Protokoll der Sitzung vom 19.03.2004

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist schon etwas seltsam, dass bei dem Thema Kinder, das für alle Parteien ein Schwerpunkt ist,hier eine so gähnende Leere herrscht.Auf der anderen Seite hat sich bisher auch schon gezeigt, dass alle recht nah beieinander sind. Ich hoffe, dass wir im Fachausschuss auch tatsächlich zu Gemeinsamkeiten kommen und endlich etwas passiert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Kinder haben in jeder Lebensphase das Recht, angemessene und qualitativ hochwertige Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungsangebote zu erhalten.Vor Schuleintritt und neben der Familie spielen Kindergärten und Kindergruppen dabei eine ganz wesentliche Rolle. Eltern haben auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein Recht auf Verbindlichkeit und hohe Qualität dieser Angebote für ihre Kinder. Wir sind der Meinung, dass, wenn die Angebote eine gute Qualität haben, die Eltern diese auch ohne Pflicht wahrnehmen werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um die Kinder in ihren Entwicklungen besser zu fördern, müssen die Einrichtungen dabei unterstützt werden, zu ganzheitlichen Betreuungseinrichtungen zu werden. Stärker als bisher muss ein altersangemessenes frühes Lernangebot entstehen. Dabei sollen Kinder aus sozial benachteiligten Familien ebenso gefördert werden wie Kinder aus Migrantenfamilien, die gezielt gefördert werden müssen. Frau Ministerin, die Sprachförderung ist sicherlich ein wichtiger, aber nicht der einzige Baustein. Kindergärten müssen zu Bildungsgärten werden. Wir GRÜNE haben auf diesen Begriff keinen Patentschutz angemeldet. Was für uns im Vordergrund steht, ist, dass sich jetzt endlich etwas tut.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Seit über einem Jahr kündigt die Landesregierung Großes an: die so genannten Biebricher Thesen von 2002, eine Fachtagung im Jahr 2003 und dann einen runden Tisch. Wenn die Landesregierung so weiter macht, sind die Kinder, die heute in Kindergärten sind, kurz vor dem Schulabschluss.

Hessen braucht endlich einen Bildungsplan, wie ihn im Übrigen schon eine ganze Reihe von Bundesländern hat,

der der umfassenden Persönlichkeitsentwicklung des Kindes verpflichtet ist. Dies ist schon erwähnt worden. Alle Kinder ab drei Jahren sollten einen Kindergarten besuchen können.Unser Ziel ist es – es ist auch vorhin schon einmal angesprochen worden, da zeigt sich eine weitere Einigkeit in diesem Haus –, dass alle Altersstufen kostenlosen Zugang zur Bildung haben. Keinem Kind sollte wegen seiner sozialen Herkunft der Zugang zur Bildung verweigert werden können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Rolf Müller (Gelnhausen) (CDU): Der Besuch bei einer Plenarsitzung gilt als Bildungseinrichtung!)

Herr Dr. Müller, in der frühen Kindheit werden Grundlagen für alle nachfolgenden Bildungsprozesse gelegt. Kinder lernen mit und voneinander das soziale Verhalten, sie entwickeln ihre körperliche Geschicklichkeit, sie bilden ihr Sprachvermögen aus, die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit wird eingeübt, und die Fantasie und das Denken entstehen.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Das haben Sie aber schön formuliert!)

Lassen Sie mich an einem Beispiel, das mich sehr berührt hat, kurz das Problem darstellen, das sich zunehmend in unserer Gesellschaft stellt. Ich war in einer Einrichtung der Lebenshilfe. Dort wurde mir gesagt, dass zunehmend Kinder in die Frühförderung kommen, die nicht mehr in der Lage sind,rückwärts zu laufen.Dieses Defizit entsteht dadurch, dass sie in ihren Familien nicht mehr rückwärts laufen lernen – ich will das hier gar nicht bewerten. In bestimmten Einrichtungen, die sich um Kinder mit Entwicklungsstörungen kümmern, haben wir enorme Zuwächse von solchen Kindern. Ich denke, dass es eine Verpflichtung der Politik, aber auch der Gesellschaft insgesamt, gibt, solche Situationen zu verhindern und diese Familien zu unterstützen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wissen, dass Eltern vieles leisten können und müssen. Wir wissen aber auch, dass sie es nicht immer leisten können. Sie können es nicht den ganzen Tag über leisten, und es können eben auch nicht immer alle Familien leisten. Vielfältigkeit der Anregungen für die Kinder ist das Ziel. Wir müssen die Lernfreunde der Kinder fördern. Sie sollen lernen, mit Grenzerfahrungen und Normen umzugehen. Sie sollen Lernstrategien entwickeln und vermittelt bekommen, die sie ihr Leben lang nutzen können und die ihnen einen Platz in der Gesellschaft ermöglichen.

