Protokoll der Sitzung vom 15.12.2004

Meine Damen und Herren, ich habe immer wieder gesagt – es bleibt dabei –, dass die erste Aufgabe und die erste Sorge nicht dem Täter gilt.Wir leiden in der Bundesrepublik Deutschland daran, dass wir uns seit vielen Jahren ausschließlich um den Täter gekümmert haben. Entscheidend ist aber das Opfer. Die entscheidende Person ist das Opfer.Wir müssen alles tun, damit es weniger Opfer gibt. Wenn wir dann den Täter auch noch auf den richtigen Weg bringen, haben wir gewonnen. Aber die Priorität ist

die Vermeidung weiterer Opfer, erst dann kommt der Täter.

Diese Relation wird in der Regel von Ihnen in dieser Debatte nicht wahrgenommen. Darin liegt der Fehler. Es geht nicht nur um Sozialpolitik. Es geht auch nicht nur um Strafvollzug oder Strafpolitik, sondern Sie müssen das Feld schon ein bisschen differenzierter ansehen.

Wenn wir das differenzieren, dann ist völlig klar: Wenn Polizei und Justiz auf den Plan treten, ist das Kind meistens schon in den Brunnen gefallen. Die knapp 20.000 Mitarbeiter der hessischen Polizei und die rund 10.000 Mitarbeiter der hessischen Justiz – im weitesten Sinne – sind auch nicht glücklich, wenn sie sich um diese Dinge kümmern müssen; das ist unsere staatliche Verpflichtung. Gemeinsam wissen wir alle, es ist notwendig, viel früher anzusetzen. Bei diesem Viel-früher-Ansetzen sind wir beim Stichwort Prävention.

Frau Eckhardt, ich habe es mir aufgeschrieben. Sie haben sehr kritisch – um nicht zu sagen: ablehnend – erwähnt, dass die Stadt Wiesbaden Erziehungsvereinbarungen mit Erziehungsberechtigten trifft, um so zu versuchen, deren Kinder – in der Regel sind es deren Kinder oder dort mitlebende Kinder – wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Das haben Sie kritisiert.

(Birgit Zeimetz-Lorz (CDU): Das war sehr freundlich formuliert!)

Sie haben es abgelehnt. Ich muss sagen, ich kann das nicht verstehen.

(Beifall bei der CDU – Birgit Zeimetz-Lorz (CDU): Ich auch nicht!)

Frau Kollegin Eckhardt, im Moment sind Sie nicht in der Lage, zuzuhören, aber einmal ernsthaft:Was spricht dagegen, dass wir die Eltern daran erinnern, dass sie nicht nur ein Erziehungsrecht, sondern auch eine Erziehungspflicht haben? Das ist doch richtig.

(Beifall bei der CDU)

Wenn die Sozialdemokraten hier geißeln, dass die Eltern sich darum kümmern, dass sich ihre Kinder möglichst so entwickeln, dass sie nicht kriminell werden, und dann die Probleme der Gesellschaft aufladen, dann muss ich sagen: Das ist der Irrweg, den die Sozialdemokraten – vor allem in Hessen – seit Jahrzehnten gehen. Wenn Sie ihn gehen wollen, dann machen Sie das weiter.

(Beifall bei der CDU)

Erziehungsvereinbarungen sind notwendig. Sie sind klug, und sie sind ein probates Mittel.

(Zurufe der Abg. Hannelore Eckhardt und Gernot Grumbach (SPD))

Der nächste Punkt. Sie haben das teilweise gewürdigt, wenn auch nicht der Landesregierung zugesprochen. Ich will das nicht in gleicher kleiner Münze machen, sondern ich will mich ausdrücklich bei denen bedanken, die es tun: AGGAS und alles, was wir bei der Polizei haben, und darüber hinaus gibt es noch eine ganze Menge. Wir haben neue Leuchttürme eingeführt, die wir „Netzwerk gegen Gewalt“ genannt haben.Was geschieht dort eigentlich?

Unter der Führung von vier Ministerien – Innen-, Sozial-, Kultus- und Justizministerium – haben wir ein Netzwerk, quer über das Land, mit dem wir versuchen, Polizei, Jugendamt, Sozialamt und die Vereine zusammenzuführen, dazu die Schulen – also die Kommunen –, um möglichst

früh reagieren und erkennen zu können, wo etwas falsch läuft und wie wir die Dinge besser in den Griff bekommen müssen.

