Protokoll der Sitzung vom 18.09.2003

Gestatten Sie mir stattdessen wenige Andeutungen zu meinem Amtsverständnis. Als Wissenschaftler bin ich es gewohnt, zunächst alles infrage zu stellen, und als Jurist, alles zweimal infrage zu stellen.

(Allgemeiner Beifall)

Damit uns der Realitätsbezug natürlich nicht verloren geht – –

(Gerhard Bökel (SPD): Sie merken, hier sind 20 % Juristen!)

Im Landtag 20 % Juristen? – Das sind zu wenige.

(Beifall und Widerspruch – Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In der Regierung sind es mehr!)

Ich habe mir drei Fragen gestellt und wollte zwölf Minuten reden. Ich hoffe, dass ich das einhalten kann.

Die erste Frage lautet: Braucht das Land Hessen einen Datenschutzbeauftragten? – Es ist eine Stelle, die Haushaltsmittel verschlingt. Bei jeder Institution, die Haushaltsmittel verschlingt, muss man fragen, ob sie nötig ist oder nicht.

Trotz Rasterfahndung, Terrorismusbekämpfung, DNAAnalysen und ähnlicher spannender Themen ist der Datenschutz etwas aus den Schlagzeilen geraten.Er segelt im Windschatten der konträren Entwicklung hin zu einer transparenten Verwaltung. Das Datenschutzrecht weicht dem Informationsverwaltungsrecht. Mit dem alten Schreckensbild des „gläsernen Bürgers“ kontrastiert die Wunschvorstellung der „gläsernen Verwaltung“ und auch der „gläsernen Politiker und Politikerinnen“.

Gegen eine transparente Verwaltung ist an sich nichts einzuwenden. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die im Grundgesetz nur kümmerlich garantierte Informationsfreiheit zu einem unbegrenzten Informationsanspruch aufgerüstet wird, der über das behördliche Betriebsverhältnis hinaus auch auf die Intimsphäre der öffentlichen Bediensteten und Politikerinnen und Politiker durchschlägt und mittelbar die informationellen Selbstbestimmungsrechte von außen stehenden Bürgern verletzt.

Der Datenschutz, nicht einmal der in Hessen, versteht sich nicht so, dass Kontrolleinrichtungen obsolet geworden wären. Im Gegenteil: Mehr denn je – auch unabhängig von den datenschutzrechtlichen Gefahren des Internets – ist ein unabhängiges Kontrollorgan im Interesse des Datenschutzes unverzichtbar.

Ein Datenschutzbeauftragter wird gebraucht. Damit ist die Frage natürlich noch nicht beantwortet, warum das

Land Hessen einen Datenschutzbeauftragten in der Gestalt einer staatlichen Einrichtung braucht. Das führt zur zweiten Frage – jetzt werden Sie bitte nicht zu frustriert, aber ein Hochschullehrer muss ab und zu Bildungsgut absondern, da hilft nichts, da müssen Sie durch –:

(Allgemeine Heiterkeit)

Warum leisten sich die Deutschen – und speziell die Hessen – einen Staat? Warum die Entscheidung eines Verfassungsgebers für einen sozialen Rechts- und Bundesstaat? – Die Antwort ist trivial. Die Entscheidung wurde getroffen, weil man an die Staatlichkeit bestimmter Erwartungen knüpfte. Wer ein Gemeinwesen als Staat organisiert, will, dass dieses Gemeinwesen wie ein Staat funktioniert, also die Wesensmerkmale eines Staates aufweist.

Die Merkmale der Staatlichkeit hängen mit dem Staatszweck zusammen.Bestimmte Minimalzwecke machen ein Gemeinwesen zum Staat. Bitte sehen Sie mir nach, das klingt jetzt wie Nachhilfeunterricht,aber es ist immer wieder in Vergessenheit geraten: Die Merkmale sind erstens zunächst einmal der Wille der Selbstbehauptung nach außen – auch die Entscheidungsmöglichkeit, sich an einem Krieg einmal nicht zu beteiligen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das zweite Merkmal ist das Gewalt- und Rechtsetzungsmonopol nach innen. Hinzu kommt die Wahrung der kulturellen Identität,nicht verstanden als Leitkultur,sondern als Wertegemeinschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Das dritte Merkmal ist er die Gewährleistung einer angemessenen Infrastruktur: Straßen, Schienen, Flughäfen und dergleichen. Auch das muss uns der Staat sicherstellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Beifall kommt nicht aus jeder Richtung.

