Protokoll der Sitzung vom 12.05.2004

Drittens. 1987 hat die Türkei den Beitritt zur Europäischen Union beantragt.

Viertens. Erst zwölf Jahre später, im Dezember 1999, erhielt die Türkei nach Prüfung der Voraussetzungen den Status eines Beitrittskandidaten. Damit ist die EU eine Verpflichtung eingegangen. Wenn nämlich die Türkei die Vertragsbedingungen erfüllt, müssen Beitrittsbehandlungen eröffnet werden. Alles andere ist ein Bruch international gültiger Verträge.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Fünftens. Im Dezember 2004 will die EU eine Entscheidung über eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen treffen.Diese Entscheidung wird auf der Grundlage exakt festgelegter Kriterien fallen. Das soll im Dezember 2004 entschieden werden, nichts anderes. Es wird über einen weiteren Schritt der Türkei in die EU, der einen weiteren, jahrelangen Prozess nach sich ziehen wird, und das mit einem offenen und zeitlich befristeten Ausgang, entschieden.

Sechstens. Für diesen Prozess wird sowohl von deutscher als auch von türkischer Seite ein Zeitkorridor von 10 bis 20 Jahren angenommen, bis die Türkei die Kriterien für einen Vollbeitritt erfüllen könnte. – Das sind die Fakten.

Diese Fakten interessieren Sie in Ihrem Antrag offenbar überhaupt nicht. Sie betätigen sich als Kaffeesatzleser. Sie blicken in eine ferne Zukunft, in das Jahr 2015, und prophezeien, vor dem Hintergrund der jüngsten Erweiterung wäre die EU mit dem Beitritt der Türkei deutlich überfordert.

Das sehen Sie im Jahr 2004, vier Tage nachdem die EUErweiterung um zehn neue Staaten stattgefunden hat. Diese finstere Vision macht nur Sinn, wenn man weiß, Sie wollen bei den Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck erwecken, die Türkei würde noch im Jahr 2004 beitreten, und die Europawahl sei eine Abstimmung der Bürger über den Beitritt der Türkei. Mit dieser Strategie belügen Sie die Bürgerinnen und Bürger wissentlich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Doch damit nicht genug der finsteren Prophezeiung. Ihr Blick geht noch einmal ins Jahr 2015 und später, und dieser Blick besagt, Sie wüssten zum heutigen Zeitpunkt, dass die Türkei die Voraussetzungen für eine Vollmitgliedschaft nicht erfüllt. Das ist der Gipfel der Arroganz und Volksverdummung, wenn Sie die Menschen glauben machen wollen, die CDU Hessen kenne am 04.05.2004 das Ergebnis einer Untersuchung, zu der die EU irgendwann zwischen 2015 und noch später eine ganze Reihe sorgfältiger Prüfungen und Untersuchungen durchführen wird, um zu einer Entscheidung zu kommen.

Meine Damen und Herren, man könnte den Antrag, abgesehen vom ersten Absatz, schlicht und ergreifend als inhaltlich falsch bezeichnen und ihn ablehnen. Wir müssen aber über Ihr politisches Kalkül reden, das hinter Ihrem Antrag steckt. Was Sie hier versuchen aufzubauen, ist ein Geisterbahnszenario.An jeder Ecke sollen die Bürger erschrecken und zurückzucken bei dem Gedanken, dass die Türkei EU-Mitglied werden könnte. Durch die Geister

bahn schwebt dann Angela Merkel und wedelt als Rettungsengel mit der privilegierten Partnerschaft.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Schönes Bild!)