Experimentierbereiche,Mal- und Schreibwerkstätten und Computerecken sind genauso wichtig wie Spielecken, Bücherecken, Kuschelmöglichkeiten, Räume zur Sinnesförderung,Theatergruppen usf.

(Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kuschelecken! – Dr. Rolf Müller (Gelnhausen) (CDU): Die finden Sie im Landtag auch!)

Wir brauchen keine Pflicht von Kindern zum Besuch von Kindergärten. Was wir brauchen, ist die Pflicht der Einrichtungen, den Kindern gezielte Lernanreize zu geben. Hier brauchen wir tatsächlich die Pflicht, damit die Kinder ihre Persönlichkeit und ihre Fähigkeiten umfassend entwickeln können. Deswegen werden wir auch den Antrag der FDP in seiner jetzigen Form ablehnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Schade!)

In unserer Gesellschaft muss die Wertschätzung von Erziehung und Bildung gesteigert werden. Aus diesem Grund muss auch die Elternarbeit einen höheren Stellenwert bekommen. Ohne die Einbindung der Eltern in pädagogische Angebote kann es keine wirksame Bildungsarbeit geben. Vor diesem Hintergrund möchte ich ausdrücklich die Kürzungen bei den Familien- und Beratungseinrichtungen kritisieren, die die Landesregierung im Haushalt 2004 vorgenommen hat.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, die Landesregierung ist ebenso verpflichtet, das pädagogische Personal durch geeignete Maßnahmen bei diesen neuen und weit reichenden Aufgaben zu unterstützen.

Kinderarmut ist in Deutschland und in Hessen ein nicht mehr zu übersehendes und nicht mehr hinzunehmendes Phänomen. Kinder aus benachteiligten sozialen Verhältnissen müssen deswegen stärker als bisher individuell gefördert werden. Kinder aus Migrantenfamilien müssen früher als bisher beim Erwerb der Sprachkompetenz gefördert werden. Dazu gehört aber auch – das sage ich ausdrücklich wegen der Einsparungen bei Sprachangeboten für Eltern und insbesondere für zugewanderte Frauen –, dass die Sprachkompetenz der Eltern gefördert wird. Es nützt nichts, wenn nur das Kind in einem neuen sozialen Umfeld kommunizieren kann.Wir brauchen auch Eltern, die in ihrem sozialen Umfeld kommunizieren können.

(Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Meine Damen und Herren, deswegen braucht Hessen endlich einen Bildungsplan, der alle Kinder entsprechend ihrer Altersgruppe umfasst. Wir brauchen eine Kooperation zwischen allen Betreuungseinrichtungen und den Grundschulen. Die jetzige Trennung zwischen Kindergarten und Grundschule macht, wenn man auf die Qualität achten will, in dieser Form und dieser Ausdrücklichkeit keinen Sinn. Wir brauchen Kooperationen zwischen diesen Einrichtungen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Heike Habermann (SPD))

Wir brauchen eine Kinderpolitik, in der die Interessen und Bedürfnisse der Kinder im Mittelpunkt stehen. Nur bei einem solchen Ansatz wird es möglich sein, dass alle Kinder mit spätestens sechs Jahren eingeschult werden und schulfähig sind.Es geht nicht darum,die Kinder fit für die Schule zu machen, sondern Kindergärten und Schulen fit für die Kinder zu machen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb fordern wir seit Jahren von der Landesregierung ein Programm zur Qualitätsentwicklung, das die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Kindergärten den gestiegenen Anforderungen an ihren Bildungsauftrag auch gerecht werden können. Die Nachfrage seitens der Eltern hängt in erster Linie natürlich auch von der Qualität der einzelnen Einrichtung ab.