(Heiterkeit bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Außerdem gehört die Daseinsvorsorge – Energieversorgung, ÖPNV, Bildung, Rundfunk, Krankenversicherung und Altersvorsorge – hinzu. Alles das sind Zwecke eines Gemeinwesens, die einen Staat erfordern.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Im Zentrum der Staatlichkeit steht dabei das Gewaltmonopol. Es bedeutet nicht nackte Gewalt, sondern ein Monopol legitimen Zwangs, und ruht auf dem Massentatbestand der Loyalität.

Loyalität kann allein mit Gewaltmaßnahmen nicht erzwungen werden. Das Gewaltmonopol lässt sich nur durchhalten, wenn der Gewaltinhaber die Gewaltunterworfenen in ihren Lebensbedingungen vor ihren Mitmenschen wirksam schützt, indem er deren Freiheit beschränkt.

Freiheitsbeschränkungen erfordern Akzeptanz. Menschen lassen sich nicht ohne Weiteres durch den Staat in ihrer Freiheit beschränken. Das erklärt die Forderung nach Grundrechten, verstanden als Abwehrrechte gegen den Staat,und einer Legitimation der Staatsgewalt bei unvermeidbaren Grundrechtseingriffen. Beides sind Elemente des Verfassungsstaats.

Die im Verfassungsstaat für jede Grundrechtsverletzung notwendige Legitimation erfolgt nicht allein daraus, dass der Staat den Grundrechtsträger vor Dritten schützt, sondern weiter gehend daraus, dass er die Grundrechtsverwirklichung im Verhältnis gegenüber Dritten ermöglicht. Die Grundrechte markieren die Reichweite unseres – im Rahmen des Staatesverbands – in Freiheit möglichen Daseins.

Garant der Freiheit ist der Staat, im sozialen Rechtsstaat nur als Garant der individuellen Daseinssicherung.Wie er das im Einzelnen macht, ist eine Frage der konkreten Staatsaufgaben.

Wenn ich schon von konkreten Staatsaufgaben rede, werde ich gleich die für alle spürbarste Freiheitsbeschränkung anführen, die, unter der wir alle am stärksten leiden, die Abgabenlast. Diese nehmen wir nicht nur deswegen hin, weil die Polizei für unsere Sicherheit sorgt, sondern weil der Staat für uns die Voraussetzungen für ein zivilisiertes Leben gewährleistet.

Der Staat darf sich an seinen Aufgaben nicht überheben. Aber wir dürfen erwarten, dass er seine originären Hausaufgaben erfüllt. Das ist eine Aufgabe, die auch von Ihnen wahrgenommen wird.

Nach alledem ist der Staat unentbehrlich. Aber in seiner umfassenden Aufgabenstellung wirkt er bedrohlich. Deswegen gilt es, die Staatsgewalt zu verteilen, den Staat überschaubarer zu machen und ihn uns näher zu bringen. Dies ist eine der Rechtfertigungen des Föderalismus. Damit wir uns nicht in regionalen Egoismen verlieren, spricht das Grundgesetz vom „sozialen Bundesstaat“. Ich höre in politischen Diskussionen sehr selten das Argument, dass die Bundesrepublik ein sozialer Bundesstaat ist,

(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr.Andreas Jür- gens (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

sondern nur, dass sie ein sozialer Rechtsstaat ist. Sozialer Bundesstaat bedeutet, dass in den Ländern und im Bund, in Stadt und Land im Grunde gleichwertige Lebensbedingungen bestehen müssen. Die Kilometer-Entfernungspauschale erwähne ich hier nur am Rande.

Ich kürze ab. Es sprechen gute Gründe für die Verteilung der Staatsgewalt auf Bund und Länder.

