Protokoll der Sitzung vom 27.03.2007

Meine Damen und Herren, zu den bitteren Wahrheiten, auf die eine ehrliche und glaubhafte Politik hinweisen muss, gehört: In einem demokratischen Rechtsstaat nach unserem Verständnis wird es einen hundertprozentigen Schutz vor Sexualstraftätern nicht geben. Umso wichtiger ist es, umso mehr sind wir verpflichtet, alle verfassungs

rechtlich zulässigen Möglichkeiten zum Schutz unserer Bevölkerung konsequent zu nutzen. Dazu zählt die Hessische Landesregierung vor allem ein umfassendes, engmaschiges Sicherheitsmanagement, eine umfassende Gefährdungsanalyse nach der Verurteilung und vor einer eventuellen Haftentlassung, die Verbesserung der Erkenntnislage durch eine vernetzte Datei und die Schärfung des gesetzlichen Instrumentariums.

Es gilt, das Leben der Frauen, ihre körperliche Unversehrtheit und ihre Würde vor Übergriffen durch Gewaltund Sexualstraftäter mit allen Anstrengungen zu bewahren, das Leben unserer Kinder nach Kräften zu schützen und das Leid ihrer Eltern zu verhindern – das Leid der Eltern mit Kindern wie Jessica, Levke, Ulrike, Ayla, Peter und Mitja.

(Lebhafter Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Justizminister. – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Kollegin Hofmann für die SPD-Fraktion.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! In der Tat haben Fälle wie der des kleinen Mitja in Leipzig oder auch die Debatte um die Freilassung von Sexualstraftätern aus der Haft wie in Sachsen-Anhalt und Brandenburg dazu geführt, dass wir in unserer Gesellschaft berechtigterweise einmal wieder eine Debatte über den Umgang mit Sexualstraftätern führen. Lassen Sie mich jedoch festhalten: Eine Diskussion bei einem so hochsensiblen Thema ist zwar grundsätzlich wünschenswert, aus unserer Sicht aber nur dann, wenn sie sachlich, unaufgeregt und ohne jeglichen Populismus geführt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich eingangs ein besonderes Phänomen ansprechen, nämlich bei der Frage, inwieweit jenseits der öffentlichen Wahrnehmung, die durch Medien wie Fernsehen und Zeitung beeinflusst wird, wirklich Sicherheitslücken im System bestehen bzw.ob der Schutz insbesondere von Jugendlichen und Kindern in unserer Gesellschaft ausreichend ist. Da gibt es eine Diskrepanz zwischen der öffentlichen Wahrnehmung auf der einen Seite und den Fakten auf der anderen Seite. Wenn man etwa Bürgerinnen und Bürger fragt, wie sie persönlich die Anzahl der Sexualstraftaten und Morde in unserer Gesellschaft einschätzen, dann geben 89 % der Befragten an, sie meinen, dass es in den letzten zehn Jahren, etwa seit 1993 im Vergleich zu 2003, einen erheblichen Anstieg gegeben habe.

Diese gefühlte Kriminalität, die jüngst z. B. in einer Studie von Prof. Pfeiffer abgefragt worden ist, stimmt glücklicherweise nicht mit der Realität überein, wie der zweite periodische Sicherheitsbericht darlegt. Damit liegen nach solchen Studien 89 % der Befragten in ihrer Einschätzung daneben. Im Gegenteil, wir haben bei den vollendeten Sexualstraftaten und Morden einen Rückgang zu verzeichnen, und auch die Anzahl der Morde an Kleinkindern nach vorherigem sexuellem Missbrauch ist glücklicherweise weitaus niedriger, als es die meisten in unserer Gesellschaft einschätzen. Sie liegt bei einer noch viel zu hohen Zahl von etwa zwei bis fünf Fällen pro Jahr.

Lassen Sie mich verdeutlichen: Diese Zahlen sollen die bestehenden Straftaten weder kleinreden noch verharm

losen. Im Gegenteil, jeder Fall ist ein schwerstes Verbrechen, eine Tragödie, und zieht schreckliche Schicksale nach sich. Aber diese Erhebungen zeigen doch auch die Fakten, dass die bestehenden Gesetze nicht wirkungslos geblieben sind. Eine seriöse Rechtspolitik muss dann trotzdem fragen: Gibt es da noch gesetzgeberischen Handlungsbedarf? Wenn ja, wie soll er aussehen? Sind die Konzepte gegen Gewalttäter und Sexualstraftäter ausreichend oder nicht? – Diese Fragen müssen wir uns trotz solcher Zahlen in der Tat periodisch immer wieder stellen.