Sie und Ihre gesamte CDU vergessen nur eines: In dieser Geisterbahn befinden Sie sich in einem irrealen Szenario und nicht auf dem Boden der Realität.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Zum Glück gibt es in der Geisterbahn auch noch ein paar Aufrechte in der CDU. Ich würde mir wünschen, in diesem Hause wäre es auch so, das wird die Abstimmung zeigen. Es gibt den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Volker Rühe, der nüchtern feststellt: Wenn die EU Ende des Jahres feststellt, dass die Türkei die Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erfüllt, dann sollte die Union das akzeptieren. – So ist es, und nicht anders.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wenn die Türkei den Status der Beitrittsverhandlungen erreichen will, verlangt die EU die Einhaltung stabiler Kriterien, der Kopenhagener Kriterien, d. h., dass die rechtsstaatlichen Institutionen stabil und demokratisch sein müssen,die Menschenrechte eingehalten werden und der Schutz der Minderheiten garantiert sein muss. Diese Bedingungen sind nicht verhandelbar, sie müssen erfüllt werden.

Auf diesem Weg ist die Türkei schon ein weites Stück gegangen, aber der Fortschrittsbericht der EU listet detailliert gegenwärtige Mängel auf und fordert deren Beseitigung, z. B. bei der Einschränkung der Religions- und Versammlungsfreiheit, bei Folter, bei dem nach wie vor zu starken Einfluss des Militärs. Wir GRÜNEN haben im Europaparlament genau diesen Einschätzungen zugestimmt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Na also, was soll denn dann die ganze Rede?)

Wir müssen aber auch die energischen Reformbemühungen der Türkei anerkennen, und wir müssen eingestehen, dass diese ohne die Perspektive eines EU-Beitritts und der dazu gehörenden Überprüfungen nicht stattgefunden hätten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Eines ist klar: Wenn wir diesem Reformprozess und den Menschen in der Türkei, die diesen Reformprozess gestalten, die Perspektive entziehen, dann schwächen wir diesen Prozess ganz entscheidend. Dann ist mit gravierenden Rückschritten zu rechnen. Damit würden wir in Europa eine Flanke aufreißen, um deren mühsamen Aufbau sich Außenpolitiker von Adenauer über Kohl bis Fischer jahrzehntelang bemüht haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Wir würden Wasser auf die Mühlen der reaktionären Kräfte der Türkei und der gesamten islamischen Welt gießen, die dem Westen schon immer mit Misstrauen und Ablehnung begegnet sind und kein Interesse am friedlichen Zusammenleben der Religionen und Kulturen haben. Wenn die hessische CDU zur Unversöhnlichkeit der

Religionen aufruft, dann frage ich Sie:Was wollen Sie den muslimischen Balkanstaaten sagen, wenn diese beitreten wollen?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wollen Sie ernsthaft in Europa ethnische Inseln schaffen? – Das Türkeithema fahren Sie, um innenpolitisch Profit daraus zu schlagen. Ob Sie damit den sozialen Frieden in unserem Land gefährden, ist Ihnen gleichgültig. Sie wollen auf Stimmenfang gehen, Ängste schüren, die Gesellschaft spalten und auf der Welle der latenten Ausländerfeindlichkeit in Deutschland surfen. Haben Sie diesmal schon Ihre Unterschriftenlisten gedruckt, damit Sie an den Wahlständen propagieren können: Hier können Sie gegen die Türken unterschreiben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Die Textbausteine Ihrer Wahlhelfer sind ebenso falsch wie demagogisch. Gestern Abend wurde bei der Wahlkampferöffnung in Petersberg von der CDU verbreitet, Deutschland müsse mit der Zuwanderung von 10 bis 18 Millionen Türken rechnen. Es ist unglaublich, mit diesen Zahlen Ängste zu schüren. Sie selber wissen, dass diese Zahlen völlig irreal sind.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Frank Gotthardt (CDU): Mit wie viel rechnen Sie denn?)