Ich bedanke mich bei all denen, die dort mitmachen. Sie haben ein neues Projekt nicht erwähnt, mit dem wir nun wirklich Furore machen,Stichwort:Teen Courts.Dort versuchen wir, in den Schulen mit Schülern so weit zu kommen,dass sie selbst das Fehlverhalten ihrer Mitschüler beurteilen und versuchen, sozusagen von Schüler zu Schüler einzuwirken, damit Gewalt vermieden wird. Wir haben das Schulschwänzerprogramm neu eingeführt. Ich erinnere mich noch,wie wir viele Jahre lang darüber diskutiert haben, dass es dieses Thema nicht gibt.

Ganz nebenbei sind wir das einzige Land, das alle Kommunen verpflichtet hat – und ihnen auch hilft –, Prävention vor Ort zu betreiben.

Herr Minister, die Redezeit der Fraktionen ist abgelaufen – für Sie als Hinweis.

Herr Präsident, ich habe Ihren Hinweis aufgenommen. Das Thema ist aber von so großer Bedeutung, dass Sie mir gestatten, noch einige Bemerkungen dazu zu machen. Wenn wir es schon diskutieren, dann bitte nicht so oberflächlich.

Ich will auf einen weiteren Bereich eingehen: Schule machen ohne Gewalt, SMOG. Das ist ein Erfolgsmodell, das wir auf allen Ebenen nicht nur initiiert, sondern auch unterstützt haben. Ich bedanke mich bei all denen, die dort arbeiten.

Ich möchte noch einen Bereich einführen, der in der bisherigen Debatte nicht erwähnt wurde. Wenn es richtig ist – und es ist richtig –, dass es immer klüger ist, eine Fehlentwicklung zu beseitigen, statt die eingetretenen Probleme nachher polizeilich oder justiziell zu bearbeiten, dann will ich ausdrücklich die großartige Arbeit herausheben, die unsere Vereine im Lande leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Das ist die wichtigste Form der Prävention, die es überhaupt gibt. Sie werden es dem Innen- und Sportminister nicht übel nehmen: Nirgends wird mehr Integrationsarbeit geleistet. Nirgends bekommen junge Menschen mehr Orientierung – ich füge ausdrücklich hinzu: Heimat –,Anerkennung und Selbstwertgefühl wie im Sport.

(Beifall bei der CDU)

Was in diesen Vereinen tagtäglich geleistet wird, ist grandios.Wir können pro Stadt noch 30 Sozialarbeiter einstellen – nie und nimmer wird das diese Leistungen erbringen, die jeden Nachmittag ehrenamtlich in der Turnhalle, auf dem Sportplatz, im Kindergarten erbracht werden. Wir sollten uns nicht mit deren Leistungen rühmen.Aber wir dürfen einmal dankbar erwähnen, dass das Land Hessen jenes Land ist, das in der Vereinsförderung bundesweit führend ist.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, deshalb: Reaktion, Repression ist notwendig für diejenigen, die keine andere Sprache verstehen. Prävention ist immer der kluge Weg und

unsere Leitlinie dort, wo jemand bereit ist, auf dieses Angebot einzugehen.

Nun zu Ihnen, Herr Kollege Rentsch, und zu einem Problembereich, der mich sehr besorgt macht. Wenn ich das in der Eile richtig gesehen habe, haben Sie sich auf Seite 10 der Antwort bezogen und gesagt, wir hätten das Thema junge Aussiedler nicht angemessen dargestellt.

Ich bedauere es, wenn Sie diesen Eindruck hatten. Es ging darum, die Dinge ein wenig in Ordnung zu bringen. Nicht jeder junge Aussiedler ist drogenabhängig oder alkoholkrank. In unserer Antwort finden Sie auf den Seiten 33 und 34 sehr detaillierte Ausführungen über die notwendigen Maßnahmen gerade für junge Spätaussiedler, über die notwendigen Rahmenbedingungen. Ich bitte, beides zu bedenken.

Ich füge noch eines hinzu, Stichwort: junge Aussiedler. Da kann man vieles erklären, aber nichts entschuldigen. Es gibt da nichts zu relativieren. Es ist richtig: Dieses Problem macht uns besorgt – wie uns überhaupt das Thema der ethnischen Gruppen besorgt machen muss.Meine Damen und Herren, dort kommen Sie mit dem Aspekt der Staatsbürgerschaft nicht weiter. Denn viele, um die es da geht, sind mittlerweile eingebürgert, hier geboren. Unter anderem haben wir drei Gruppen, die uns große Sorgen machen. Sie wissen, was in manchen Städten und Vierteln läuft: Die Türken treten gegen die Kurden an, die Kurden gegen die Türken, beide gemeinsam gegen die Russen.

(Boris Rhein (CDU): So ist es!)

Dort haben wir eine exorbitante Jugendkriminalität. Dort geht es in der Regel um Rauschgift, um Rotlichtmilieu, um Raub. Aus Zeitgründen – der Herr Präsident hat schon gemahnt – will ich nicht auf alle Punkte eingehen. Die Polizei hat hier eine umfangreiche Erfahrung.

