Protokoll der Sitzung vom 18.12.2003

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Aus diesen Daten müssen wir Konsequenzen ziehen, und zwar in folgende Richtung.Wir haben einen Vorschlag gemacht, und ich glaube, damit sind wir mit der Union deutlich kongruenter als mit Ihnen. Wir wollen die weitgehende Loslösung der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme von den Arbeitskosten,den Aufbau von privaten Kapitalstöcken.

Meine Damen und Herren, das andere Problem ist die Wirtschaftslage. Frau Kollegin Oppermann hat darauf hingewiesen.

(Zurufe der Abg. Petra Fuhrmann (SPD) und Dr. Andreas Jürgens (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Die Arbeitslosigkeit steigt immer weiter, die Zahl der Erwerbstätigen in diesem Land sinkt zunehmend. Die Unternehmen setzen weiterhin auf Personalabbau, um sich über Wasser zu halten. Die Steuereinnahmen gehen zurück. – Derzeit befinden wir uns auf dem Niveau von 1998, im Jahre 2003. Das sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben der öffentlichen Haushalte.

Meine Damen und Herren, um es volkstümlich zusammenzufassen: Die fetten Jahre sind in diesem Lande vorbei. Jetzt kommen die mageren Jahre auf uns zu. Darauf müssen wir uns einstellen.

Konkret: Wir werden auch nicht darum herumkommen, die Sozialpolitik in diesem Land und die Solidarität neu zu justieren. Eine Neujustierung der Sozialpolitik bedeutet für uns vor allem, dass die Beziehung zwischen dem Bürger und dem Staat neu zu bestimmen ist. Das ist die Frage nach Pflichten und Rechten auf beiden Seiten. Das ist die Frage, was in der Verantwortung des Einzelnen und was in der Verantwortung des Staates liegen soll. Das ist die Frage, wie viel Geld wir ausgeben können und wofür. Das ist die Frage, auf welchen Feldern der Einsatz von knapper werdenden Mitteln sich wirklich lohnt und wirklich einen Effekt hat.

Das sind die Fragen, die wir als Staat uns stellen müssen. Darum kommen wir nicht herum.

Wir werden zwangsläufig zu Einschnitten kommen müssen. Sie sind überfällig. Wenn Sie sich überlegen, dass die Nettokreditaufnahme in Hessen in diesem Jahr gerade einmal dazu ausreicht, um ein Drittel der Zinsen in diesem Land zu zahlen, dann muss man doch mit Blindheit geschlagen sein, wenn man hier keinen Handlungsbedarf erkennt.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Dabei ist eines klar: Das Wünschenswerte kann nicht alleinige Richtschnur für die konkrete Ausgestaltung der Sozialpolitik sein. Vielmehr wird in Zukunft Richtschnur sein müssen, welche Basisleistungen an sozialen Hilfen vorgehalten werden müssen, wie viele Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden können – und das ist es.

Natürlich geht es da schon um die Frage, welche Verantwortung jeder einzelne Bürger übernimmt. Welche Verantwortung können die Bürger übernehmen, die in diese sozialen Sicherungssysteme einzahlen?

Dieses Gleichgewicht ist in diesem Land völlig gestört. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Störung aufgehoben wird.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von der SPD)

Die CDU hat unsere Unterstützung, wenn es darum geht, auch im Sozialbereich zu sparen. Frau Ministerin, wir haben das nie kritisiert. Unsere Fraktion hat eine relativ große Anzahl von Änderungsanträgen vorgelegt, in denen Sie unsere Alternativen nachlesen können.

Meine Damen und Herren, einen der gravierendsten Mängel möchte ich noch ausdrücklich ansprechen. Die Landesregierung tut hier den zweiten Schritt vor dem ersten: Sie kürzt zuerst und macht sich anschließend an die Aufgabenkritik. Umgekehrt muss es sein. Das haben wir von allen Kolleginnen und Kollegen gehört. Früher haben wir das auch von der Union gehört. Das hat die CDU versäumt – die Aufgabenkritik vorzunehmen und dann zu den Kürzungen zu kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN))

Ich bin traurig darüber, dass ich jetzt von der anderen Seite dieses Hauses keinen Applaus mehr bekomme – der Applaus wechselt gerade seine Seite.Aber gut, das akzeptiere ich.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP):Wir sind gerade die Wächterin der Mitte, Herr Kollege! – Zuruf des Abg. Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU))

Meine Damen und Herren,offenbar hat Ihnen der Mut zu einer Aufgabenkritik gefehlt. Stattdessen werden formale Aspekte in den Vordergrund gestellt, z. B. die Kreisgrenzen. Das ist auch wichtig. Aber es ist wirklich nicht ausschlaggebend.Wir hätten etwas anderes von Ihnen erwartet. Sie haben früher gesagt, Sie wollten intelligente Konzepte. In diesen Konzepten können wir leider keine Intelligenz erkennen.

(Petra Fuhrmann (SPD): Das ist ausgesprochen dumm!)

Wir verlangen von Ihnen, dass Sie eine strikte Evaluation der sozialen Hilfen vornehmen, die zur Basis aller Entscheidungen wird. Wir brauchen eine Evaluation, eine Leistungs- und Effizienzkontrolle im Sozialbereich. Dazu werden wir Ihnen im März einen Antrag vorlegen. Ich

hoffe, wir werden im Ausschuss darüber eine sehr ergiebige Diskussion führen. Denn alle Fraktionen in diesem Hause haben darüber gesprochen, dass wir Leistungskontrollen im Sozialbereich wollen, Effizienzkontrollen. Ich hoffe, dass wir dann dort auch zu einem gemeinsamen Vorgehen kommen können.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss noch einmal umreißen, was für uns Liberale Sozialpolitik bedeutet. Ich muss das ansprechen, weil die FDP hier eine Vorreiterrolle einnimmt.

