„Wissen ist Macht“, das ist eine alte Weisheit. Aber der Umkehrschluss trifft nicht zu, und zwar insbesondere bei dieser Regierung. Macht bedeutet leider nicht immer, auch über das nötige Wissen zu verfügen. Schon gar nicht verfügt man deshalb über die nötige Weisheit. Diese brauchen wir aber, um mit den Herausforderungen umgehen zu können, vor die uns die Bildungspolitik im Moment stellt. Offensichtlich verfügen Sie nicht über das dafür notwendige Wissen. Schon gar nicht verfügen Sie über die entsprechende Weisheit. Sonst hätten Sie sehr genau zugehört und den Gesetzentwurf sehr genau beraten. Sie wären ansonsten geduldigere Zuhörer gewesen und wären auch etwas intensiver auf die Proteste aus der Bevölkerung eingegangen.
Mit der Arroganz der Macht haben Sie sich in ein bildungspolitisches Schneckenhaus zurückgezogen.Anstelle des Wissens und der Erfahrung setzen Sie den Glauben. Sie setzen den Glauben, dass man mit Rezepten aus der Vergangenheit die bildungspolitische Zukunft gestalten könne. Sie haben die Erkenntnisse der Wissenschaft in den Wind geschlagen. Sie haben die Forderungen der Lehrerinnen und Lehrer ignoriert. Sie haben die Lehrerinnen und Lehrer demotiviert. Sie haben auch die Wünsche der Eltern und der Kinder ignoriert.
Damit berauben Sie die hessischen Schülerinnen und Schüler ihrer Chancen auf eine zukunftsorientierte Bildung. Damit versperren Sie den Kindern und Jugendlichen ihre Zukunftspotenziale; und Sie versperren die Zukunftspotenziale unserer Gesellschaft.
Frau Hinz hat vorhin gesagt, Sie könne nur ständig wiederholen, was man fordere und wie eine bessere Bildungspolitik aussähe. Ich werde immer wieder die Ergebnisse der PISA-Studie vortragen. Denn an der PISA-Studie wird sich moderne Bildungspolitik messen lassen müssen. Wir werden dann sehen, dass Ihr Gesetz diesen bildungspolitischen Erkenntnissen nicht gerecht werden wird.
Deshalb werde ich das ständig wiederholen. Nirgendwo wird sehenden Auges so viel schulischer Misserfolg produziert wie bei uns.
Nirgendwo sonst gibt es so viele Verlierer hinsichtlich der Bildung. Frau Wagner, daraus müssen wir lernen.
In keinem anderen Land ist die Kluft zwischen den Stärkeren und Schwächeren so groß wie in Deutschland. In praktisch keinem anderen Land werden die Schwächeren von den Stärkeren so früh getrennt. Mittlerweile ist auch der gemeinsame Unterricht von dieser Landesregierung bedroht. Auch das führt zu einer Spaltung der Gesellschaft.
Der allergrößte Skandal aber ist:In keinem anderen Land ist der Bildungsabschluss so abhängig vom Geldbeutel und von der Herkunft der Eltern.
Mit einem Satz gesagt: Kein anderes Land leistet sich eine so abenteuerliche Verschwendung von Ressourcen in Bezug auf die Bildung und in Bezug auf die Hoffnungen der Kinder und Jugendlichen hinsichtlich ihrer Zukunft.
Gegen diese Wirklichkeit haben Sie Ihren Schulgesetzentwurf gesetzt. Ich würde sagen: Er enthält eher Gesundbeterei und schwarze Magie.
Gucken wir uns doch einmal an,wie die Auswirkungen Ihrer Schulgesetznovellierung aussehen werden. Das Vorhaben steht nämlich im krassen Gegensatz zu dem, was uns die Wissenschaft anträgt und was die Ergebnisse der PISA-Studie besagen.
Nach der 4. Klasse werden Sie die Türen zuschlagen, anstatt sie für alle Kinder lange offen zu halten. Sie zerschlagen praktisch die Förderstufe. Herr Weinmeister, auch wenn Sie es bestreiten, die Schulzeitverkürzung und die drohende Querversetzung werden die Kinder und die Eltern enorm unter Druck setzen. Auch wenn Sie es bestreiten: Es wird zu einer Ausdünnung des Bildungsangebots für Kinder auf dem Land kommen. Damit werden Chancen für Kinder, die auf dem Land leben, vernichtet werden. Gleichzeitig werden Sie den Eltern und den Kommunen zusätzliche finanzielle Belastungen aufbürden.Auch da geht es um die Frage der Gerechtigkeit.
Der Unsinn des Sitzenbleibens wird zunehmen. Darum müssen wir uns dringend kümmern. Die Zahl derer, die bei der Bildung verlieren, wird steigen. Ich prophezeie Ihnen, dass dies aufgrund dieser Schulgesetznovellierung geschehen wird. Sie haben aus der PISA-Studie nichts gelernt. Sie haben nichts von Finnland gelernt. Sie haben auch nichts von Polen gelernt.
Das ist jetzt ganz neu. Sie wissen, dass Polen zu den neuen Spitzenreitern gehört. Polen hat in der Bildungspolitik einen großen Sprung nach vorne gemacht. Was wurde dort gemacht? Die Polen haben die Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr verlängert. Sie halten an dem gemeinsamen Unterricht in den ersten sechs Jahren fest. Auf die sechsjährige Grundschulzeit folgt bei ihnen für alle eine dreijährige Mittelstufe.
