Protokoll der Sitzung vom 07.10.2004

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das gilt aber beispielsweise auch für Rumänien!)

Die Europäische Union muss prüfen, ob eine Aufnahme der Türkei mit ihren Zielen vereinbar ist. Wir müssen in der Europäischen Union endlich einmal dazu kommen, eine breite Diskussion über diese Ziele zu führen.

Wohin wollen wir mit der Europäischen Union? Viel zu lange galt die Aussage, dass der Weg das Ziel ist. Damit haben wir uns nach dem Prinzip des Ölflecks vorangewurschtelt. Aber das reicht nicht mehr aus. Wir müssen fragen:Wohin wollen wir? Wo liegen die Grenzen der Europäischen Union, und zwar unter geografischen, sachlichen und inhaltlichen Gesichtspunkten? Dann können wir darüber entscheiden, ob die Türkei beitreten kann oder nicht.

(Beifall bei der FDP)

Zweiter Punkt. Die Vertiefung der Europäischen Union hin zu einer wirklichen politischen Union darf nicht behindert werden.

(Beifall bei der FDP)

Wir sehen deutlich, dass die Aufnahme zehn neuer Staaten ein ganz großer Schluck aus der Reformpulle ist – um das einmal flapsig auszudrücken. Dieser Schluck muss erst einmal verdaut werden. Er ist noch längst nicht ver

daut. Wir haben noch sehr große Unterschiede innerhalb der Europäischen Union.

Dritter Punkt. Durch die Aufnahme eines Mitglieds darf kein Präjudiz für die Aufnahme weiterer Mitglieder erfolgen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Weder darf die Aufnahme Polens dazu führen, dass die Türkei beitreten muss, noch darf die Aufnahme der Türkei zur Folge haben, dass eines Tages Weißrussland oder die Ukraine – Gott bewahre – aufgenommen werden.

Vierter Punkt. Die Finanzierbarkeit – die mir als Finanzpolitiker besonders am Herzen liegt – muss natürlich geklärt sein.Wir müssen ganz klar wissen, dass eine erhebliche Steigerung des Beitragsaufkommens der Europäischen Union weder möglich noch denkbar ist. Wenn ein großes Mitglied mit einer Empfängerfunktion aufgenommen wird, führt das dazu, dass die anderen Mitglieder weniger Geld bekommen. Das muss allen klar sein. Das ist im gewissen Umfang eine Wohlstandssenkung. Man kann das wollen. Aber man muss wissen, was man damit beschließt.

Um dies alles beurteilen zu können, müssen Verhandlungen aufgenommen werden. Wir bekennen uns dazu, dass, nachdem die Türkei 17 Jahre lang darauf vorbereitet worden ist, der Beginn der Verhandlungen auch tatsächlich erfolgt. Die Verhandlungen müssen ergebnisoffen sein. Ich bin sehr froh darüber, dass die Europäische Kommission diesen Punkt deutlich gemacht hat.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Es darf keinen Automatismus nach dem Motto geben: Wer einen Antrag stellt, wird früher oder später sowieso aufgenommen.– Vielmehr müssen die Verhandlungen ergebnisoffen sein. Das muss man von vornherein klar sagen. Es darf daher weder falsche Versprechungen noch Vorfestlegungen, noch einen Zeitdruck geben.

Eines darf ich hinzufügen. Die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union wird die kritischste Situation schaffen, in der sich die Europäische Union bis dahin befunden hat – kritischer als nach allen anderen bisher erfolgten Beitritten.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Die Aufnahme der Türkei kann nicht erfolgen, wenn man das Volk außen vor lässt und sagt: Die Kommission vereinbart irgendetwas; wenn das relativ weit vorangeschritten ist, treffen sich die Regierungschefs und meinen, das sei schon gut, ganz zum Schluss wird es ratifiziert.

Herr Kollege von Hunnius, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ich komme gleich zum Schluss, Herr Präsident. Vielen Dank für den Hinweis. – Nein, das Volk muss einbezogen werden. Deshalb unterstützen wir den Vorschlag des künftigen Präsidenten Barroso, das Volk der Europäischen Union vor dem Beitritt der Türkei zu befragen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Letzter Satz.Die FDP-Fraktion sagt Ja zu Verhandlungen, aber sie sagt noch lange nicht Ja zu einem Beitritt. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Vielen Dank.– Das Wort hat die Frau Kollegin Hoffmann, SPD-Fraktion.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die SPDFraktion begrüßt das Votum der EU-Kommission zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.