Meine Damen und Herren,da möchte ich ein bisschen das zurückweisen, was Herr Banzer gesagt hat. Es ist nicht so, dass in der Bundesregierung unter sozialdemokratischer Verantwortung in den letzten Jahren nichts geschehen sei. Im Gegenteil, wir haben unter unserer Regierungsverantwortung auf Bundesebene mehr für den Opferschutz getan als Kohl in den ganzen 16 Jahren.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich einige Beispiele benennen, z. B. den Aktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt, der bereits 2003 aufgelegt worden ist. Davon sind schon sehr viele Maßnahmen umgesetzt worden. Aber auch die moderate verfassungskonforme Ausweitung der vorbehaltenen und der nachträglichen Sicherungsverwahrung wurde unter unserer Regierungsverantwortung Schritt für Schritt umgesetzt.Wir haben auch die Straftatbestände angepasst, zum einen Strafbarkeitslücken geschlossen, zum anderen den Strafrahmen dort, wo es erforderlich war, moderat angehoben. Auch die Möglichkeiten für das Erfolgsinstrument der DNA-Analyse wurden maßvoll erweitert, und die Reihengentests wurden auf eine gesetzliche Grundlage gestellt.

Weitere gesetzliche Regelungen sind jetzt auf Bundesebene in der Diskussion bzw. in der Umsetzung. Das ist gut so. Ich möchte hier ganz detailliert die Reform der Führungsaufsicht ansprechen, weil Sie das auch aufgeführt haben. Es ist schon verwunderlich, wenn Sie hier Forderungen erheben und selbst in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe als Hessen eingebunden waren.

(Petra Fuhrmann (SPD): Hört, hört!)

Die Reform der Führungsaufsicht sieht eine straffere und effizientere Kontrolle der Lebensführung solcher Straftäter vor. Da hat man durch wissenschaftliche Begleitung, aber auch durch entsprechende Praxisbefragung als Gesetzgeber in den letzten Monaten und Jahren einiges dazugelernt.

In der Tat soll es ein strafbewehrtes Kontaktverbot geben, was Sie gerade gefordert haben. Es soll eben nicht mehr den Einschlafhelfer in einem Kindergarten geben, der vorher als Sexualstraftäter in Erscheinung getreten ist. Man wundert sich doch – das Beispiel hat mir eben noch Frau Fuhrmann vorgetragen –, dass solche Personen in der Vergangenheit noch nicht einmal ein Führungszeugnis gebraucht haben. Das ist schon sehr bedenklich.

(Günter Rudolph (SPD): Unglaublich!)

Deswegen frage ich mich, warum Sie an dieser Stelle kritisieren, dass die Regelungen nicht weit genug gehen. Sie waren am Gesetzgebungsverfahren maßgeblich beteiligt.

Ein weiterer Schritt: Die strafbewehrten Weisungen sollen erweitert werden. Das heißt als Beispiel, wenn man Hinweise darauf hat, dass ein Alkoholkranker trotzdem noch zum Alkohol greift, soll die Möglichkeit geschaffen werden, dass dem durch Atemalkoholkontrollen in Zu

kunft ein Riegel vorgeschoben wird. Ein Entlassener soll zukünftig etwa angewiesen werden, einen Psychotherapeuten, einen Arzt aufzusuchen, damit sich der Therapeut persönlich einen Eindruck davon verschaffen kann, wie sich dieser Täter weiterentwickelt und inwieweit dieser Täter resozialisiert wird. Verstößt dieser Täter gegen die Weisung, dann soll das künftig mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren – das war bis jetzt ein Jahr – geahndet werden können. Auch in diesem Bereich gibt es jetzt Fortschritte.

Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Komplex ist die Ausweitung der Befugnisse der Vollstreckungsgerichte und Führungsaufsichtsstellen. Künftig soll es die Möglichkeit geben, dass die Gerichte Vorführungsbefehle gegen Verurteilte erlassen. Das heißt, sie können sie per Vorführungsbefehl zwingen, vor einem entsprechenden Arzt, Psychotherapeuten oder etwa in einer forensischen Ambulanz zu erscheinen. Es ist ganz wichtig, dass dieses Netz der Kontrollen erweitert und gefestigt wird.

