Protokoll der Sitzung vom 22.11.2006

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Ach, Sie meinen Ulla Schmidt!)

Nein, ich meine Frau Wolff. Herr Hahn, wir sind hier in Hessen. Ich habe von der Kultusministerin gesprochen.

(Günter Rudolph (SPD): Herr Hahn, Sie müssen zuhören!)

Die Kultusministerin redet davon, Hessen sei das Bildungsland Nummer eins. Ich möchte jetzt wieder die objektiven Vergleichszahlen anführen, denn auf irgendetwas muss man sich einigen. Der „Bildungsmonitor 2006“ des

Instituts der deutschen Wirtschaft wird von Ihnen kritisiert, wobei man aber sagen muss, dass das Institut der deutschen Wirtschaft alles andere als eine sozialdemokratische Einrichtung ist. Der „Bildungsmonitor 2006“ des Instituts der deutschen Wirtschaft attestiert unserem Bundesland Hessen,dass wir uns bei den weiterführenden Schulen auf dem vorletzten Platz befinden. Herr Wissenschaftsminister, hinsichtlich der Hochschulen ist unser Bundesland Hessen auf den letzten Platz abgerutscht. Hessen ist also nicht das Bildungsland Nummer eins, sondern das Bildungsnotstandsland Nummer eins.

(Beifall bei der SPD)

Diese Zahlen sind nicht einfach aus der Luft gegriffen. Dieses negative Ranking unseres Landes lässt sich begründen. Im Jahr 2004 haben nahezu 20 % aller Schulabgänger die Schulen ohne Abschluss verlassen. Dazu gehören auch die beruflichen Schulen.Mit dieser Zahl wird das eigentliche Dilemma nur ansatzweise beschrieben. Laut der Ergebnisse der Studie PISA-E aus dem Jahr 2003 verfügen 24,3 % der hessischen Jugendlichen über eine Lesekompetenz der Stufe I oder darunter. Frau Kultusministerin, d. h., dass bei einem von vier Jugendlichen unseres Landes spätestens bei einer Prüfung für die Aufnahme einer Ausbildung, also bei einem Bewerbungstest, deutlich wird, dass dieses Kind massive Probleme hat, einen Text lesen und verstehen zu können.Diese Defizite,die bei diesen Jugendlichen dann aufgetreten sind, werden dazu beitragen, dass es diese Jugendlichen extrem schwer haben werden, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Sie werden es sehr schwer haben, eine qualifizierte Ausbildung und später einen Beruf zu bekommen.

Ich persönlich habe mehrfach in diesem Hause gesagt, dass das einfache Hinnehmen der Tatsache, dass eines von vier Kindern durchgereicht wird, der eigentliche Skandal in unserem Bundesland Hessen ist.

(Beifall bei der SPD)

Durch diese Politik werden Tausenden von Kindern die Perspektiven und die Chancen genommen. Dabei wissen wir alle doch, dass die Bildung heute das eigentliche Fundament für den sozialen Aufstieg ist.

(Michael Boddenberg (CDU): Einheitsbildung in der Einheitsschule! – Weitere Zurufe von der CDU)

Jetzt geraten wir in diese Debatte. Das ist die Einzige, die Sie an der Stelle führen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, zunehmend verfestigt sich bei mir der Eindruck, dass Ihnen die Kinder völlig gleichgültig sind. Ihnen geht es nur um das Schulsystem. Sie diskutieren immer nur über das Schulsystem.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Das glauben Sie doch selbst nicht! – Weitere Zurufe von der CDU)

Machen wir es einmal konkret: Vor wenigen Wochen – vielleicht vor zwei Wochen; ich habe das nur im Radio gehört – haben 25 Kultusminister der EU die Bundesrepublik Deutschland dafür kritisiert, dass die Kinder zu früh selektiert und auf die unterschiedlichen Schulformen verteilt werden.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Debatte der Siebzigerjahre!)

Dann wird Frau Wolff interviewt und mit dieser Kritik der 25 EU-Kultusminister konfrontiert. Ihre Antwort im

„HR“ war, daran sei doch nicht das gegliederte Schulsystem schuld. Im Übrigen verbiete sie die Gesamtschulen in unserem Lande nicht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht doch nicht darum, die Gesamtschulen nicht zu verbieten, sondern darum, einen längeren gemeinsamen Unterricht zu fördern.

(Beifall bei der SPD)

Ich spreche an dieser Stelle übrigens nicht nur über die Perspektiven der Kinder, sondern immer auch über das Gebot der ökonomischen Vernunft. Außerhalb der hessischen CDU sind sich nämlich fast alle darin einig, dass wir es uns auf die Dauer, bei den demografischen Entwicklungen, die uns bevorstehen, nicht mehr werden leisten können, 25 % eines jeden Schuljahrgangs den Zugang zu höheren Qualifikationen zu verwehren. Das wird sich ein Staat nicht leisten können.Auch aus ökonomischen Gründen können wir uns das in Zukunft nicht mehr leisten.Die Bildungspolitik,die Sie betreiben,ist also sozial ungerecht und ökonomisch unvernünftig.

(Beifall bei der SPD)

Der Ansatz von uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist ein anderer:Wir wollen möglichst viele Kinder mit möglichst hohen Qualifikationen, und wir wollen möglichst kein Kind ohne Qualifikation. Ich wiederhole: viele Kinder mit hohen Qualifikationen, kein Kind ohne Qualifikation.