Meine Damen und Herren, Kinderpolitik ist Zukunftspolitik. Bayern, Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz haben bereits Bildungspläne, aber Hessen hinkt hier erst einmal wieder hinterher.Von daher werden wir den Antrag der SPD unterstützen, damit die Landesregierung endlich einmal in die Pötte kommt. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Danke schön, Frau Schulz-Asche. – Für die CDU-Fraktion hat sich Frau Ravensburg zu Wort gemeldet.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die PISA-Diskussion ist die frühkindliche Bildung wieder in den Vordergrund des Bemühens um bessere Bildung für unsere Kinder gerückt. Ich freue mich, dass sich heute alle Parteien offensichtlich über diese Tatsache einig sind. Nicht einig sind wir uns aber über den Weg. Die wertvolle Zeit vor der Grundschule darf nicht ungenutzt vergehen. Wir können es uns nicht mehr leisten, die Potenziale unserer Kinder vor der Einschulung ungenutzt zu lassen. Es ist die übereinstimmende Meinung der Experten aus der Hirnforschung und der Entwicklungspsychologie, dass die Kinder gerade im jungen Alter vor der Grundschule enorm aufnahmebereit für alles Neue sind.

Hinzu kommt aber auch die Notwendigkeit, die zunehmende Zahl von Kindern mit erhöhtem Förderbedarf rechtzeitig zu erkennen und frühzeitig entsprechende Maßnahmen für diese Kinder zu ergreifen, auch für die, die leider nicht mehr rückwärts laufen können, Frau Schulz-Asche.

Doch wie setzen wir diese Bildung im Kindergarten um? Die Jugendministerkonferenz hat festgestellt, dass die Bildungsvorstellungen der Schule nicht einfach auf den Kindergarten übertragbar sind und der Bildungsauftrag des Kindergartens weit über die reine Vorbereitung auf die Schule hinausgeht. Dabei müssen Bildungsprozesse im Kindergarten in die Erfahrungswelt der Kinder unter Berücksichtigung der Unterschiedlichkeiten sozialer Herkunft der Kinder eingebunden sein. Es geht hier nicht um den Wissenserwerb, sondern um die Vermittlung von Basiskompetenzen. Das ist hier ja schon sehr ausführlich beschrieben worden.Kinder sollen in altersgemäßer Form in ihrer sozialen, körperlichen und musischen Entwicklung gefördert werden.Aber ein zentraler Bestandteil dabei ist immer auch die Sprachkompetenz aller Kinder. Die Sprachförderung ist und bleibt ein ganz wesentlicher Bestandteil unserer Bemühungen.

Deshalb möchte ich Sie auch einmal auf das Modellprojekt „Frühstart“ aufmerksam machen, das im Januar gestartet wurde, und zwar in Zusammenarbeit mit den Städten Frankfurt,Gießen und Wetzlar,initiiert durch das Kultusministerium und das Sozialministerium gemeinsam mit der Hertie-, der Quandt- und der Deutsch-TürkischenGesundheitsstiftung.

(Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ohne die Stiftungen würde überhaupt nichts passieren!)

Es umfasst die frühkindliche Förderung von Zuwandererkindern ab drei Jahren, und der wesentliche Vorteil dieses Projekts ist,dass in die Sprachförderung „Deutsch ab dem dritten Lebensjahr“ die interkulturelle Erziehung und die Elternarbeit eingebettet werden. Nur so kann ein solches Konzept mit Sprachförderung auch funktionieren. Wir können nicht nur den Kindern im Kindergarten die deutsche Sprache beibringen, während zu Hause nach wie vor allein ihre Muttersprache gesprochen wird.

(Beifall bei der CDU)

Dies hat gezeigt, dass Kinder mit Migrationshintergrund ohne die Sprachförderung schlechtere Bildungschancen und geringeren Erfolg in Schule, Ausbildung und Beruf haben. Hinzu kommt, dass die Eltern die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen, um auch im Kindergarten mit den Erzieherinnen zu sprechen. Das Modellprojekt fördert zweisprachige Helfer, die die Eltern beim Kontakt im Kindergarten unterstützen.

Kommen wir aber zurück zum Erziehungs- und Bildungsplan. Die Basiskompetenzen werden Grundlagen für diesen Bildungs- und Erziehungsplan legen,und er wird noch im ersten Halbjahr 2004 vorgelegt. Meine Damen und Herren, Ihre Ungeduld in allen Ehren: Einige Bundesländer sind ja schon vorausgegangen und haben einen Bildungs- und Erziehungsplan eingeführt. Das haben Sie immer wieder erwähnt. Wir können jetzt von deren Erfahrungen profitieren. Deshalb braucht Hessen bei der Einführung nicht vorne zu sein, wenn wir aber bei den Ergebnissen im Bildungsvergleich der Länder vorne sind, reicht uns das völlig aus.