Ein anderes Problem, dessen man jetzt Herr werden will, ist, dass psychisch Kranke medikamentös eingestellt werden müssen, aber in der Praxis oft auch über fünf Jahre hinaus, wie es jetzt möglich ist. Da soll es die Möglichkeit geben, diese Führungsaufsicht befristet zu verlängern und weiter zu kontrollieren: Nimmt er seine Medikamente ordnungsgemäß ein, oder lässt er es? – Das ist eine Idee des Bundesjustizministeriums und nicht aus Hessen.

Lassen Sie mich eine andere Regelung ansprechen: die nachträgliche Sicherungsverwahrung, die noch einmal moderat ausgeweitet werden soll, nämlich auf sogenannte Altfälle der DDR, die damals nicht über den Beitrittsvertrag an unseren gesetzgeberischen Regelungen partizipiert haben.Damit soll auch in den Fällen von Straftätern, die bereits im Urteil als gefährlich eingestuft worden sind, aber gegen die man keine Handhabe hatte, jetzt eine Sicherungsverwahrung ermöglicht werden. Das ist sinnvoll und gut so.

Eines haben Sie völlig ignoriert. Im Koalitionsvertrag auf Bundesebene steht ausdrücklich,

(Günter Rudolph (SPD): Den müssen wir ihm einmal schicken! – Norbert Schmitt (SPD): Im Internet!)

dass in besonders schweren Einzelfällen, gerade bei Jugendlichen, überprüft werden muss, ob eine nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann. Das Bundesjustizministerium arbeitet an einem Entwurf,insofern gibt es schon entsprechende Maßnahmen.

(Günter Rudolph (SPD): So ist es!)

Lassen Sie mich noch auf einige konkrete Punkte etwas detaillierter eingehen. Sie haben hier einen bunten Strauß geflochten. Die Forderung, die Sie erhoben haben, nachträglicher Sicherungsverwahrung für Ersttäter halten wir nicht für sinnvoll. Denn zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung kann man noch keine vernünftige Prognoseentscheidung in die Zukunft gerichtet stellen, welches Sicherheitsrisiko der Täter irgendwann einmal darstellen wird. Diesen Weg halten wir nicht für gangbar.

Aber die Frage der Berücksichtigung von Vorverurteilungen, die in § 66 Abs. 4 StGB normiert ist, halten wir in der Tat für überdenkenswert. Denn neueste wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass gerade Sexualstraftäter länger als nur fünf Jahre straffällig werden können, sogar noch nach 20 Jahren. Über solche Zeiträume reden wir. Da muss genau hingesehen werden, ob wir eine Ver

änderung in § 66 vornehmen müssen, weil die Rückfallgefahr ganz groß ist.

Bei Ihrem Vorschlag einer Datei für Sexualstraftäter werden wir aus datenschutzrechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht genau hinsehen. Ich kann Ihnen für die SPDFraktion ganz klar sagen: Amerikanische Verhältnisse wollen wir in Hessen nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Frage der Doppelbegutachtung, die Sie auch aufgeführt haben, Herr Banzer, ist zweischneidig zu sehen.Aus unserer Sicht kommt es für eine Prognoseentscheidung nicht so sehr darauf an, wie groß die Anzahl der eingeholten Gutachten ist, sondern es kommt maßgeblich auf die Qualität des Gutachters an.Da haben wir in der Praxis bereits jetzt Schwierigkeiten, hoch qualifizierte Gutachter bei Gericht heranzuziehen.

Ihre Forderung nach einer strafbewehrten Therapiepflicht hat noch nicht einmal bei den Rechtspolitikern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Anklang gefunden. Ich denke, dass die Regelung, die wir jetzt bei der Reform der Führungsaufsicht gefunden haben, nämlich die strafbewehrte Vorstellungspflicht, aber nicht die strafbewehrte Therapiepflicht, ein richtiger und gangbarer Weg ist.

Natürlich begrüßen wir als SPD-Fraktion, dass Sie anstreben,Sexualstraftäter umfassender als bisher zu bewachen. Aber man muss ganz klar sagen: Auch in Hessen werden viel zu wenige Sexualstraftäter sozialtherapeutisch behandelt. Dabei wissen wir doch, dass eine wirkungsvolle Therapie das beste Mittel gegen einen Rückfall und damit der beste Schutz künftiger Opfer ist.

