Protokoll der Sitzung vom 15.09.2004

Zurück zu Ihren Anträgen.Als Sie die Anträge formuliert haben, hätten Sie schon ganz klar erkennen können, dass Sie rückwärts gewandt diskutieren. Denn die EU-Kommission hat in ihrer Mitteilung am 3. September letzten Jahres Defizite in der bisherigen Handhabung des Paktes festgestellt. Sie spricht von „erlebten Zulänglichkeiten“ im Zusammenhang mit der Konjunkturentwicklung. Die Kommission sieht Schwierigkeiten bei der Berücksichtigung – Zitat – „langwieriger Wachstumsschwächen“. Die EU-Kommission sieht Verbesserungsmöglichkeiten „in den Fällen,“ – hier zitiere ich – „in denen das Wachstum noch positiv, aber über längere Zeit unerwartet sehr niedrig sein kann“. Meine Damen und Herren, diese Worte sollten Sie sich auf der Zunge zergehen lassen.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Sie sehen, auch die EU-Kommission geht davon aus, dass die bisherige, zu stark auf das 3-%-Kriterium abhebende Auslegung des Stabilitätspaktes falsch war. Meine Damen und Herren, es kommt auch nicht von ungefähr, dass auch Musterschüler in dieser Beziehung, wie Holland z. B., im Moment große Probleme haben, das 3-%-Kriterium einzuhalten.

(Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Es war übrigens auch niemand anderes als der EU-Präsident Romano Prodi, immerhin Wirtschaftsprofessor, der gefordert hat, den Pakt in seiner ökonomischen Logik auszulegen. Starre Entscheidungen nannte er in diesem Zusammenhang – hier darf ich ihn zitieren – „dumm“.

(Beifall bei der SPD – Zurufe der Abg. Heinrich Heidel (FDP) und Norbert Schmitt (SPD))

Wenn die Kolleginnen und Kollegen der FDP hinter diesen Erkenntnisprozess der Kommission zurückgehen wollen, dann kann ich das an dieser Stelle nur rückwärts gewandt nennen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es wäre vorwärts gewandt, sich über eine wirksame haushaltspolitische Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Europa Gedanken zu machen. Es steckt ein großes Potenzial im koordinierten finanzpolitischen Handeln in der Eurozone. Dazu gehören Bund und Länder. Sie wollen angeblich die Kommission stärken. Aber sie erweisen ihr einen Bärendienst. Die Widersprüchlichkeit dieses Hauses müssen wir diskutieren; man sollte sie nicht einfach akzeptieren.

Drittens. Ihre Anträge widersprechen auch dem Ziel, die Binnennachfrage zu stärken. Sie wissen, dass dies eines unserer Hauptprobleme ist,die wir zurzeit in Deutschland haben. Die Nachfrage aus dem Ausland steigt, aber im Inland lahmt die Nachfrage.

(Heinrich Heidel (FDP):Warum ist das so?)

Das ist regelmäßig in den Wirtschaftsteilen der Ihnen doch lieber gewonnenen Zeitungen, z. B. in der „FAZ“ und in der „Financial Times“, nachzulesen.

(Zuruf des Abg. Michael Siebel (SPD))

Wem dies zu unseriös ist: Die OECD diagnostiziert Deutschland in ihrem Länderbericht eine lang anhaltende Schwäche bei der Binnennachfrage. Einer der Gründe für die Schwäche der Binnennachfrage: Investitionen der öffentlichen Hand bleiben aus. – Das wissen wir alle. Schulen vergammeln, die Straßen werden immer schlechter, Rathaussanierungen lassen auf sich warten. Meine Damen und Herren, Sie kennen sich doch in Ihren Kommunen aus. Diese Liste würde sich mit Schwimmbädern, Kindertagesstätten usw. beliebig fortsetzen lassen.Wenn man Ihre Anträge ernst nimmt,ist die Folge:keine Aufträge für den Mittelstand, den auch Sie gerne als den Jobmotor oder den Konjunkturmotor beschreiben.Aber öffentliche Aufträge soll der Mittelstand nicht bekommen.

(Beifall bei der SPD)

Dass sie von dieser Landesregierung keine Aufträge bekommen, wissen wir spätestens, seitdem wir den Haushalt gelesen haben.Wir wissen, dass Ihre Investitionsausgaben noch einmal um 2,7 % gesunken sind.

Herr von Hunnius,was Ihnen ganz wichtig war:Reden wir über die Stabilität. Fakt ist: Die Inflation in der Eurozone ist niedrig. Sie beträgt 2,4 %. In Deutschland beträgt sie 1,9 %. Selbst in den letzten 24 Monaten, die wirklich sehr schwierige Monate waren, ist die Inflationsrate in Deutschland auf fast 1 % gesunken. Das war vor allem dem Ölpreis zu verdanken.

(Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Weiter zum Thema Stabilität: Der Leitzins ist niedrig, Herr von Hunnius. An den hohen Wechselkurs des Euro haben sich die Europäer mittlerweile gewöhnt. Der Euro ist stark und stabil. Ich kann nicht erkennen, dass irgendein Europäer oder eine Europäerin, oder die internationalen Finanzmärkte das an irgendeiner Stelle bezweifeln.

(Beifall bei der SPD)

Die realen wirtschaftlichen Daten sagen uns deswegen: Nicht die Verschuldung macht die Wirtschaft nervös und ist das eigentliche Problem, sondern das Problem von Europa und von Deutschland ist der Mangel an Investitionen und an Binnennachfrage.Was wir jetzt brauchen, sind Investitionen in die Zukunft, in die Bildung, in die Forschung, in neue Wachstumssektoren, in berufsbegleitendes Lernen. Über die Betreuung und Förderung unserer Kinder – das hat uns der OECD-Bildungsbericht nahe gelegt – haben wir gestern diskutiert.Auch hier sind Investitionen gefragt. Das alles kostet viel Geld.Aber Zukunftsfähigkeit bedeutet auch Investitionen in die Kinderbetreuung, in die Schulen, in die Universitäten. Meine Damen und Herren von der FDP, das würden Sie mit Ihrem Antrag und mit Ihrem starren Blick auf die 3-%-Marke verhindern.

(Beifall bei der SPD)

Sie wollen mit Ihrem Antrag zur EU-Verfassung verhindern, dass es zu sachdienlichen Regelungen kommt, Regelungen, die den Pakt handhabbarer machen, und Regelungen, die seine Funktionsfähigkeit gewährleisten müssten.

Herr von Hunnius, Sie haben gesagt, man müsse den Pakt zugunsten der Bevölkerung interpretieren – ja, zugunsten der Bevölkerung, zugunsten von Arbeitslosen, zugunsten von Beschäftigung und Investitionen. Sie übersehen, dass dieser Pakt Stabilitäts- und Wachstumspakt heißt.

(Beifall der Abg. Norbert Schmitt und Dr. Judith Pauly-Bender (SPD) – Zuruf des Abg. Heinrich Heidel (FDP))

Mit Ihrem Tunnelblick auf diesen ersten Teil, die Stabilität, schieben Sie ein Dogma vor sich her. Ohne Wachstum gibt es keine Konsolidierung des Haushalts. Ich gebe zu: Das gilt auch andersherum. Dazu stehen wir auch. Es ist übrigens auch die innere Logik des Paktes, ihn symmetrisch anzuwenden.Das heißt – dazu stehen wir Sozialdemokraten auch –, auch in guten Zeiten Rücklagen zu bilden. Das ist die andere Seite der Medaille. Aber zuerst müssen wir die Binnennachfrage in Fahrt bringen. Das scheint Ihnen, den Kollegen von der FDP, wahrscheinlich ideologisch auf die 3-%-Marke fixiert, nicht nahe zu kommen.

(Beifall bei der SPD – Zurufe der Abg. Michael Boddenberg und Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU))

Nur wenn wir die Binnennachfrage in Fahrt bringen, können wir Überschüsse erzielen und an die Sanierung der Staatsfinanzen denken.

(Zuruf des Abg. Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU))

Der Sachverständigenrat bemerkt zum Haushalt 2005,der Ihnen offenbar auch ein Dorn im Auge ist – ich zitiere –: „Schon nach den derzeitigen Plänen bremst der Staat 2005 die Nachfrage und damit das Wirtschaftswachstum.“ Auch das ist in der „Financial Times“ nachzulesen. Meine Damen und Herren, das heißt, dass es kein neues Sparpaket geben kann, wenn wir das zarte Pflänzchen des Konjunkturaufschwungs nicht gleich wieder auf Kosten der Zukunft abwürgen wollen.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Deshalb sollten Sie Ihre Ideologie an der Stelle ablegen. Das Dringlichste an Ihren Anträgen ist, dass sie dringlich aufs Altpapier geworfen werden sollten. Wir können Ihren Anträgen auf keinen Fall zustimmen.

(Beifall bei der SPD)

Frau Kollegin Ypsilanti, herzlichen Dank. – Das Wort hat der Kollege Gottfried Milde, CDU-Fraktion.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Um es vorweg zu sagen: Wir werden dem Dringlichen Entschließungsantrag der FDP-Fraktion selbstverständlich zustimmen. Den anderen Antrag werden wir im Ausschuss beraten.

