Protokoll der Sitzung vom 15.12.2004

dergarten zu schicken, weil sie Beiträge sparen wollen. Sie sind sich nicht bewusst, dass der Besuch einer Vorschuleinrichtung die Chancen ihrer Kinder erheblich erhöht, die Schule erfolgreich zu absolvieren.

Außer der Ankündigung eines Bildungs- und Erziehungsplans passiert in Hessen derzeit leider nichts. Daraus machen Sie in Ihrem Antrag keinen Hehl, meine Damen und Herren von der CDU. Es ist langsam skurril, einen virtuellen Bildungs- und Erziehungsplan als einen Meilenstein in der frühkindlichen Bildung anzupreisen. Ich würde eher das Wort „Jahrhundertwerk“ wählen; denn so lange scheint es zu dauern, bis wir endlich etwas auf dem Tisch liegen haben.

(Beifall bei der SPD)

Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule ist ein weiteres Feld, das Sie weitgehend unbeackert lassen. Kooperationen finden an vielen Stellen und mit viel Engagement der Beteiligten statt. Sie bleiben allerdings der Beliebigkeit überlassen. Eine verbindliche Kooperationsvereinbarung, gekoppelt mit einem entsprechenden Zeitbudget für Lehrer und Erzieher, kann dazu beitragen, zuverlässige Kooperationsstrukturen einzuführen.

Frau Kultusministerin, auch bei der flächendeckenden Einführung der Schuleingangsstufen bleiben Sie leider auf halbem Wege stehen. Der zweite Modellversuch zur Neukonzeption der Schuleingangsstufe endete am 31. Juli dieses Jahres. Sie haben daraufhin einen Paragraphen in das Hessische Schulgesetz aufgenommen, der es Grundschulen auf Antrag ermöglicht, den Schuleingang zu flexibilisieren. Die flächendeckende Einführung einer Schuleingangsstufe ist aber nach unserer Ansicht nach mehr als zwölfjähriger Diskussion überfällig.

(Beifall bei der SPD)

Sie kann dazu beitragen, Kinder, die sich auf verschiedenen Entwicklungsstufen befinden, dort abzuholen und gezielt zu fördern. Dann brauchen sie nämlich auch ihre viel gerühmten Vorlaufkurse nicht mehr, die nur an einem kleinen Ausschnitt der Lernproblematik ansetzen, nämlich bei der Sprachvermittlung.

Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass der Erwerb von Sprachkompetenz zunehmend auch ein Problem deutscher Kinder ist. Die Ergebnisse der PISA-Studie zeigen eindeutig, dass der soziale Hintergrund der Familien für die Bildungsbenachteiligung von Kindern ausschlaggebend ist. Kinder mit Migrationshintergrund haben hier eine doppelte Last zu tragen. Eine bessere schulische Bildung und die Einführung der Schuleingangsstufe machen Vorlaufkurse und Rückstellungen für alle Kinder überflüssig.

Handlungsfeld Nummer zwei: Qualitätsentwicklung und selbst verantwortliche Schule. Akzeptieren Sie endlich, dass dies zwei Seiten einer Medaille sind. Bildungsstandards, Evaluation und Qualitätsentwicklung machen nur dann Sinn, wenn die Schulen gleichzeitig in die Eigenverantwortlichkeit entlassen werden.

(Beifall bei der SPD)

Die Schulen müssen das Recht haben, auf der Grundlage ihres Schulprogramms und der Evaluationsergebnisse den Prozess der Qualitätsentwicklung selbst zu definieren. Ausdifferenzierte Lehrpläne dagegen und die starre Stundentafel, die Sie immer wieder wie ein Brett vor dem Kopf vor sich hertragen, behindern die Entwicklungsfä

higkeit der Schulen ebenso wie die fehlende Verantwortung für personelle Ressourcen und Sachmittel.

Eine Schule muss selbst entscheiden können, für welche Aufgaben sie zusätzliches Personal einsetzen will. Sie muss, ausgehend von den Evaluationsergebnissen, den Spielraum haben, die Unterrichtsinhalte und die Methodik so zu gestalten, dass ihre Schüler davon profitieren. Sie muss entscheiden können, wie jedes einzelne Kind so gefördert werden kann, dass es die Anforderungen, die die Bildungsstandards festlegen, erreicht und nicht zurückgelassen wird. Mit „Testeritis“, detaillierten Lehrplänen und halbherzigen bürokratischen Selbstverantwortungsprojekten behindern Sie diesen Prozess in den Schulen massiv.

(Beifall bei der SPD)

Handlungsfeld Nummer drei. Ein struktureller Mangel unseres Schulsystems ist die fehlende individuelle Förderung. Auch darin scheinen wir uns weit über die Parteigrenzen hinweg einig zu sein. Durch eine frühzeitige Selektion wird allerdings verhindert, dass die Kinder ihre Potenziale entwickeln und in den Genuss einer individuellen Förderung kommen.