(Lachen der Abg. Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Wir gehen auch noch weiter über das hinaus, was bisher vorliegt. Viele Bundesländer reduzieren ihren Bildungsauftrag auf den Kindergarten. Frau Hartmann, auch für Sie beginnt ja die Bildung erst mit dem Eintritt in den Kindergarten.Wir wollen keine isolierte Bildungsplanung in den Kindergärten, sondern für uns beginnt Bildung mit der Geburt, also beim nullten Lebensjahr, und der Bildungsplan sollte mindestens bis zum zehnten Lebensjahr mit eingreifen. Deshalb geht uns auch der FDP-Antrag an dieser Stelle nicht weit genug.

(Beifall bei der CDU)

Die Ausdehnung vom nullten bis zum zehnten Lebensjahr macht Sinn. Die Eltern übernehmen mit der Geburt ihres Kindes den Bildungsauftrag für ihr Kind,und mit dem Älterwerden der Kinder werden dann weitere Institutionen an der Erziehung und Bildung beteiligt, ob Tagesmutter, ob Kindertagesstätte, ob Musikschule oder natürlich auch die Grundschule.Auch in dieser Zeit müssen Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung gestärkt werden. Eltern sind Erziehungspartner, die in den Bildungsprozess einbezogen werden, die andererseits aber auch Anspruch auf Hilfe und Unterstützung seitens der Erzieher und Lehrer erwarten können.Nur wenn die Eltern,die Lehrer und die Erzieher in diesen entscheidenden Lebensjahren an einem Strang ziehen, haben die Kinder die besten Bildungsvoraussetzungen.

(Beifall bei der CDU – Dr. Rolf Müller (Gelnhau- sen) (CDU): Und in dieselbe Richtung!)

Diese Bildungskarriere sollte aber möglichst beim Wechsel von einer Bildungsinstitution in eine andere keinen Bruch erfahren, weder beim Eintritt in den Kindergarten noch beim Wechsel vom Kindergarten in die Grundschule, noch später beim Wechsel von der Grundschule in die weiterführende Schule. Die vielen positiven Beispiele in Hessen, wo Erzieherinnen in Schulen und die Lehrer in den Kindergarten kommen, sich austauschen und einen fließenden Übergang ermöglichen, sollen überall in Hessen Selbstverständlichkeit werden.

(Beifall bei der CDU – Dr. Rolf Müller (Gelnhau- sen) (CDU): Sehr gut!)

Natürlich steht bei der frühkindlichen Bildung der Kindergarten im Zentrum unserer Überlegungen. Alle Kin

der, gleich von welchen Trägern sie betreut werden, sollen die gleichen Bildungschancen erhalten. Dazu ist eine gemeinsame Vereinbarung aller Bildungsträger auf freiwilliger Basis notwendig. Der Bildungs- und Erziehungsplan ist dabei ein Orientierungsrahmen, auf dessen Grundlage die Träger die auf sie zugeschnittenen Bildungskonzepte erstellen. Ziel dabei sind immer die Umsetzbarkeit und die Praxisnähe des Orientierungsrahmens. Alle Träger von Kinderbetreuungen und auch die Eltern selbst und die Tagesmütter genauso wie Kirchen, Kommunen und private Träger von Kindergärten und Tagesstätten sowie die Schulen müssen einbezogen werden.

Die Kindergärten haben aber das Recht, dass die Anforderungen an sie auch konkret formuliert werden. Die motorische, kognitive, emotionale und musikalische Entwicklung steht im Vordergrund. Natürlich liegt deshalb das Augenmerk auf den Erziehern und auf der Verzahnung von Kindergärten und Schulen. Ein Bildungs- und Erziehungsplan macht nämlich nur dann Sinn, wenn er von denjenigen, die ihn dann auch umsetzen sollen, den Erzieherinnen in den Kindergärten, aber auch den Tagesmüttern, den Eltern, den Lehrern wie allen denen, die ihn positiv begleiten sollen, als praxisnah, umsetzbar und nutzbringend akzeptiert wird.