Protokoll der Sitzung vom 13.06.2004

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Träger haben massive Existenzängste. Die motivierten und gut ausgebildeten Lehrkräfte stehen kurz vor ihrer Kündigung. Es ist doch geradezu absurd – das sollen mir die Vertreter der Bundesagentur für Arbeit bitte einmal erklären –,die Bildungsleistungen jährlich und neuerdings auch europaweit auszuschreiben.

Meine Damen und Herren, wir alle sprechen davon, wie wichtig Aus- und Weiterbildung sind.Aber nicht mehr die regionale Anbindung und die regionalen Kontakte, sondern nur noch den Preis darüber entscheiden zu lassen, welcher Träger in welcher Region in Hessen noch Bildungsangebote macht, ist geradezu absurd.

Wir haben z. B. im Main-Taunus-Kreis die Situation – wenn ich einmal meinen Wahlkreis erwähnen darf –, dass wir einen sehr kompetenten Träger haben, der sich seit Jahren um all diese Bildungseinrichtungen kümmert und auch eine gute Anbindung an den regionalen Arbeitsmarkt hat. Dieser Träger ist jetzt von einem Anbieter aus Dortmund überboten worden, der neu in den Main-Taunus-Kreis kommt und über keinerlei Erfahrungen auf diesem Gebiet verfügt. So kann man eine regionale Arbeitsmarktpolitik auf keinen Fall gestalten.

Meine Damen und Herren von der Union, Sie fordern in Ihrem Antrag die Bundesregierung auf, unverzüglich das Optionsgesetz vorzulegen. Das Optionsgesetz wird die Details regeln, wenn sich eine Kommune für die Verwaltung der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet. Natürlich muss hier möglichst exakt gearbeitet werden. Einige noch zu lösende Probleme habe ich bereits angesprochen.

Wie ich weiß,befinden Sie sich auf der Bundesebene in intensiven Verhandlungen. Deswegen sollten Sie nicht die dümmliche Forderung in Ihren Antrag schreiben, die Bundesregierung solle jetzt, da sie sich gerade in den Verhandlungen befindet, einen fertigen Gesetzentwurf vorlegen. Das versteht keiner, und es ist auch ein Stück weit ein taktisches Spielchen.

Wir alle sollten uns verpflichtet fühlen, erstens den hessischen Arbeitsmarkt mit dem, was wir regeln können, zu beleben, zweitens die Organisationsstrukturen regional anzulegen, sodass es auch funktionieren kann, und drittens aufzuhören,bei Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen in dem Bereich, über den wir entscheiden können, nämlich beim hessischen Landeshaushalt, Kürzungen vorzunehmen. Ich glaube, damit wäre schon viel gewonnen.

Frau Kollegin Schönhut-Keil, Sie müssen zum Schluss kommen.

Das mache ich gerne. Ich will nur noch einen Satz sagen. – Die größte Frechheit in Ihrem Antrag ist, dass Sie sich für den von Ihnen eingeschlagenen Weg loben, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch den Ausbau der Betreuungsangebote für unter Dreijährige zu verbessern. Meine Damen und Herren, setzen Sie Ihre ideologische Brille ab. Sie haben für die Betreuung kleiner Kinder mit Sicherheit noch nichts getan. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat der Kollege Florian Rentsch,FDP-Fraktion.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Reise der Delegation des Ministerpräsidenten nach Dänemark und Holland hat eines bewiesen:Andere Länder bewegen sich, Deutschland bewegt sich weiß Gott nicht. Ich möchte an dieser Stelle die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Reise teilgenommen haben – auch die Vorrednerin, die Vizepräsidentin dieses Hauses – fragen: Sind Sie es als politisch Handelnde in diesem Land nicht leid, dass man immer wieder über das Gleiche redet? Ich habe gehört,dass es vor einigen Jahren schon einmal eine Reise in diese Länder gab.

(Zuruf der Abg. Evelin Schönhut-Keil (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich habe Ihnen zugehört. – Sie müssen doch letztendlich bemerken, dass Sie in diesem Land nichts verändern und nichts bewegen. Ich muss Ihnen sagen, es ist schön und gut, wenn diese Delegationsreisen wenigstens den Horizont der Teilnehmenden erweitern.Aber Sie müssen letztendlich auch dafür sorgen, dass sie den 6 Millionen Arbeitslosen in diesem Land nutzen und dass nicht nachher das Motto „Außer Spesen nichts gewesen“ darüber steht.

(Beifall bei der FDP)

Das kann man auch konkret festmachen.Wenn man sieht, was momentan bei Hartz verhandelt wird – das hat die Vorrednerin ganz richtig gesagt –, stellt man fest, dass es eine Idee gab, die wirklich gut war. Bezüglich der einzelnen Hartz-Gesetze mit ihren Positionen und Ansätzen kann man verschiedener Ansicht sein. Aber gerade zu Hartz IV muss man doch mit logischem, gesundem Menschenverstand sagen: Die Zusammenlegung ist richtig. Ein Anbieten dieser Leistungen aus einer Hand ist richtig, und es ist auch richtig, einen einzigen Ansprechpartner zu haben. – Wenn man all das in der Diskussion gehört hat und nun sieht, was daraus geworden ist, kann man wirklich nur den Kopf schütteln.

Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich anderer Meinung bin als Sie. Ich bin der Meinung, dass das Optionsmodell, das der Ministerpräsident hier verhandelt hat, ein richtiger Schritt war.

(Beifall bei der FDP)

Mir ist es lieber, dass die Kommunen die Option haben, dort einzusteigen, als dass sie überhaupt keine Option haben, Frau Schönhut-Keil.

(Beifall bei der FDP)

Ich gebe Ihnen auf der anderen Seite aber auch Recht. Das wird natürlich dazu führen, dass das Ganze irgendwann scheitert. Ich glaube mittlerweile nicht mehr daran, dass bei diesen Verhandlungen irgendetwas Produktives herauskommt.

Ich verstehe auch die Bundesregierung – gerade die SPD – nicht. Wieso geben sie denn den Kommunen in diesem Land nicht die Chance, an diesem Projekt teilzuhaben? Wieso verhandeln sie mit den Kommunen nicht richtig? Wo sind denn die Fallpauschalen in angemessener Höhe? Wo sind Fristen,die einzuhalten sich lohnt? Warum setzen sie Ausschlussfristen? All das ist nicht geklärt. Die Kommunen finden nur Ungereimtheiten vor.

Der Grund ist völlig klar: Die Bundesanstalt für Arbeit – oder Bundesagentur für Arbeit, „Anstalt“ ist eigentlich der bessere Name für dieses Gremium –

(Beifall bei der FDP)

soll anscheinend geschützt werden. Ich glaube, das steht dahinter. Die Macht dieses Organs wird weiterhin gefördert und geschützt. Man schafft es nicht, sich dagegen durchzusetzen. Ich muss ganz ehrlich sagen:Wenn das die Politik in diesem Lande ist, dann gute Nacht. – Nichts anderes kann man dazu sagen.

Die Kommunalpolitiker werden Ihnen hoffentlich das Nötige dazu sagen. Sie werden wohl Kommunalpolitiker vor Ort haben, die an dieser Diskussion teilnehmen. Herr Schäfer-Gümbel, Sie sollten es aus Ihrer kommunalpolitischen Erfahrung eigentlich wissen:Wie will die Kommune das denn umsetzen?

(Zuruf des Abg.Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))

Wunderbar, dann empfehle ich Ihnen: Setzen Sie sich an diesem Punkt gegen die Bundesregierung durch. Vielleicht können wir ja ein Bündnis bilden. Das wäre eine Möglichkeit, wirklich für Fortschritt in diesem Land zu sorgen.

Lassen Sie uns einfach einmal schauen, was es in Europa noch gibt. Schauen Sie sich z. B. Großbritannien an. Großbritannien hat zum 01.04.2002 mit der Umsetzung der so genannten Jobcenter-plus-Strategie begonnen. Das ist genau das, was wir hier machen wollen. Wenn Großbritannien mit der Umsetzung fertig ist, stecken wir noch mittendrin oder haben noch nicht einmal richtig begonnen.

Auch das gehört zur Wahrheit: Wir haben heute Morgen über den Wettbewerb in Deutschland diskutiert. Wie stehen die Länder da? Da ging es um den Wettbewerb bei der Bildung sowie bei den Steuern und der Wirtschaft. Aber es geht hier auch um die Bildung im Arbeits- und Sozialwesen. Nicht nur die Bundesländer konkurrieren miteinander, sondern wir konkurrieren auch europaweit um das beste Konzept in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Ich kann nur sagen, dass uns andere Länder deutlich abgehängt haben und dass wir kaum den Anschluss halten können.

Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Delegationsreise den Horizont einzelner Teilnehmer erweitert hat. Aber sie hat sicherlich nicht die Kraft hervorgebracht, die nötig ist, um die Sozialmafia, die wir in diesem Staat haben, zu zerschlagen. Eigentlich geht es darum, diese Ar

beitsmarktmafia wirklich von allen Seiten zu bekämpfen. Dazu gehören die Arbeitnehmer- genauso wie die Arbeitgebervertretungen. Das muss man an dieser Stelle erwähnen.

Aber ich glaube, die politische Kraft in diesem Land ist dazu nicht stark genug, und der Zustand ist noch nicht schlimm genug. Ich weiß nicht, was noch passieren muss, d. h. ob die Zahl der Arbeitslosen noch steigen muss, damit endlich bei allen Parteien und allen Verbänden in diesem Land die Einsicht einkehrt, dass man so nicht weitermachen kann.

