Protokoll der Sitzung vom 12.05.2004

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Darüber hinaus hat die Bundesregierung in den Beitrittsverhandlungen schlecht verhandelt. Sie hat wichtige deutsche Interessen nicht durchgesetzt.

So, wie die Wiedervereinigung Deutschland grundlegend verändert hat, so wird auch die Osterweiterung die Europäische Union grundlegend verändern. Die meisten Beitrittsländer erreichen hinsichtlich ihrer Wirtschaftskraft nicht einmal die Hälfte des Durchschnitts der Europäi

schen Union. Die EU ist viel größer geworden, und ihre Unterschiede haben zugenommen.Das stellt uns vor neue Risiken und Herausforderungen. Die Europäische Union muss sich daher künftig auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. Ansonsten würde sich die Europäische Union finanziell überfordern. Sie würde sich vor allem aber auch in ihrer Integrationsfähigkeit überfordern. Nach dieser Osterweiterung braucht die Europäische Union dringend eine Phase der Konsolidierung. Die Fähigkeit der Europäischen Union zur Erweiterung ist mit der Durchführung der Osterweiterung an eine Grenze gelangt. Wenn die Europäische Union die Türkei beitreten lassen würde, wäre sie in ihrer Integrationsfähigkeit in Europa überfordert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Europa hat geographische, geschichtliche und kulturelle Grenzen. Wer diese Grenzen überschreitet, gefährdet die politische Union Europas. Außerdem muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass die Kriterien zur Aufnahme eines Mitgliedstaates in die Europäische Union für alle Kandidaten in gleicher Weise gelten. Von daher stellt die Forderung des Bundeskanzlers, man möge der Türkei Beitrittsverhandlungen für den 1. Juli 2005 anbieten, nicht nur einen Verstoß gegen den EU-Vertrag dar. Es ist vielmehr auch ein Affront gegenüber den jetzt beigetretenen Staaten. Diese haben sich über Jahre hinweg bemüht, die politischen Kriterien für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union und als europäische Demokratie zu erfüllen – dies sind Rechtsstaatlichkeit und Schutz von Minderheiten –, bevor mit ihnen Verhandlungen aufgenommen wurden. Wenn man jetzt etwa aufgrund schlechten Gewissens gegenüber den USA der Türkei einen Rabatt einräumen würde oder es tun würde, weil die SPD hofft, damit ihr dramatisch geschrumpftes Wählerpotenzial aufzubessern, würde man damit nicht nur Deutschland einen Bärendienst erweisen, sondern der gesamten Europäischen Union.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Immerhin hat die Europäische Kommission festgestellt, dass die Türkei trotz all der guten Fortschritte,die wir ausdrücklich begrüßen, die Beitrittskriterien zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erfüllt. Ein Beitrittsautomatismus hätte den Effekt, dass die Türkei schnell erkennen würde, dass die Europäische Union die von ihr aufgestellten Kriterien nicht so genau nimmt und dass ausreichender politischer Druck ebenso zum Erfolg führt. Das Entstehen eines solchen Eindrucks wäre nicht nur hierzulande fatal. Vielmehr würde es die Europäische Union weltweit unglaubwürdig erscheinen lassen. Trotz der geopolitischen Bedeutung der Türkei und der langjährigen Freundschaft, die es zwischen der Türkei und Deutschland gibt, sind wir entschlossen in der Auffassung, dass die Regeln eingehalten werden müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Es muss sich erst erweisen, ob die in der Türkei durchgeführten Reformen, die den Willen zur Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit zeigen, tragfähig sind.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt! Wie unterstützt man das?)

Im Zusammenhang mit dem Beitrittswunsch der Türkei wird immer wieder die These aufgestellt, die Europäische Union sei kein christlicher Klub. Diese These mag griffig sein, geht aber am wesentlichen Punkt vorbei.

(Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die CDU ist auch kein christlicher Klub!)

Im Zusammenhang von Religion und Politik ist nämlich deutlich zu unterscheiden zwischen der Glaubensfreiheit auf der einen Seite und der kulturprägenden Wirkung des Christentums und des Islams auf der anderen Seite.