(Beifall bei der SPD)

Dazu gehört aus unserer Sicht natürlich, dass therapeutisch notwendige Vollzugslockerungen auch in Hessen wieder angewendet werden müssen.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb brauchen wir in Hessen gerade auch in diesem Bereich einen Paradigmenwechsel, bevor Sie sich hierher stellen und groß Sicherheitsmanager ankündigen. Das ist im Prinzip gut, aber erst einmal müssen Sie die originären Hausaufgaben machen und dann die nächsten Schritte. Das wäre angesagt.

(Beifall bei der SPD)

Herr Präsident, meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend für die SPD-Fraktion festhalten: Für uns gehört zu einer rechtsstaatlichen Rechtspolitik, dass man die Frage des Schutzes vor Sexualstraftätern gewissenhaft und seriös beantwortet, den gesetzlichen Schutz dort verfassungskonform erweitert, wo es erforderlich ist, Anwendungsdefizite in der Praxis beseitigt und keiner Art von Populismus Vorschub leistet. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Hofmann. – Als Nächster hat Herr Dr. Jürgens für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, wer es zufällig gesehen hat:Am letzten Sonntag lief im Fernsehsender „3sat“ eine Sendung unter dem Titel „Verstümmelt, geschlagen, missbraucht!“ über die Situation von Frauen weltweit. Diese Dokumentation begann mit einem Satz, den ich hier sinngemäß aus der Erinnerung zitieren möchte: „Gewalt gegen Frauen ist das am häufigsten verübte Verbrechen, das gleichzeitig am seltensten geahndet wird.“ Dieser Befund wurde nicht für die Bundesrepublik abgegeben, sondern gilt weltweit.

Gewalt gegen Frauen ist natürlich nicht immer, aber sehr häufig auch sexuelle Gewalt. Bei Sexualstraftaten sind die Opfer fast immer Frauen oder Kinder und die Täter fast immer Männer. Wir wissen das nicht zuletzt aus der Antwort der Landesregierung auf unsere Große Anfrage zum Umgang mit Tätern und zum Schutz der Opfer bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Diese Große Anfrage haben wir in der letzten Plenarsitzung debattiert.

Herr Banzer, wir wissen daher auch, dass die Zahlen, die Sie hier hinsichtlich der Verurteilungen zutreffend geschildert haben, natürlich nur eine Wahrheit darstellen. Wir wissen aus den Statistiken der Polizei und der Staatsanwaltschaft, dass es weit mehr Ermittlungsverfahren gibt, die aber nur zu einem kleinen Teil zu Anklagen oder Verurteilungen führen.Die Dunkelziffer wegen ungeklärter Täterschaft oder schwieriger Beweislage liegt hoch. Das spricht dafür, dass die Anzahl der Verurteilungen allein das Ausmaß der sexuellen Gewalt auch bei uns nicht hinreichend abbildet.

Ich stimme dem Minister in einigen Punkten, in einem aber ganz besonders, ausdrücklich zu. Ich wiederhole, was ich bei der letzten Debatte gesagt habe: Hinter jeder Statistik stehen Einzelschicksale. Ob die Aufklärungsquote nun bei 60 % oder 80 % liegt, die Verurteilungsquote bei 20 % oder 50 %, die durchschnittliche Strafzeit bei einem oder bei zwei Jahren,das kann den Opfern egal sein.Denn sie sind immer zu 100 % betroffen – ganz persönlich und ohne Chance statistischer Ausweichmöglichkeiten. Insoweit ist es jederzeit gut und richtig, sich mit dem besseren Schutz von möglichen Opfern vor Sexualstraftaten zu beschäftigen.

Dennoch erhebt sich die Frage: Warum hat der Justizminister heute eine Regierungserklärung ausgerechnet zu diesem Thema abgegeben? Wir haben in der letzten Plenarsitzung über unsere Große Anfrage debattiert – wie ich einräume, zu einer etwas ungünstigen Zeit, am Ende des letzten Plenartages.Aber es hätte auch für den Justizminister die Möglichkeit bestanden, in dieser Runde alles zu sagen, was zu diesem Thema zu sagen ist.

Herr Banzer, Sie können mir nicht einreden, dass die Ideen, die Sie heute hier vorgestellt haben, Ihnen erst in den letzten drei Wochen gekommen sind. Das sind teilweise Dinge, die sich schon seit Längerem in der Diskussion befinden. Wenn Sie jetzt, drei Wochen nach der letzten Landtagsdebatte über dieses Thema, Sexualstraftaten zum Gegenstand einer Regierungserklärung machen, dann stellt sich der etwas schale Beigeschmack einer Instrumentalisierung dieses ernsten Themas für den aufziehenden Landtagswahlkampf ein.