein Mangel an Empathie, Sprachlosigkeit und Mangel an argumentativen Fertigkeiten,Angst wegen sozialer oder erlebter Minderwertigkeit, Langeweile, eigene Vergangenheit als Opfer von Gewalt,familiäre Entwurzelung, Blockout-Erfahrung im Schul- und Ausbildungssystem und exzessiver Konsum medialer Gewalt.

Der Kriminologe Prof. Christian Pfeiffer aus Hannover hat in einem großen Artikel in der „FAZ“ im Jahr 2004 zu der gleichen Problematik erklärt, dass nach seiner wissenschaftlichen Untersuchung Tatverdächtige überwiegend Kinder aus ärmeren Familien sind, Kinder, die zu Hause geschlagen werden, Haupt- und Sonderschüler, ausländische Jungen aus anderen Kulturkreisen, die zu Hause eine andere Kultur erleben, häufiger Gewalt in der Familie er

leben als anderswo, bezogen darauf auch Aussiedlerjugendliche und moslemische Jugendliche. Er hat ferner erklärt, jeder zehnte türkische Jugendliche sei ein Mehrfachtäter. Das Verhältnis bei den Deutschen liege bei 2,9 %. Das ist im Übrigen eine Aussage, die Herr Pfeiffer in der GEW-Zeitung „Erziehung und Wissenschaft“ getätigt hat, meine Damen und Herren.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Der ist auch SPD-Mitglied! – Zuruf der Abg. Sarah Sorge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Liebe Frau Kollegin Sorge, man muss immer wissen, was die anderen denken und sagen. Deshalb lese ich natürlich mit Inbrunst auch die GEW-Zeitung,

(Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit Inbrunst!)

auch wenn ich ihre Inhalte nicht teile.

(Beifall bei der CDU)

Zu den Ursachen gibt es logischerweise wissenschaftliche Abhandlungen in unendlicher Form. Ich will deshalb nur kursorisch einige Stichworte nennen, die aus unserer CDU-Sicht mit dazu beigetragen haben, dass wir da sind, wo wir sind. Ich werde dabei, auch wenn es mir schwer fällt – ich gebe das zu; aber ich sage es sehr deutlich –, auf parteipolitische Schuldzuweisungen bewusst verzichten.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das können Sie nicht!)

Das kann ich schon, Herr Kollege Al-Wazir. Schauen Sie mal. Ich glaube zumindest, dass wir es versuchen.

Über viele Jahre ist – teilweise zumindest – die absolute Gültigkeit des Rechts relativiert worden. Ich erinnere an Stichworte wie ziviler Ungehorsam, Blockaden, die Definition eines eigenen Gewaltbegriffs nach dem Motto: „Gewalt gegen Sachen ist legitim“. Das staatliche Gewaltmonopol wurde infrage gestellt.Wer für Law and Order war, galt als Reaktionär, als Ewiggestriger. Ich kann mich gut an Kampagnen gegen Dr. Alfred Dregger erinnern, der als Law-and-Order-Mann verschrien war. Was hat er denn gefordert? Gesetz und Ordnung, meine Damen und Herren. Hätten wir das heute noch so, wie es damals war, ginge es uns heute etwas besser.

(Beifall bei der CDU)

Grenzen wurden bewusst missachtet, sie wurden verwischt. Man hat zwischen illegitimer Gewalt von rechts und legitimer linker Gewalt unterschieden. Nein, meine Damen und Herren, Gewalt ist nie ein Mittel der Politik.

(Beifall bei der CDU)

Ich möchte es deshalb mit dem Holocaust-Überlebenden und Friedensnobelpreisträger Eli Wiesel formulieren, der gesagt hat, dass Lümmel immer Lümmel sind, Gewalt Gewalt und Dummheit Dummheit ist.Da hat er völlig Recht, und deshalb glaube ich, dass wir gemeinsam sagen können: Gewalt ist nie ein Mittel der Politik.

Meine Damen und Herren, die 68er sind sicherlich nicht an allem schuld, aber sie tragen zumindest aus unserer Sicht einen Teil der Verantwortung für die Situation. Ich erinnere daran, dass Sekundärtugenden bewusst diffamiert wurden. Ich erinnere an Herrn Lafontaine, der damals völlig zu Unrecht an die Adresse von Helmut Schmidt gemeint hat, dass der mit seinen Sekundärtugenden auch ein KZ führen könnte. Das sind Formulierungen, die sicherlich unstreitig unzumutbar sind.

Die Werte wurden diskreditiert, Religion wurde verächtlich gemacht, Ehe und Familie als Keimzelle eines jeden Staates wurden infrage gestellt. Selbst den Begriff „Heimat“ durfte man nicht nennen. Nationalstolz war kein Thema. Patriotismus fängt jetzt langsam wieder an, ein Thema zu werden. Ich bin froh darüber, dass man, wenn man durch die Stadt geht, junge Menschen Fahnen schwingend und freudestrahlend bei der Weltmeisterschaft sieht. Das ist ein gesunder Patriotismus, und der steht uns gut zu Gesicht.