(Beifall bei der CDU)

Wir wollen, dass insbesondere in der Europäischen Union jeder seinen Glauben leben kann, selbstverständlich innerhalb unserer verfassten Regeln des Zusammenlebens. Im Übrigen verbindet die abrahamitischen Religionen Judentum, Islam und Christentum mehr, als sie trennt. Jedoch ist die Europäische Union weltanschaulich neutral, aber wertemäßig eindeutig vom europäischen Menschenbild bestimmt, das durch die Aufklärung und die christliche Anthropologie geprägt ist. Daraus entwickeln sich das Verständnis der unantastbaren Menschenwürde, die Menschenrechte, die Gleichheit von Frau und Mann, die rechtsstaatliche Demokratie, die Pressefreiheit und schließlich auch die soziale Marktwirtschaft.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wann gab es die letzte Päpstin?)

Bisher gibt es noch keinen islamischen Staat, der unsere Werteordnung praktiziert. Wenn sie sich in der Türkei entwickeln würde, wäre dies allerdings ein großer Gewinn.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und wie unterstützen wir das?)

Dass wir den Wunsch nach einer solchen Entwicklung nicht einfach mit der Realität vertauschen dürfen, erkennen wir an den großen Integrationsproblemen, die sich in Deutschland trotz vielfältiger guter Erfahrungen immer wieder stellen. Niemals sollte man sagen: nie. Aber im Lichte heutiger Erkenntnis muss daher eher eine privilegierte Partnerschaft das Modell für die absehbare Zukunft sein.

(Beifall bei der CDU)

Die Europäische Union muss die jetzt geschehene Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten sowohl wirtschaftlich als auch politisch leben. Sie muss sich Klarheit über ihre Identität und ihre Grenzen verschaffen. Sie muss Handlungsfähigkeit bewahren, auch wenn statt 15 Mitgliedern nun 25 entscheiden.

Der Beitrittsantrag Kroatiens wäre da noch vergleichsweise unproblematisch. Was aber ist mit Moldawien, der Ukraine, Russland und Georgien? Sie alle sind zweifellos Länder innerhalb Europas, und sie sind regelrecht scharf darauf, in Europa einzutreten. Doch kann die Europäische Union alle diese Staaten aufnehmen, oder droht vielleicht eine Überforderung durch ein grenzenloses Wachstum? Im Rahmen der Verfassungsdiskussion müssen wir auch diese Frage beantworten. Eine grenzenlose Europäische Union würde sich verlieren. Die Frage nach dem finalen Europa muss geklärt werden, bevor mit einem Beitritt der Türkei eine Vorentscheidung getroffen wird, die Europäische Union über die geographischen Grenzen auszudehnen.

(Beifall bei der CDU)

Wir halten es deswegen für wichtig, erstens die jetzt beschlossene Erweiterung erst einmal zu verkraften und zweitens die Kandidaten auf die genaue Erfüllung der

Beitrittskriterien zu verpflichten. Verfassungsstaatlichkeit, Binnenmarktfähigkeit und Integrationsfähigkeit sind keine leeren Worthülsen, sondern unabdingbare Voraussetzungen für ein gutes Gelingen der Europäischen Union. Das konstruktive Angebot der Union liegt auf dem Tisch. Die Türkei ist ein Freund und Partner Europas.Wir treten ein für eine privilegierte Partnerschaft mit der Türkei,

(Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Was ist denn das?)

aber nicht für eine Vollmitgliedschaft innerhalb der Europäischen Union. Bei der Europawahl am 13. Juni steht auch unser von der Verantwortung für Deutschland und Europa getragenes Türkeimodell zur Abstimmung.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt ist doch klar, warum wir die Debatte haben!)

Sehr geehrte Damen und Herren, die Erweiterung der Europäischen Union stellt alle Mitgliedstaaten vor neue Herausforderungen. Es gibt Risiken, aber die Chancen sind ungleich größer.Es ist gerade für Deutschland ein beruhigendes Gefühl, an seiner Ostgrenze Freunden und Partnern zu begegnen, die die gleichen Ziele verfolgen: Frieden, Sicherheit und Wohlstand in funktionierenden Demokratien und mit marktwirtschaftlichen Strukturen. Wir werden alles tun, damit unsere Kinder und Kindeskinder in diesem gut leben können, ihre Heimat haben und sich wohl fühlen in der Einheit Europas und in der Vielfalt europäischer Kulturen und Lebensarten. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der CDU – Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war eine schwache Wahlkampfrede!)