Die gnadenlose Abschottung der Schulformen gegeneinander, die nach Ihrem neuen Gesetz durch die faktische Abschaffung der Förderstufe schon nach der vierten Klasse beginnt, ist genau der falsche Weg. Wo individuelles Fördern und Differenzieren in der Schule gefragt sind, setzen Sie auf Selektion und die Reparatur von Folgeschäden. Nichtversetzung, Rückstellung und Querversetzung – dadurch werden den Kindern Misserfolgserlebnisse vermittelt, obwohl doch eigentlich die Motivation gefördert werden müsste.

(Beifall bei der SPD)

Inzwischen wiederholen 24 % der deutschen Schulkinder mindestens einmal in ihrer Schullaufbahn eine Klasse.Die finanziellen Mittel, die für solche Reparaturversuche aufgewendet werden, sollten eher in einen Ausbau der Fördersysteme innerhalb der Schule investiert werden.

Ich will noch etwas zu unserem Reizthema sagen.Wir haben heute schon gehört, dass es weiterhin ein solches ist. Ich weiß, dass die CDU an diesem Punkt nur noch mit reflexartigen, paranoiden Abwehrmechanismen reagiert. Aber die „Altlinken und Ideologen“, wie es in Ihrem Antrag heißt, sitzen längst nicht mehr nur in der SPD und in der OECD. Viele haben das Tabuthema Dreigliedrigkeit unseres Schulsystems aufgegriffen, weil sie eine erfolgreichere Schule für unsere Kinder wollen.

Ich will einige Aussagen aufgreifen. Die fünf Wirtschaftsweisen empfehlen in ihrem Herbstgutachten eine sechsjährige Grundschule und integrative Unterrichtskonzepte in den weiterführenden Schulen – der Sachverständigenrat als „ideologische“ Truppe.

Der Geschäftsführer und Bildungsexperte der VhU – Frau Hinz hat es schon erwähnt – stellt in einem Interview mit der „FAZ“ fest, das dreigliedrige Schulsystem als Königsweg sei nicht haltbar. Ich glaube, Herr Feuchthofen würde sich sehr dagegen wehren, als „Altlinker“ bezeichnet zu werden.

Der Bundesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung, Ludwig Eckinger, kritisiert, dass, statt die gemeinsame Lernzeit in der Grundschule zu verlängern, die vierjährige Grundschule forciert wird. Ich glaube, auch mit ihm könnten Sie sich über Ideologie auseinander setzen.

Last, but not least: Die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft fordert in ihrem Konzept „Bildung neu denken“ eine sechsjährige Primarstufe und die Zweigliedrigkeit der weiterführenden Schulen, also faktisch die Auflösung der Hauptschule.

Diese Liste ließe sich fortsetzen. Sie wird von Tag zu Tag länger.Die Denkmodelle sind verschieden,aber sie haben den ernsthaften Versuch gemeinsam, aus den internationalen Vergleichsstudien die richtigen Schlüsse für eine Schule der Zukunft zu ziehen, die die Kinder so fördert, dass sie ihre Leistungspotenziale ausschöpfen können.

Nur die CDU verharrt in alten Denkmustern und scheut nicht davor zurück, alle diejenigen zu verunglimpfen, die über neue Wege nachdenken. Der italienische Schriftsteller Carlo Manzoni hat Folgendes formuliert:

Ideologie ist der Versuch, die Straßenbeschaffenheit zu ändern, indem man neue Wegweiser aufstellt.

Ich will hinzufügen: Während Wirtschaft, Lehrer, Eltern und Experten sich daranmachen, eine neue Straße zu bauen, begnügt sich die hessische CDU weiterhin damit, Wegweiser aufzustellen.Diese Wegweiser zeigen meistens in die Vergangenheit und fast immer ins Leere.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort hat Frau Kultusministerin Wolff.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD und die GRÜNEN in diesem Landtag haben in den letzten Tagen nicht so ganz gemerkt, dass sich die Diskussion nach PISA gewandelt hat. Aus Anlass der Forderung der Bundesbildungsministerin – Herr Irmer, das ist der einzige Punkt Ihrer Rede, dem ich widerspreche, sie ist nicht die oberste Bildungsministerin der Republik –, die Hauptschule abzuschaffen, hat sich die Diskussion erheblich gewandelt.

(Beifall der Abg. Brigitte Kölsch (CDU))

Daraus ist deutlich geworden, dass die SPD und die GRÜNEN die Ergebnisse der zweiten PISA-Runde schlechtreden.

(Brigitte Kölsch (CDU): Ideologisch!)

Das hat eine Ursache. Deutschland ist nicht, wie der eine Antrag suggeriert, unterhalb des Schnitts,

(Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe das Ergebnis nicht schlechtgeredet! Ich habe gesagt, man muss es differenziert betrachten!)

sondern im Schnitt.– Frau Hinz,ich rede im Moment über den Antrag, in dem steht, Deutschland habe unterdurchschnittlich abgeschnitten.