(Widerspruch bei der SPD)

Das wird von einigen Kollegen immer wieder negiert. Aber die FDP nimmt hier wirklich eine Vorreiterrolle ein. Wenn Sie nämlich sehen,welche liberalen Konzepte wir in den vergangenen Jahren vorgelegt haben, so sehen Sie, dass diese wegweisend waren.

Ich will nur das Thema Bürgerversicherung nehmen. Die Bürgerversicherung ist ein System, das letztendlich einen Solidargedanken enthält. Diesen Solidargedanken können Sie auch bei uns erkennen.Wir haben den Solidargedanken z. B. beim Bürgergeld eingebaut. Das Bürgergeld ist so intelligent gestaltet, dass die Eigenverantwortung des Menschen nicht völlig weggewischt wird – wie Sie das bei der Bürgerversicherung machen wollen.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, ich will hier auch ganz klar erwähnen – weil wir auch Bürgerinnen und Bürger des Landes hier haben –: Sehen Sie z. B., welche Vorreiterrolle die FDP bei der Steuerpolitik eingenommen hat? Wir haben ein Konzept vorgelegt mit den Stufen 15, 25, 35 %.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Herr Pinkwart!)

Der Kollege Merz legte dann ein Konzept vor, das jeweils um 1 Prozentpunkt vom FDP-Konzept abweicht, sonst ist es komplett das Gleiche. Dann müssen wir uns schon fragen, ob der Union nichts Besseres eingefallen ist, als den Kopierer anzuwerfen, das Vorblatt auszutauschen und dort „Friedrich Merz“ draufzuschreiben.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN):Was haben Sie gemacht, als Sie 16 Jahre lang an der Regierung waren?)

Meine Damen und Herren, das ist wirklich kein sehr angenehmer Zug gewesen.

(Beifall bei der FDP und der Abg. Kordula Schulz- Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Meine Damen und Herren, ein zentraler Ansatz unserer liberalen Sozialpolitik ist eine Erkenntnis, die vor allen Dingen bei SPD und GRÜNEN noch nicht angekommen ist. Meine Damen und Herren, Gerechtigkeit ist etwas anderes als Gleichheit. Gerechtigkeit ist nicht dort, wo Gleichheit besteht. Es ist wirklich ein Irrglaube – Frau Ypsilanti, das haben Sie gerade vorgetragen –, wenn man diese Begriffe gleichsetzt.

Ausdruck dieses Irrglaubens ist es, dass man immer mehr Geld verteilt, nach dem Motto: Gerecht ist, wenn alle gleich viel haben. – Es findet eine nie da gewesene Umverteilung in diesem Land statt.

Dahinter steht die Frage, wer denn gerechterweise wie viel vom großen Kuchen abbekommen darf.

(Zuruf des Abg. Jörg-Uwe Hahn (FDP))

Dieser Kuchen aus Subventionen, Sozialleistungen, Steuervergünstigungen und vielem anderen mehr ist in all den Jahren immer größer geworden. Aus einer Tasche wird dem Bürger etwas genommen, damit man es ihm auf der anderen Seite wieder einstecken kann.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP):Aber nur die Hälfte!)

Aber das erhöht nicht das Maß an Gerechtigkeit, sondern es erhöht den Neidfaktor in unserer Gesellschaft

(Beifall bei der FDP)

und dient vor allen Dingen der Befriedigung verschiedener Interessensgruppen. Der Begriff Gerechtigkeit degeneriert zu einem der am meisten missbrauchten Begriffe unserer Zeit. Warum? – Es liegt daran, dass er in diesem Land auf alle möglichen Umverteilungsmechanismen angewendet wird. Unsere Systeme der sozialen Sicherung dienen nicht mehr vorrangig dazu,den Einzelnen vor Notlagen zu schützen – das sollten sie nämlich einmal.Sie sind zu einem Mechanismus geworden,um Einkommen umzuverteilen.Diese Gleichmacherei ist zutiefst ungerecht und nimmt den Menschen vor allen Dingen die Chance,sie aus eigener Kraft zu verbessern.Sie bestraft die Fleißigen und belohnt tendenziell die Trittbrettfahrer.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Für uns Liberale ist hingegen gerecht, wenn wir den Menschen die Möglichkeiten geben, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und die Früchte ihrer Arbeit selbst zu ernten. Eigeninitiative muss belohnt werden. Es muss sich lohnen, in Deutschland wieder Verantwortung zu übernehmen und Eigeninitiative zu erbringen. Das ist ein unschlagbarer Anreiz für jeden einzelnen Menschen, und das muss es auch sein. Die momentane Situation sieht so aus, dass derjenige, der sich bemüht, hinten herunterfällt. Wir müssen weg von der Vollkaskomentalität, die dem Bürger eine Versorgung von der Wiege bis zur Bahre vorgaukelt.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, das war eine Zeit lang möglich, als die Wirtschaft boomte und dieses Land Vollbeschäftigung erlebt hat, als die Kassen voll waren. Diese Zeit ist lange vorbei.Wir müssen unser Leben darauf einstellen. Für uns Liberale sind Freiheit und Verantwortung untrennbar miteinander verbunden. Freiheit bedingt Verantwortung, und Verantwortung bedingt Freiheit.

Herr Kollege Rentsch, kommen Sie bitte zum Schluss Ihrer Rede.

Ich brauche noch eine Viertelstunde – nein, ich werde mich beeilen.

(Heiterkeit)