Sie wenden sich gegen die türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, ihre Kinder und Enkel, die die CDU-Bundesregierung umworben hat, damit sie nach Deutschland kommen. Auf den Podien höre ich immer das Argument, die Werte des türkischen Volkes seien mit denen des deutschen Volkes nicht vereinbar. Leider fehlt Ihren Abgeordneten an dieser Stelle ein Textbaustein, denn keiner konnte mir bisher erklären, welche Werte Ihrer Ansicht nach die Türken haben, welche Werte Ihrer Ansicht nach die Deutschen haben und warum Ihrer Ansicht nach die Werte eines Sizilianers und eines Schweden so gut zusammenpassen wie die eines Türken und eines Deutschen.

(Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Ich kann es Ihnen erklären, warum sie so gut zusammenpassen: Sie passen zusammen, weil sie sich alle unter dem Dach der Charta der Grundrechte zusammengefunden haben. Fakt ist, Europa ist eine Wertegemeinschaft.

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Diese Werte sind in der Charta der Grundrechte festgelegt, denen sich jeder unterwirft, der sich der EU anschließt. Sie sind dort niedergelegt, und das ist die Wertegemeinschaft der Europäischen Gemeinschaft.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Das Schlimmste an Ihrer Argumentation ist, dass Sie der Sache Europas schaden. Aufgrund Ihrer ideologischen Verbohrtheit nehmen Sie in Kauf, den inneren und äußeren Frieden Europas, den Frieden Deutschlands und den sozialen Frieden in Hessen zu gefährden. Sie haben nichts verstanden von dem Projekt Europa,

(Frank Gotthardt (CDU): Gut, dass Sie uns das erklären!)

das Frieden, Sicherheit und Wohlstand schaffen will durch die Überwindung von Feindbildern, durch eine faire Zusammenarbeit unter Zurückstellung nationaler, religiöser und politischer Egoismen.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Das Wort hat Frau Kollegin Hoffmann für die Fraktion der SPD.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Hessen begrüßt die neuen EU-Staaten. Das ist für die SPD-Fraktion selbstverständlich.Wir freuen uns, dass Europa am 1. Mai einen weiteren wichtigen Schritt in seiner Entwicklung vollzogen hat.

(Beifall bei der SPD)

Die europäische Integration hat nach dem Zweiten Weltkrieg in den Staaten Westeuropas zu einer einzigartigen Phase des Friedens und des Wohlstands geführt. Die Staaten Mittel- und Osteuropas waren von dieser Entwicklung ausgeschlossen.Es ist ein einmaliges historisches Ereignis, die neuen Mitglieder wieder in der Familie der europäischen Länder begrüßen zu können. Über den historischen Augenblick hinaus ist mit dieser Begrüßung die Freude darüber verbunden, dass der Kalte Krieg, der Europa teilte, damit endgültig überwunden ist.

(Beifall bei der SPD)

Von der historischen Erklärung, die Robert Schuman am 9. Mai 1950 abgab, war es ein langer Weg bis zu dem Entwurf eines Verfassungsvertrags durch den Europäischen Konvent.

Die europäische Integration ist das Werk großer Staatsmänner, die über alle Parteigrenzen hinweg daran mitgewirkt haben. Frau Merkel dagegen wird man nicht dazu zählen. Für die europäische Integration stehen Namen wie Robert Schuman und Konrad Adenauer. Es war Willy Brandt, der mit seiner Ostpolitik einen entscheidenden Beitrag zur Öffnung nach Osten geleistet hat.

(Beifall bei der SPD)

Der Kniefall des Nobelpreisträgers vor dem Mahnmal im ehemaligen Warschauer Getto ist unvergessen.

Doch nun zur Gegenwart und zu dem CDU-Antrag. Die CDU schreibt in ihrem Entschließungsantrag, dass Hessen mit der Erweiterung noch mehr in das Zentrum der Europäischen Union rückt. Das ist eine Feststellung, die sich zunächst auf geographische Gesichtspunkte bezieht. Die CDU schreibt weiter, dass die Osterweiterung eine große Chance für Arbeit und Wirtschaft bedeutet. Auch das ist richtig.

Aber wir haben in Hessen eine Landesregierung, die dabei ist, die Chancen Hessens in Europa zu verspielen.