Ich halte zunächst einmal sehr nüchtern und als Ergebnis eines differenzierten Bildes fest: Wir sind im Schnitt. Das ist gegenüber dem Bisherigen eine Verbesserung, die in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften etwa die Größenordnung eines Lernfortschritts von drei bis sechs Monaten ausmacht. Dies ist eine ganz nüchterne Feststellung, mit der man nicht sagen kann, Deutschland sei nach wie vor unverändert unterhalb des Durchschnitts

bei PISA. Wir wollen mit diesem ersten Schritt auch einmal zufrieden sein,ohne uns eine einzige Sekunde zurückzulehnen.

Frau Habermann hört immer gerne, wenn ich mich mit Herrn Schleicher auseinander setze. Frau Habermann, ich bin das übrigens nicht alleine. Ich habe in einem Kommentar gelesen, dass meine ehemalige Kollegin aus Nordrhein-Westfalen,Gabi Behler,das relativ ähnlich sieht wie ich, nämlich als vorauslaufendes Schlechtreden des Ergebnisses. Sie sagt zu dem, was dort immer assoziiert wird, nämlich zur nationalen Entwicklung und zur Einheitsschule – ich zitiere –:

Er hat leider schon lange die Grenze zwischen dem konzeptionellen Gestalter eines wichtigen internationalen Leistungsvergleichs und den missionarisch agierenden Politiker überschritten.

Meine Damen und Herren,das ist vollkommen richtig.Ich komme auf Gabi Behler noch einmal zurück.

(Beifall bei der CDU)

Es ist in der Tat so, dass wir in den Bereichen des ersten PISA-Ergebnisses natürlich noch keine gravierenden Verbesserungen haben können. Das geht nicht.Wir haben aber zur Kenntnis zu nehmen, dass etwas bewirkt werden kann. Das können wir anhand der Ergebnisse in der Mathematik und den Naturwissenschaften zur Kenntnis nehmen, in denen eine deutliche Veränderung, ja sogar Verbesserung gegenüber dem Lesen erscheint.

Wem haben wir das zu verdanken? – Es wurde schon gesagt: der Tatsache, dass wir nach der Diskussion um die TIMSS-Ergebnisse 1997 und 1998 ein Programm wie SINUS aufgesetzt haben. Das ist kontinuierlich weiterentwickelt worden.Diese Landesregierung hat dafür gesorgt, anders als in allen anderen Bundesländern, dass die wenigen Modellschulen, die Hessen zur Verfügung hatte, nämlich 30, ausgeweitet worden sind. Etwa die Hälfte der Sekundarstufenschulen I im Lande Hessen hatte diese Lehrerfortbildung und konnte damit eine Verbesserung der Schulqualität von innen machen.

Daran zeigt sich, dass mit maßvollem aber auch sehr tatkräftigem Handeln Bildungspolitik gewandelt werden und einen messbaren Erfolg haben kann. Meine Damen und Herren, dafür will ich den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern, die diese Fortbildung angenommen, ihren Unterricht verändert und die Aufgabe der Abschlussprüfungen akzeptiert und positiv gestaltet haben, an dieser Stelle auf das Herzlichste danken.

(Beifall bei der CDU)

Natürlich haben wir die Sorgenkinder. Natürlich haben wir das große Problem der Migration. Natürlich haben wir, wenn wir einmal die Punktzahlen auseinander rechnen, folgende Situation: In Mathematik haben wir im deutschen Durchschnitt 503 Punkte, deutsche Schüler ohne Migrationshintergrund kommen auf 527 Punkte, deutsche Schüler mit nur einem im Ausland geborenen Elternteil kommen auf 508 Punkte, Kinder zugewanderter Familien,die gerade erst zugewandert sind – das ist das erschreckende Ergebnis im Verhältnis zur letzten Zahl –, kommen auf 454 Punkte, und Kinder der ersten Migrantengeneration – d. h. Kinder, die schon hier aufgewachsen sind – kommen auf 432 Punkte.

Das zeigt die Problematik vor dem Hintergrund der Migration. Das zeigt die Wichtigkeit dessen, dass wir mit den Vorlaufkursen neue Bildungsbiografien anfangen. Diese

Kinder werden bei den nächsten Orientierungsarbeiten schon zeigen können, was das in der Umsetzung bedeuten kann.

(Beifall bei der CDU)

Das zweite Problem – das hängt natürlich mit dem ersten zusammen – ist die hohe Zahl der Risikoschüler: 21,6 %. Verteilt über die Bildungsgänge sieht es folgendermaßen aus: Die Hauptschule ist das große Sorgenkind, um das man sich mühen muss,mit 50 %,integrierte Gesamtschule 25 %, Realschule 14 %. Das ist und bleibt ein Auftrag, der nicht bereits nach PISA I, also mit den Ergebnissen von vor drei Jahren, bewältigt sein kann. Es bleibt ein Handlungsauftrag über die nächsten fünf bis zehn Jahre und wahrscheinlich auch darüber hinaus.