Protokoll der Sitzung vom 05.07.2007

Meine Damen und Herren, das gilt auch für Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir in Deutschland insgesamt 28 Millionen Menschen aufgenommen, die nicht Deutsche waren. Hingegen sind 20 Millionen Menschen ausgewandert. 4 Millionen Aussiedler kamen nach 1990 zu uns. Im Saldo sieht das nicht sehr groß aus, insgesamt sind es nämlich 8 Millionen mehr Menschen.Wir haben aber schon heute gewaltige strukturelle Veränderungen – der Herkunft, der Werthaltung und der Integrationsmöglichkeit und -fähigkeit.

Ich bleibe dabei, wie auch die Kollegen:Wir haben keinen Anlass zu Panikreaktionen. Aber anhand dieser Zahlen will ich deutlich sagen:Wir dürfen das auch nicht bagatellisieren.

Was mich wie auch die Kollegen am meisten ärgert, ist das Verhalten unserer Kollegen aus der Kommunalpolitik. Wir haben sie vier Jahre lang eingeladen, aktiv mit uns hier mitzuarbeiten. Denn sie werden es zuerst spüren.

(Dr. Rolf Müller (Gelnhausen) (CDU): Sehr richtig!)

In Nordhessen, Nordwesthessen, Nordosthessen, im mittelhessischen Raum haben wir strukturelle Veränderungen, die sehr viel härter sind als diejenigen im RheinMain-Gebiet; dort haben wir Verdichtungen und zusätzliche Zuwanderung, sodass dort von dieser Schrumpfung noch keine Auswirkungen zu sehen sind.

Meine Damen und Herren, wer glaubt, einfach darüber hinweggehen zu können, der hat nicht verstanden, dass – anders als in allen anderen internationalen Gesellschaften – die deutschen Sozialsysteme von der Beschäftigungslage abhängig sind.Das ist Tradition seit der Bismarckzeit. Sowohl die Krankenversicherung als auch die Rente und die Pflegeversicherung sind an den Faktor Arbeit und Beschäftigung gekoppelt.

Wenn aber bereits im Jahr 2020 die Bevölkerung geschrumpft ist, dann wird doch niemand in diesem Saal glauben, dass wir noch den gleichen Lebensstandard werden halten können. Das ist die Herausforderung.

Daran darf man nicht erst in zehn Jahren arbeiten, sondern das ist eine Handlungsanweisung für die Legislaturperiode ab dem Jahr 2008. Meine Damen und Herren, der nächste Landtag müsste sich den Bericht dieser Enquetekommission als Pflichtlektüre in jedem Fachausschuss vornehmen, um daraus die Konsequenzen zu ziehen: Was heißt das eigentlich für die einzelnen Bereiche?

(Allgemeiner Beifall)

Verehrte Damen und Herren, vor allen Dingen will ich noch einmal auf die Themen Kinderwunsch und Familiengründung sowie auf die Migration eingehen.In diesen beiden Feldern gibt es große Steuerungsmöglichkeiten.

Meine Damen und Herren, warum gibt es bis zum 30., 35. Lebensjahr bei jungen Männern und Frauen immer noch mehrheitlich den Wunsch, Kinder zu haben, und warum bricht der bis zum 40. Lebensjahr ab? Das ist eigentlich die Herausforderung in allen Bereichen, die wir zu untersuchen haben.

Vor allen Dingen müssen wir uns ehrlich dazu bekennen – angesichts der Vielfalt der Lebensentwürfe und der ganz verschiedenen Lebensformen; natürlich gibt es aufgrund der Entwicklung viel mehr alleinerziehende Frauen als alleinerziehende Väter –, dass angesichts der nicht ehelichen und auch der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften der Familienbegriff neu gedacht werden muss.

(Beifall der Abg. Nicola Beer (FDP))

Für die FDP heißt das: Familie ist dort, wo Kinder sind und wo Generationen Verantwortung füreinander übernehmen.

(Beifall der Abg. Nicola Beer und Florian Rentsch (FDP))

Das können auch Kinderlose sein. Ich bin Tante, und ich glaube, das Institut der „Tante“ muss als Teil einer Verantwortungsgesellschaft wieder neu entdeckt werden, genauso wie das Institut des „Onkels“.

In der neuen Ausgabe der Zeitschrift des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt mit dem schönen Titel „WestEnd“ gibt es zurzeit ein Sonderheft. Das müssen Sie sich alle kaufen. Darin heißt es: „Neue Väter – alles beim Alten.“

(Beifall der Abg. Nicola Beer (FDP))

Das ist unsere Aufgabe: Lassen wir doch endlich die Väter Väter sein. Häufig können sie es gar nicht – aufgrund der wirtschaftlichen Situation, der Arbeitsverhältnisse, der fehlenden Flexibilität, der höheren Bezahlung von Männern als Frauen. Wenn ein Vater aus dem Beruf ausscheidet, um seine Vaterrolle wahrzunehmen, ist das für die gesamte Familie ein finanzieller Verlust. Das ist doch der Punkt.