Wenn man den Antrag liest, muss man sich fragen, ob die Mitglieder der SPD-Fraktion nur einen Teil der Reise mitgemacht haben. Herr Schäfer-Gümbel, zu dem Antrag haben Sie zwar nichts gesagt, aber man hat schon das Gefühl, dass Sie bei der Reise eine relativ selektive Wahrnehmung hatten. Sie haben all das in Ihren Antrag gepackt, was Ihnen aus sozialdemokratischer Sicht opportun zu sein schien. Alles andere haben Sie aber ausgelassen.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Während des parlamentarischen Gesprächs vorhin habe ich zu Ihnen gesagt: Wir laden Sie gerne noch einmal ein. Daran soll es nicht scheitern. Wir finanzieren gerne noch einmal eine Reise nach Holland, allerdings unter der Bedingung, dass Sie aufpassen, was dort passiert, und nicht immer dann wegschauen, wenn es Ihnen nicht in den Kram passt. – Auch das muss man sagen.

(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD)

Ich merke es an Ihrem Lachen: Sie wollen gerne nach Holland. Das können wir organisieren. Ich bin ansprechbar. Wir nehmen alle Kollegen mit. Aber Sie müssen sich dann auch verpflichten, das umzusetzen, was Sie dort gesehen haben.

Lassen Sie uns einen Blick auf Holland werfen. Holland hat eine Arbeitslosenquote von 2,2 bis 2,4 %. Arbeitsämter in der klassischen Form sind in Holland komplett abgeschafft. Seit dem 1. Januar 2002 gibt es die so genannten CWIs. Landesweit wurden über 130 dieser dezentralen Anlaufstellen für Arbeit und Einkommen geschaffen.Das sind öffentliche Anlaufstellen für Arbeitslose, Arbeitsuchende und, ganz wichtig, Arbeitgeber. Auch die können sich an die CWIs wenden.

Die CWIs kooperieren mit den Kommunen. Sie sind Ansprechpartner,die alle Dienstleistungen erbringen,die gebraucht werden: Verwaltung, Vermittlung von Arbeitslosengeld, Arbeitsqualifizierung. Die Vermittlung wird allerdings vor allem von Privaten geleistet.

Die Liberalisierung, die in Holland stattgefunden hat, der Gedanke, dass man nicht immer den Staat bemüht, sondern vor allem auf Private setzt, scheint sich bei Ihnen überhaupt nicht durchgesetzt zu haben. Das vermisse ich in Ihrem Antrag vollkommen.Das wäre an der Stelle aber richtig gewesen.

(Beifall bei der FDP)

Es geht auch darum, dass sich die CWIs bei der Qualifizierung um Aufträge von den Gemeinden bemühen müssen. Hier gibt es einen Wettbewerb. Wo findet sich das in Ihrem Antrag? Das ist eine wunderbare Regelung, die wir von Holland direkt übernehmen könnten.Auch da: leider nichts.

In Holland wurde vor allen Dingen ein Konzept für die Privatisierung erarbeitet. Die Privatisierung wurde konzeptionell nach vorne getragen.Sie ist kein Stückwerk wie bei uns. Da sind uns die Kollegen aus Holland ein ganzes Stück weit voraus.

Ein weiterer Hauptakteur in der Arbeits- und Sozialpolitik sind in Holland die Gemeinden. Die Gemeinden wickeln die Sozialhilfe ab und sind verpflichtet, die Klienten wieder in Arbeit zu bringen. Die enge Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden und den CWIs klappt. Auf Deutschland übertragen wäre das eine Kooperation zwischen den Gemeinden und den Jobcentern. Die müsste funktionieren. Aber ich glaube mittlerweile nicht mehr, dass wir mit der Hartz-IV-Umsetzung weiterkommen. Wahrscheinlich wird das ganze Projekt sowieso scheitern. Dann ist außer Spesen nichts gewesen. – Ich lasse gerne Ihre Zwischenfrage zu, Herr Schäfer-Gümbel.

Eine Zwischenfrage, Herr Schäfer-Gümbel.

Herr Rentsch, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, dass ich überhaupt nicht über die Niederlande geredet habe, sondern nahezu ausschließlich über Dänemark? Insofern verwundert mich die Ausrichtung Ihrer Antwort. Das war die erste Bemerkung.

Zweite Bemerkung: Was hat die FDP außer dem Vorschlag, die Bundesagentur für Arbeit aufzulösen, zum Thema als Problemlösung beizutragen?

Herr Kollege Schäfer-Gümbel, zur Problemlösung haben wir sehr viel beizutragen, weil wir ein komplettes Konzept vorgelegt haben. Der größte Lösungsansatz wäre aber, wenn Sie einfach den Weg freimachen würden.

(Lachen bei der SPD)

Machen Sie den Weg in Berlin frei. Das wäre für viele Leute, die in diesem Lande betroffen sind, ein Lösungsansatz.