Nächste Wortmeldung, Frau Kollegin Hölldobler-Heumüller für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sehr geehrte Damen und Herren! Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möchte ich hier und heute noch einmal ganz ausdrücklich die neuen Beitrittsländer der Europäischen Gemeinschaft begrüßen.Wir freuen uns über den Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten, weil wir den Tag des Beitritts einen Meilenstein in der Überwindung der gewaltsamen Trennung Europas durch den Eisernen Vorhang sehen, weil diese Erweiterung Ausdruck von Hoffnung auf ein dauerhaft befriedetes Europa ist. Wir wissen, dass in den alten ebenso wie in den Beitrittstaaten die Menschen mit einer Mischung aus Ängsten und Freude, aus Erwartung und Sorge auf den Prozess schauen, auf den Prozess der Erweiterung, der mit dem 1. Mai das Ende des Beitrittsprozesses und den Anfang einer weiteren gemeinsamen Entwicklung darstellt.Wir wünschen den Staaten der Europäischen Gemeinschaft, dass sie dieses Vertragswerk mit Leben erfüllen, die Anstrengungen gemeinsam tragen und gemeinsam um ein Gelingen des Projektes ringen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

So hätten wir uns einen Antrag vorgestellt, mit dem der Hessische Landtag die neuen Mitgliedstaaten begrüßt.Ich

stelle mir vor, wenn der Landtagspräsident Kartmann in die neuen Beitrittsländer reist, wo wir uns z. B. mit der Wielkopolska um gute Kontakte der Parlamente bemühen, und wenn er dann gefragt wird, ob die Erweiterung Thema im Landtag war, wenn er dann den Antrag der CDU-Landtagsfraktion aus der Tasche ziehen und sagen muss, dass dies unsere parlamentarische Reaktion auf den Beitritt der neuen Staaten in die EU ist, dann kann er sich eigentlich nur wünschen, in den Boden zu versinken; denn dieser Antrag als Begrüßung der neuen Beitrittsländer ist so abgrundtief peinlich, dass ihn kein auch wie immer gearteter Änderungsantrag korrigieren kann.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Abschnitt I.1 ist eine floskelhafte Begrüßung, zwei Sätze. Der Abschnitt I.2 besteht aus vier Sätzen,in welcher Form Hessen von der Erweiterung profitiert. Falsch ist er nicht, aber als Begrüßung arrogant und egozentrisch.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Abschnitt II enthält vier weitere Sätze zu einem Ereignis, das frühestens in 10 bis 15 Jahren stattfinden wird, nämlich dem Vollbeitritt der Türkei. Damit wird klar, dass dieser Antrag einzig und allein der Eröffnung des Europawahlkampfs in diesem Parlament dient, und das in Form eines geistigen Tiefflugs über die Stammtische dieses Landes.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Das alles tun Sie unter dem Deckmantel der Begrüßung der neuen Beitrittsländer. Ich kann Sie nur bitten: Ersparen Sie uns diesen Gesichtsverlust. Ziehen Sie diesen Antrag zurück, und stampfen Sie ihn ein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Es ist doch auch Wahlkampf, was Sie jetzt machen!)

Sie sind doch sonst nicht so feige mit Ihren Hardliner-Positionen.Sinn und Zweck ist – wir haben es bei Herrn Lennert gehört – zum einen die Beschimpfung der Bundesregierung und zum anderen die Diskussion über den Türkeibeitritt. Die können Sie haben, aber dann sollten wir vorher die Fakten klären.

Lassen Sie mich erstens mit einem Zitat beginnen:

Die Türkei gehört zu Europa. Die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein. Dieser Wunsch und die Tatsache,dass wir in ihm mit unseren türkischen Freunden einig sind, sind der stärkste Ausdruck der Gemeinschaft.

Jetzt verrate ich Ihnen auch, von wem das Zitat stammt. Es stammt von Walter Hallstein, CDU-Bundestagsabgeordneter der Adenauer-Ära und damals Präsident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Er sagte das 1963 anlässlich der Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der Türkei.

Wir reden hier also über ein CDU-Versprechen aus dem Jahre 1963, aus der Zeit, als in der Türkei eine Militärdiktatur herrschte. Walter Hallstein hat ihnen ein Versprechen gegeben, und das war gut so.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)

Zweitens zu den Fakten. Seit 1966 besteht mit der Türkei eine Zollunion. Das entspricht in etwa dem, was Sie sich unter einer privilegierten Partnerschaft vorstellen. Sie sind also ein klein wenig spät mit Ihrem Vorschlag.

Drittens. 1987 hat die Türkei den Beitritt zur Europäischen Union beantragt.