Frau Ypsilanti, Sie vollführen hier einen Eiertanz erster Klasse. Das wissen Sie auch.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Wer so zum europäischen Stabilitätspakt redet, wer sich so über Wirtschaftsweisheiten äußert: Man braucht nur in das Gesicht des netten Kollegen Klemm zu schauen, dann weiß man,was davon zu halten ist.Ich habe Herrn Klemm die ganze Zeit beobachtet. Er hat zwar am Schluss fleißig applaudiert, aber bei manchen Ihrer Wirtschaftstheorien, die Sie hier eben aufgestellt haben, habe ich bei ihm nur

ein müdes Lächeln gesehen.Auch ich konnte nur müde lächeln.

(Beifall bei der CDU)

Die Frage ist doch: Was macht die Bundesregierung, um den EU-Stabilitätspakt in Zukunft wieder einzuhalten? Es geht nicht primär um die Frage, was passiert ist, sondern darum:Was macht die Bundesregierung,um den Stabilitätspakt in Zukunft wieder einzuhalten?

(Zuruf von der SPD: Was macht die Landesregie- rung?)

Wir reden auch noch über die Landesregierung. – Die Bundesregierung macht gar nichts. Ihre Rede à la Lafontaine, die am letzten Montag in Leipzig ungefähr so gehalten wurde, muss hier näher analysiert werden. Lafontaine vertritt in Anlehnung an Keynes die Theorie, dass die Binnennachfrage steigt, wenn nur genug Geld ausgegeben wird. Dazu muss ich sagen: Wir haben in den letzten 20 bis 25 Jahren eine exorbitante Steigerung der Nettoneuverschuldung in Deutschland erlebt.Wo ist denn das Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren geblieben, obwohl wir vier Jahre hintereinander die Stabilitätskriterien nicht erfüllt haben?

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Nach Ihrer Theorie müssten wir doch sprudelnde Geldquellen haben, die Binnennachfrage müsste explodieren, und alles müsste wieder im Lot sein. Gehen Sie doch einmal davon aus, dass die Politik, die im Moment in Deutschland gemacht wird, falsch ist, dass wir in der Weltwirtschaft nicht mithalten können, wenn wir diese Form der Verschuldung weiterhin akzeptieren.Wir können gern auch über Hessen reden.Die hessischen Zahlen kann man aber mit denen anderer Länder und des Bundes nicht vergleichen. Ich habe das nur vorab gesagt, weil ich weiß, was Sie dazwischenrufen würden. Wir können jedenfalls in dieser Form nicht weitermachen.Wir müssen uns mit den Folgen der Verschuldung auseinander setzen.

Ich möchte ganz kurz daran erinnern, worüber wir beim Stabilitätspakt eigentlich reden. Wir reden darüber, dass wir die gute alte D-Mark zugunsten einer guten Idee aufgegeben haben,die uns in Europa voranbringen sollte und auch vorangebracht hat, die der Wirtschaft Planungssicherheit geben sollte. Da die meisten Wirtschaftsbeziehungen innerhalb der Europäischen Union geknüpft waren und sind, hat die Abschaffung verschiedener Währungen durchaus Sinn gemacht. Denken wir aber einmal zurück: Die Menschen in Deutschland hatten doch enorme Ängste, als es um die Frage der Aufgabe der D-Mark ging. Es war ein Versprechen von Helmut Kohl an die Bürger in Deutschland, an die Nutzer der D-Mark, dass die neue Währung genauso stabil sein werde, wie es die alte Währung war. Dieses Versprechen kann Schröder heute nicht einfach brechen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Der Kollege von Hunnius hat dazu schon einiges zitiert. Wie war das eigentlich? Damals haben die auch von Ihnen eben zitierten Wirtschaftsweisen gesagt: Das ist kein Problem. Wir sorgen dafür, dass auch die neue Währung stabil ist. Wir legen deshalb Kriterien fest, die strikt einzuhalten sind. Wenn Länder wie Griechenland, Italien und auch Portugal – Frau da Silva wird es mir verzeihen – bei manchen Kriterien möglicherweise unter der Latte durchlaufen, dann greifen Sanktionen, die die Mitgliedstaaten dazu bringen, ihren Beitrag dazu zu leisten, dass der Euro genauso stabil ist, wie die D-Mark war.

Was tun wir jetzt mit diesem Versprechen? Wir tun so, als könnte man die Kriterien willkürlich jedes Jahr mal so und mal anders interpretieren. So gehen Sie auch mit der Rentenkasse um. Das ist das Problem der deutschen Politik: Es fehlt jede Form der Verlässlichkeit.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Mit dem Stabilitätspakt – Herr von Hunnius hat ja schon einige der Verordnungen zitiert – sollte die Einhaltung der Defizitkriterien dauerhaft sichergestellt werden. Den Menschen in Deutschland wurde die Einführung eines zentralen Instruments versprochen, das sicherstellt, dass alle anderen Kriterien, die die Wirtschaft beeinflussen, ebenfalls eingehalten werden. Wir müssen dorthin zurückkehren.