(Zurufe von der CDU)

Das ist eine Provokation für die CDU in diesem Hause; denn die CDU-Bildungspolitik mit dem ideologischen Ansatz, nach der 4. Klasse möglichst genau zu selektieren, sieht etwas anderes vor. Sie will aussortieren und frühzeitig festlegen, welchen Kindern dauerhaft alle Perspektiven genommen werden, zu hohen und höchsten Bildungsabschlüssen zu kommen.

(Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Diese Art von Politik hat auch etwas mit der Durchlässigkeit einer Gesellschaft zu tun. Sie hat etwas damit zu tun, dass wir wollen, dass Kinder aus einfachen Verhältnissen die Möglichkeit haben, aufzusteigen.

(Zuruf des Ministers Dr.Alois Rhiel)

Der Wirtschaftsminister murmelt, das sei „Schwachsinn“.

(Zurufe von der SPD)

Herr Wirtschaftsminister, für den gesellschaftlichen Aufstieg – ich sage einmal, außerhalb der CDU ist das unstrittig – ist eine gute Bildung nun einmal die notwendige Voraussetzung. Kinder aus ärmeren, aus einfachen Verhältnissen brauchen hervorragende Bildungsabschlüsse, um den Weg des gesellschaftlichen Aufstiegs von unten nach oben zu gehen. Außerhalb der hessischen CDU ist das völlig unstrittig.

Jetzt wird die CDU für sich beanspruchen, dass sie die Durchlässigkeit einer Gesellschaft – die Möglichkeit, aufzusteigen – unterstützt. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Union, Sie müssen sich an dieser Stelle die Frage gefallen lassen, warum Sie dann das Wort „Durchlässigkeit“ aus dem Schulgesetz gestrichen haben.

(Beifall bei der SPD)

Ich glaube, dass das Streichen dieses Wortes mehr ist als lediglich ein ideologischer Akt dieser Kultusministerin,

die ihre Vorstellungen nun sozusagen zu Ende entwickelt hat. Vielmehr ist das Streichen des Wortes „Durchlässigkeit“ aus dem Schulgesetz das Markenzeichen der hessischen Union. Die hessische Union will nicht, dass Menschen aus einfacheren Verhältnissen die Chance haben, zu gesellschaftlichen Aufsteigern zu werden. Deshalb hat sie das Wort „Durchlässigkeit“ gestrichen.

(Beifall bei der SPD – Dr.Christean Wagner (Lahn- tal) (CDU): Das glaubt Ihnen doch keiner! – Michael Boddenberg (CDU): Felix, der Polemiker! – Weitere Zurufe von der CDU)

„Felix,der Polemiker“ – Herr Boddenberg,das wäre ich, wenn es nicht stimmen würde, was ich sage.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU)

Herr Boddenberg, ich habe eben vorgetragen, dass Ihre Fraktion unter diesem Ministerpräsidenten und mit dieser Kultusministerin das Wort „Durchlässigkeit“ aus dem Schulgesetz gestrichen hat. Jetzt können Sie sagen, das sei billige Polemik. Sie können sagen, das sei Unsinn, und damit haben Sie nicht einmal unrecht. Es ist auch Unsinn, dass Sie dieses Wort aus dem Schulgesetz gestrichen haben.Aber Ihre ganze Politik ist so.

(Beifall bei der SPD)

Aus sozialen, aber auch aus ökonomischen Gründen brauchen wir eine andere Bildungspolitik in diesem Lande. Wir müssen früher ansetzen, und wir brauchen mehr Investitionen in die frühkindliche Erziehung. Wir dürfen es nicht so machen wie diese Landesregierung, die in ihrem sogenannten BAMBINI-Programm erklärt: Wir wollen das letzte Kindergartenjahr beitragsfrei stellen; das ist ein kommunales Thema.

Wir Sozialdemokraten unterstützen diesen Ansatz. Aber dann sagt die Landesregierung in einem zweiten Schritt: Wir müssen das auch noch finanzieren. Wie machen wir das denn? – In einem dritten Schritt erklärt die Landesregierung: Wenn das schon ein kommunales Thema ist, lassen wir die Kommunen das auch finanzieren. – Von den 110 Millionen c, die das Programm kostet, werden 100 Millionen c aus dem KFA genommen.Meine Damen und Herren, Sie betreiben hier eine Raubritterpolitik.

(Beifall bei der SPD)

An dieser Stelle will ich noch etwas hinzufügen. Durch das BAMBINI-Programm wird das letzte Kindergartenjahr beitragsfrei gestellt. Das ist gut und richtig, und wir unterstützen das. Aber kein einziger zusätzlicher Euro wird für die Qualität und die Quantität der frühkindlichen Erziehung ausgegeben.

(Beifall bei der SPD)

Herr Weimar, das Elterngeld wird durch staatliches Geld in Form von kommunalem Geld ersetzt. Kein zusätzliches Geld wird in das System gegeben.

(Minister Karlheinz Weimar: Das ist nicht so ein- fach!)

Wir alle sind uns aber einig, dass Investitionen in die frühkindliche Erziehung Kosten sparen, die nachher durch viele Bewerbertrainings und in vielen Bereichen der Sozialhilfe anfallen.

(Zuruf des Ministers Karlheinz Weimar)

Ich finde es in Ordnung, wenn hier deutlich wird, dass wir unterschiedliche Ansätze haben.

(Zuruf des Ministers Karlheinz Weimar)

Ich sage Ihnen deutlich: Wir wollen in die Qualität der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher und in die Quantität der Plätze investieren. Wir sind nämlich der Auffassung, dass kein Kind ohne ausreichende Deutschkenntnisse in die Grundschule kommen soll; denn das Kind wird dann bereits dort abgehängt.

(Beifall bei der SPD – Minister Karlheinz Weimar: Ihr seid doch dagegen! – Zurufe von der CDU)