Ich erinnere mich, vor 15 Jahren habe ich mit Alfred Schmidt, Dieter Posch und Wolfgang Gerhardt einen Kongress für die Naumann-Stiftung zum Thema Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen und Teilzeit veranstaltet.Dort habe ich eine heftige Debatte mit der Vertreterin des DGB geführt.Die hat gesagt,Teilzeit ist nicht der richtige Weg. Ich habe gesagt: doch, Teilzeit für Frauen und Männer. Hätten wir vor zehn Jahren damit begonnen, dann hätten wir heute ein anderes Familienbild. Das muss endlich auch in die Köpfe der Leute hinein.

(Beifall der Abg. Nicola Beer (FDP))

Meine Damen und Herren, es wird in Deutschland sehr viel Geld für Kinderbetreuung ausgegeben. Ich sage Ihnen bei aller Kritik, die wir haben, weil man das noch verbessern kann:Wenn Sie die Summe der Mittel für die Kinderbetreuungsmaßnahmen – einschließlich der Finanztransferleistungen und der Kosten für die Einrichtungen – sehen, dann muss man doch etwas ganz anderes konstatieren. Kinderbetreuung in Deutschland ist durch hohe Geldtransferleistungen gekennzeichnet – allerdings ohne Treffsicherheit. Das ist doch das Problem.

Ich bin der tiefen Überzeugung – meine Damen und Herren, darin werden wir uns sicherlich unterscheiden –, dass wir ein einfacheres Steuersystem brauchen,

(Beifall der Abg. Nicola Beer und Florian Rentsch (FDP))

das nicht über Mindestlöhne diskutiert,sondern über Einkommensverhältnisse, die es erlauben, dass wieder Familien zustande kommen. Als FDP-Frau sage ich das ganz bewusst: Wir müssen über die Fragen sprechen, die Herr Solms und Herr Kirchhof aufgeworfen haben.Wir müssen die Familien überhaupt von Steuern befreien.

Dann brauchen sie keine Transferleistungen mit hohen Bürokratiekosten zu erhalten. Wir müssten eine einfache Regelung haben, bei der es ganz klar ist: Die Familien haben erst ab einem bestimmten Einkommen Steuern zu zahlen; wenn ihr Einkommen unter dieser Grenze liegt, brauchen sie das nicht.

Anders als Herr Dr. Spies will ich zu diesem Punkt sagen: Offensichtlich ist es so, dass bei den gut ausgebildeten Menschen der jungen Generation – Frauen und Männern – der Kinderwunsch in einer bestimmten Situation verloren geht und sie sagen:Wir wollen keine Kinder haben; finanzielle Fragen, die Karriere und die ständige Flexibilität am Arbeitsplatz machen dies unmöglich.

Trotzdem müssen wir alles tun, um dafür zu sorgen, dass mehr Kinder geboren werden. Natürlich müssen wir das versuchen. Sie sagen, wir können nichts daran ändern, dass nicht mehr Kinder geboren werden. Doch, die FDP will, dass es in diesem Land mehr Kinder gibt. Sie wird alles daransetzen, um die Bedingungen dafür zu schaffen, dass der Kinderwunsch auch in die Realität umgesetzt werden kann.

Lassen Sie mich zu dem Thema Migration – das ist die zweite Möglichkeit der Einflussnahme auf das Bevölkerungswachstum – die harten Fakten nennen. Ich habe schon die Zuwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg erwähnt. Wenn wir, so sagen die Fachleute, die heutige Bevölkerungszahl Hessens, nämlich 6,1 Millionen Einwohner, konstant halten wollen, brauchen wir eine jährliche Zuwanderung von 33.000 Menschen.In ganz Deutschland müssten es jährlich 450.000 Zuwanderer sein. Wenn wir die Zahl der Erwerbstätigen – die so wichtig für die sozialen Versicherungssysteme sind – konstant halten wollen, brauchen wir in Hessen eine Zuwanderung von 44.000 Menschen jährlich,in ganz Deutschland von 600.000 Menschen jährlich. Das widerspräche allen Möglichkeiten der Integration. Das würde diese Gesellschaft nicht aushalten.

Zu der Frage, wie man eine gezielte Zuwanderung organisieren kann – Herr Kollege Müller und Herr Beuth haben das angesprochen –: Als einzigen Punkt erwähne ich, dass das vor allem die Partner in Berlin betrifft. Sie müssen endlich das ändern, was im Ausländergesetz steht. Dort heißt es nämlich, dass die Verdienstgrenze für Zu

wanderer bei einem Einkommen von 80.000 c pro Jahr liegt.

Frau Kollegin Wagner, ich bitte Sie, zum Ende Ihrer Rede zu kommen.