(Beifall bei der SPD)

Anders, als Sie von der CDU das in der Aktuellen Stunde suggerieren wollen – das belegt auch der Titel der Aktuellen Stunde –, ist mit diesem Votum kein Automatismus verbunden.

(Frank Gotthardt (CDU): Na ja!)

Ich empfehle Ihnen die Lektüre der Erklärungen, die die Europäische Union dazu veröffentlicht hat.

(Beifall bei der SPD – Frank Gotthardt (CDU): Das lässt sich gut kleinreden!)

Vor diesem Hintergrund ist Ihre Türken-vor-Brüssel-Polemik sehr leicht zu durchschauen. Sie können das nachlesen. Ich zitiere einen Satz aus der Erklärung der Europäischen Kommission.

Die Unumkehrbarkeit des Reformprozesses, seine Umsetzung insbesondere im Hinblick auf die Grundfreiheiten müssen sich über einen längeren Zeitraum bestätigen.

An anderer Stelle heißt es:

Das Tempo der Reformen wird den Fortgang der Verhandlungen bestimmen.

Ich denke, es ist deutlich, was damit gemeint ist.

Wir diskutieren hier über etwas ganz anderes. Die CDU hat ein völlig neues Wahlkampfthema entdeckt. Wenn Edmund Stoiber plötzlich sagt, die Europäer müssten über einen Beitritt der Türkei abstimmen, weil es einem stolzen, selbstbewussten Land wie der Türkei nicht zuzumuten sei, wenn sich das europäische Volk in einer Volksabstimmung dagegen entscheidet, zeigt das ganz deutlich, wohin die Reise geht.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren von der CDU, bevor wir darüber diskutieren, sind Sie aufgefordert, im Bundestag dem Entwurf der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ein Gesetz über die Einführung eines Referendums und von Volksabstimmungen zuzustimmen, damit in Deutschland wenigstens über die europäische Verfassung abgestimmt werden kann.

(Beifall bei der SPD – Dr. Franz Josef Jung (Rhein- gau) (CDU): Das werden wir nicht tun!)

Herr Kollege von der CDU

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Er heißt Gotthardt! – Frank Gotthardt (CDU): Ich nehme die Entschuldigung an!)

Herr Gotthardt –, Sie haben eine privilegierte Partnerschaft mit der Türkei gefordert. Diese privilegierte Partnerschaft mit der Türkei existiert, auf der Grundlage international anerkannter Rechtsakte, seit 40 Jahren.

(Beifall bei der SPD)

Wer so argumentiert, zeigt uns, dass er ein sehr gespaltenes Verhältnis zum europäischen Recht hat.

(Beifall bei der SPD)

Zu dem wirtschaftspolitischen Argument, das Sie auch noch gebracht haben: Vor 15 Jahren hätte sich niemand vorstellen können, dass die Länder Ost- und Mitteleuropas zum 1. Mai 2004 der Europäischen Union beitreten würden – mit allen Problemen, die ohne Zweifel damit verbunden sind. Als in den Siebzigerjahren beschlossen wurde, Beitrittsverhandlungen mit Portugal aufzunehmen, war Portugal so arm, wie es die Türkei heute ist. Sowohl in der Türkei als auch in der Europäischen Union wird es eine Entwicklung geben.

Zum nächsten Aspekt: Integration und kulturelle Unterschiede. Es wird immer wieder betont, die Europäische Union sei eine Wertegemeinschaft, in die die Türkei aufgrund ihrer kulturellen Unterschiede nicht hineinpasse. Ich möchte noch einmal betonen und halte es für einen ganz wichtigen Aspekt: Eine demokratische Türkei kann einen Modellcharakter für die Demokratisierung in der islamischen Welt haben.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ein weiterer Aspekt ist eine Frage, die ich an die CDU richte: Wie wollen Sie den hier lebenden türkischen Mitbürgern erklären, dass sie sich in unsere Gesellschaft integrieren sollen? Sie bringen genau diese kulturelle Prägung mit, die die Gegner des EU-Beitritts nicht innerhalb der Europäischen Union sehen wollen. Diesen Widerspruch können Sie nicht auflösen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir haben am 12. Mai hier schon einmal eine ähnliche Debatte geführt. Die Argumente der CDU sind in dieser Zeit nicht besser geworden.