Um die zweite Frage zu beantworten: Selbstverständlich muss Hessen ein Staatsgebilde bleiben. – Was hat das alles mit dem Datenschutz zu tun? – Sehr viel.Legitime Gewalt bedeutet Macht, und Macht kann missbraucht werden. Der moderne Staat – von Gestapo- und Stasi-Regimen rede ich gar nicht –,der moderne Verfassungsstaat mit seiner Vielzahl von Aufgaben kann sich sehr leicht zum gut gemeinten Polizeistaat, zum Wohlfahrtsstaat zurückentwickeln, der dazu neigt, die Bürger zu bevormunden.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Der aufgeklärte Polizeistaat war weniger deswegen von Übel, weil die Polizei ungezügelt die Untertanen hätte misshandeln dürfen. Sein wichtigstes Machtmittel war nicht – und jetzt wird es gebildet – das ius politiae,sondern das ius supremae inspectionis.Die Juristen werden wissen, was damit gemeint ist.Das hat mit Käse nichts zu tun,sondern das ius supremae inspectionis ist das Oberaufsichtsrecht, das es dem Staat ermöglichte, alle Untertanen, Kommunen, Schulen, Universitäten und die Presse zu bespitzeln. Noch vor knapp 160 Jahren hieß es im Standard

lehrbuch des Staatsrechts des Deutschen Bundes, der Staat habe „die Augen auf alles,nicht die Hände in allem“.

Angesichts der heutigen Möglichkeiten der Datenerfassung, Prof. von Zezschwitz hat sie in seiner Rede angekündigt – – Angedeutet, nicht angekündigt, um Gottes willen, hoffentlich nicht.

Angesichts der heutigen Möglichkeiten der Datenerfassung, -vernetzung und -verarbeitung ist ein derartiges Staatsverhältnis selbstverständlich nicht akzeptabel. Umfassende Staatsaufgaben erfordern einen umfassenden staatlichen Datenschutz.

Aber der Datenschutz ist nur eine Staatsaufgabe unter anderen. Man darf auch beim Datenschutz nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Der Staat benötigt zur effektiven Aufgabenerfüllung Kontrollmöglichkeiten, die ihm auch der Datenschutz nicht verwehren darf. Aus der Oberaufsicht ist längst die Kommunalaufsicht, die Rundfunkaufsicht, die Wirtschaftsaufsicht, die Umweltaufsicht geworden – alles unverzichtbare Rechtseinrichtungen.

In all diesen Bereichen muss der Datenschutz angemessen berücksichtigt werden. Er ist aber dann genauso dem Gemeinwohl unterworfen wie alle Instanzen,die in diesen Bereichen tätig sind.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Ich beabsichtige nicht, mich zum Freiheitsgaranten gegenüber jeglichen staatlichen Datenzugriffen aufzuschwingen, sondern werde sorgfältig abwägen, ob ein Datenzugriff nicht erst den Freiheitsgebrauch der Mitbürger ermöglicht.

Im Rahmen der selbstverständlichen Bindung an Gesetz und Recht ist es mein Anliegen – das sicherlich auch von meinem Amtsvorgängern, wenngleich mit unterschiedlicher Akzentuierung, geteilt wurde – ein ausgewogener Datenschutz: dem Gemeinwohl verpflichtet, aber leben und leben lassen. Nicht, dass Sie das jetzt negativ sehen, sondern die Notwendigkeiten der Datenerfassung sind genauso zu sehen wie die Notwendigkeiten des Datenschutzes.

Die abschließende dritte Frage – ich habe die zwölf Minuten Redezeit fast schon erreicht – stelle ich nur in den Raum. Sie lautet: Traf der Hessische Landtag eine sinnvolle Entscheidung, gerade mich zum Datenschutzbeauftragten zu wählen?

Diese Frage müssen Sie sich zu gegebener Zeit selbst beantworten. Ich hoffe, Sie bereuen Ihre Entscheidung nicht schon jetzt.

Zwei Bemerkungen zum Schluss. Sachwidrig war es jedenfalls nicht, einen in Baden-Württemberg tätigen Hochschullehrer heranzuziehen – schon allein deshalb nicht, weil wir auf Sparsamkeit geimpft sind, das ist nicht Geiz zu nennen, aber Sparsamkeit –, einen Hochschullehrer,der Affinitäten zu Hessen hat.Meine Tochter wurde in Viernheim geboren, und eine engere Bindung ist schlechterdings undenkbar.

(Allgemeine Heiterkeit)