Kurz und bündig: Der Durchschnittsverdienst in Hessen liegt bei 45.000 c. Das ist unglaublich hoch.Wir brauchen dringend eine Veränderung dahin gehend, dass gut qualifizierte Leute, die uns hier fehlen, einen Anreiz haben, nach Hessen – nach Deutschland – zu kommen.

(Beifall bei der FDP)

Ich will Ihnen jetzt nur stichwortartig sagen – es tut mir leid, dass es nicht anders geht –: Integration ist eine der wesentlichen Voraussetzungen. Vor allen Dingen geht es aber auch um die Verbindung zwischen Arbeitsplätzen sowie Bildung und Hochschulbildung. So ist z. B. beides miteinander in Verbindung zu sehen: die Bildungsbeteiligung von Mädchen und die Erwerbstätigkeit von Frauen. Das betrifft vor allem Mädchen mit Migrationshintergrund. 70 % der türkischen Schulabgängerinnen fangen keine Ausbildung an und werden auch nicht erwerbstätig.

Schließlich: Wenn wir die Schwierigkeiten bei dem Übergang zwischen Schule und Beschäftigung nicht lösen, bekommen wir ein sehr großes Problem.Nach den Aussagen der Bundesagentur für Arbeit schicken wir etwa ein Drittel der Schulabgänger in Beschäftigungsmaßnahmen, die 8.000 c pro Kind kosten. Das ist eine Vergeudung von Geld.

Es wäre eine Herausforderung, die 8.000 c, die in Beschäftigungsmaßnahmen gesteckt werden, stattdessen in schulische Maßnahmen zu investieren, um die Qualifizierung in der Schule zu verbessern. Wer das nicht macht, macht die Schule kaputt, gibt den Kindern keine Chance und sorgt dafür, dass sich die Frage nach der weiteren Existenz des dualen Systems stellt. Das sind die Herausforderungen, die auf uns zukommen.

(Beifall bei der FDP)

Frau Wagner, ich darf Sie noch einmal bitten, zum Schluss zu kommen.

Ich komme zum Schluss. – Ich glaube trotz allem, dass die Abnahme der Bevölkerungszahlen, das höhere Durchschnittsalter der Bevölkerung und die Veränderung der Lebensverhältnisse keine Katastrophe sind. Aber in diesem Zusammenhang will ich für die FDP-Fraktion auch sagen: Es gehört mit dazu, die Staatsverschuldung zurückzuführen; denn einer zahlenmäßig kleineren Generation die Schulden von heute aufzubürden ist unverantwortlich.

(Beifall bei der FDP)

Zusammen mit dieser Empfehlung darf ich noch einmal sagen: Ich bedanke mich bei allen Kollegen. In der nächsten Legislaturperiode muss dies die Pflichtlektüre für die Mitglieder aller Fachausschüsse werden. Das ist meine

große Bitte an alle Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich dann nicht mehr zusammenarbeiten kann.

(Beifall bei der FDP)

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Wagner. – Auf der Besuchertribüne begrüße ich nun den Botschafter der Sozialistischen Republik Vietnam mit seiner Delegation. Herr Tran Duc Mau, herzlich willkommen.

(Allgemeiner Beifall)

Als Nächster hat Herr Staatsminister Grüttner für die Landesregierung das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich teile uneingeschränkt die Auffassung, die Frau Kollegin Wagner eben dargelegt hat. Der Abschlussbericht sollte nicht nur für die Abgeordneten der kommenden Legislaturperiode,sondern auch für die der laufenden Legislaturperiode eine Pflichtlektüre sein. Er sollte auch eine Pflichtlektüre für diejenigen sein, die sich auf kommunaler Ebene politisch engagieren.

Ich denke, mit der Vorlage dieses Berichts ist deutlich geworden, dass die Gestaltung des demografischen Wandels wahrscheinlich die wichtigste Aufgabe ist, die wir in Zukunft zu bewältigen haben. Deshalb will ich an dieser Stelle den Vertreterinnen und Vertretern der Enquetekommission ein herzliches Dankeschön dafür sagen, dass sie sich dieser großen Aufgabe unterzogen und eine solch umfassende Bestandsaufnahme des demografischen Wandels und seiner Konsequenzen vorgenommen haben. Auf dieser Basis haben sie auch Empfehlungen erarbeitet, wie man dieser Herausforderung begegnen kann.

Ich kann für die Landesregierung sagen – darin bin ich sehr sicher –, dass wir diese Empfehlungen und Handlungsvorschläge ernsthaft prüfen und in die administrative Arbeit einbeziehen werden. Die Befürchtung, die der Vorsitzende der Enquetekommission, Herr Dr. Müller, geäußert hat, dass der Abschlussbericht mit einer Drucksachennummer versehen im Archiv verschwindet, wird sich insofern nicht bewahrheiten.

(Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Ich komme vorbei und gucke nach!)