Nichts von alledem findet sich bei der CDU wieder. Da frage ich mich: Wie viele Beweise und wie viel Zeit brauchen Sie noch, um zu reagieren?
Es leidet ja nicht nur die Qualität.Auch die Quantität leidet. Man braucht es gar nicht mehr zu sagen: Die so genannte Unterrichtsgarantie wurde der absoluten Lächerlichkeit preisgegeben. – Das kann man erkennen, wenn man in die Schulen geht.
Sie haben die Arbeitszeit trotz immer größerer Anforderungen an die Lehrer erhöht. Das sind die Auswirkungen der schlechten Finanzpolitik. Die Bildungspolitik ist aber noch schlechter.
Bei der Einstellung der Lehrerinnen und Lehrer befinden wir uns auf einem Tiefststand. Das ist nicht unsere Vorstellung von Bildungspolitik. Das ist auch kein Rezept, wie wir in Zukunft zu der viel zitierten Informations- und Wissensgesellschaft kommen. Herr Weinmeister, ich möchte in diesem Zusammenhang auch noch einmal auf die gesellschaftspolitische Dimension zu sprechen kommen, die bei der CDU keine Rolle spielt. Es geht dabei nämlich auch um die Frage, wie wir die Gesellschaft sehen. Bei der SPD hat die Bildung für die Verwirklichung der Grundwerte einen zentralen Stellenwert. Dabei geht es um Grundwerte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Das gilt sowohl bezogen auf das einzelne Kind und das einzelne Individuum wie auch auf die Gesellschaft. Bildung ist die entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung persönlicher Autonomie und für die Wahrnehmung persönlicher Freiheit.
Ich sage auch ganz klar: Ohne Solidarität ist Bildung nicht realisierbar. Damit meine ich, dass Bildung ein öffentliches und essenzielles Gut ist, das jedem, unabhängig davon, wo er herkommt, zur Verfügung stehen muss. Das bedeutet aber auch,dass die Bildung solidarisch finanziert werden muss.
Denn Bildung ist als öffentliches Gut auch für diese Demokratie unverzichtbar. Bildung ist auch ein wesentlicher Punkt, damit es zu Gerechtigkeit kommen kann. Sie muss Chancengleichheit beim Zugang zu den materiellen Ressourcen und den Möglichkeiten schaffen, die diese Gesellschaft bietet.
Dass wir über die Gesellschaft und die Bilder reden, die es in dieser Gesellschaft geben kann, trifft Sie bis ins Mark. Denn Sie haben diese Grundwerte nicht.
Bildung ist mehr als die Möglichkeit, Zugang zur Volksschule zu haben. Bildung hat den Auftrag, jedes Kind zu fördern und zu motivieren. Ihm muss geholfen werden, seine Schwächen auszugleichen und seine Stärken zu stärken.
(Mark Weinmeister (CDU): Ja, so ist es! Und das wollen Sie dann machen, in dem Sie alle zusammen in eine Klasse stecken?)
Wir haben auf unser bildungspolitischen Veranstaltung, die gestern Abend stattgefunden hat, etwas von Finnland gelernt. Wir dürfen kein Kind dadurch beschämen, dass wir es sitzen bleiben lassen, indem wir es querversetzen oder indem wir es zurückstellen.
Deshalb haben wir uns das in Finnland geltende Motto zu Eigen gemacht, das lautet: Jedes Kind kann es schaffen, vorausgesetzt, wir sind gut genug, es entsprechend zu fördern.
Bei Ihnen gibt es die Glücksmarie und die Pechmarie, je nachdem, aus welchen Verhältnissen das Kind kommt, je nachdem, welchen kulturellen Hintergrund es hat, und in Zukunft je nachdem, aus welcher hessischen Region es stammt.
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU: Unter- stellung! – Mark Weinmeister (CDU): Haben Sie schon die Studie gelesen über Chancen von Leuten, die Klassen wiederholt haben?)
Wir wollen das Kind in den Mittelpunkt stellen und nicht die Ideologie. Ich sage Ihnen: Das wird allen in dieser Gesellschaft nützen.
Ich sage auch ganz deutlich: Wir wollen auch Leistung. Aber im Moment gibt es nicht die richtigen Voraussetzungen, alle Leistungen von den Kindern abzurufen. Deshalb müssen wir noch einmal nachgucken bei der frühkindlichen Förderung.Wir wollen eine Qualitätsganztagsschule und wollen die individuelle Förderung an allererster Stelle stehen haben. Die Kinder brauchen mehr Zeit zum Lernen und daher auch die Qualitätsganztagsschule.
Meine Damen und Herren, ich mache mir gar keine Illusionen, Sie werden das Gesetz heute durchpauken. Es mag schon sein, dass heute die Arroganz der Macht oder die Arroganz der Ideologie die Sieger sein werden. Ich sage Ihnen aber auch:Der Widerstand in der Bevölkerung wird nicht abreißen, und wir werden ihn unterstützen. Die Menschen haben es auch erkannt.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Die Menschen werden sich Ihre rückwärts gewandte Bildungspolitik aus dem 19. Jahrhundert nicht mehr bieten lassen. Sie wollen eine moderne, eine aufgeklärte Schule, eine moderne, realistische Bildungspolitik auf der Höhe der Zeit.
Ich sage Ihnen eines: Die Schule für alle wird kommen. Sie wird kommen,ob Sie wollen oder nicht.Das Drama ist nur, dass es für die hessischen Schüler, für die hessischen Lehrer und die hessischen Eltern viel später wird als für alle anderen. Das ist der Skandal dabei,