Ich füge eines hinzu, eine Sache, die mich sehr nachdenklich gestimmt hat. In einem sehr kritischen Fall habe ich Gelegenheit genommen, persönlich mit den Betroffenen zu sprechen. Dabei hat mir ein türkischer Vater erklärt: Nehmen Sie die beiden mit. In diesem Land habe ich als Eltern keine Chance, auf sie einzuwirken. Eure Regeln sind für die völlig uninteressant. Die nehmen euch nicht ernst. – Im Grunde genommen hat er darum gebeten, hier härter heranzugehen.

Ich habe dann versucht, zu erklären, welches bei uns die Rechtslage ist. Häufig ist sie unbefriedigend. Ich füge hinzu: Wenn wir 16-Jährige innerhalb eines Monats 20mal durch Polizeibeamte aufgreifen und immer wieder vor der Frage stehen, was wir mit Jugendhilfe noch tun können, dann habe ich Verständnis, wenn auf allen Seiten die Bereitschaft zur Duldsamkeit langsam, aber sicher verschwindet.

Meine Damen und Herren, deshalb bleibt es dabei: Kriminalität ist Abbildung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich verändert, nicht nur in unserem Bundesland, sondern in Deutschland.

Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam klug zu reagieren, wie wir nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen, wie wir andererseits aber deutlich machen, dass es in diesem Lande Regeln gibt, und deutlich zu machen: Wer sich an die Regeln hält, ist herzlich willkommen. Der kriegt auch seine Chance.Wer nicht bereit ist, sich an die Regeln zu halten, der bedarf einer klaren und deutlichen staatlichen Reaktion. – Nur auf diese Weise werden wir das Wichtigste erreichen, nämlich zu verhindern, dass es mehr Opfer gibt.

Ich sage ganz zum Schluss, damit das deutlich wird: Die Hauptsorge muss denen gelten, die uns anbefohlen sind, sie und ihre Rechte zu schützen.Wenn wir dann noch den Täter resozialisieren, bin ich sehr dafür. Aber dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis muss sein. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU)

Frau Hölldobler-Heumüller, Sie haben sich erneut zu Wort gemeldet. Insgesamt stehen Ihnen jetzt noch sieben Minuten Redezeit zur Verfügung.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister, ich stimme Ihnen zu, wenn Sie sagen, die Diskussion sei schwierig und vielschichtig. Ich würde mir auch wünschen, die Diskussion wie in den Ausschüssen in Ruhe und zielorientiert führen zu können. Daran wäre ich sehr interessiert. Lassen Sie mich eines vorausschicken,denn es waren die Herren Kollegen, die mir unterstellten, ich hätte wenig Ahnung von der Materie.

(Boris Rhein (CDU): Nein, nein, nein!)

Lassen Sie sich an dieser Stelle gesagt sein: Ich habe sieben Jahre meines Lebens mit straffälligen Jugendlichen gearbeitet.

(Boris Rhein (CDU): Das habe ich auch nie behauptet!)

Ich habe dieses Projekt aufgebaut.Ich habe die Gelder organisiert. Ich habe die Konzepte geschrieben, Mitarbeiter angeleitet. Ich habe alle diese erlebnispädagogischen Maßnahmen durchgeführt, die hier immer so belächelt werden. Wenn Sie davon sprechen, dass es darum gehe, dass Jugendliche Grenzen lernen müssen,dass sie das Miteinander lernen müssen, dass sie Orientierung brauchen, dass sie Respekt lernen, dann frage ich mich: Was bitte bietet die Hessische Landesregierung diesen Jugendlichen an? – Die Projekte, womit das gemacht wird, haben Sie gestrichen. Das passt nicht zusammen. Da verstehe ich auch den Minister nicht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Boris Rhein (CDU))

Wir sind uns einig, dass die Situation von Jugendlichen und Kindern in diesem Lande Anlass zur Besorgnis gibt. Wir sind uns nicht mehr einig, wie das entsteht. Aber die Hessische Landesregierung bietet nichts an, wie sie das verändern könnte. Ich kann Ihnen auch noch verraten, dass es genau dieses Themengebiet war, was mich in die aktive Politik gebracht hat, weil mir nämlich deutlich geworden ist, dass es sehr schön ist, an der Basis zu arbeiten. Aber wenn sich an den Rahmenbedingungen für Jugendliche nichts ändert, dann nützen die schönsten Arbeiten an der Basis überhaupt nichts.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Christel Hoffmann (SPD))

Es wäre auch wichtig, eine differenzierte Diskussion zu führen, weil sehr schnell alles verwischt wird. Kollege Rhein, das haben Sie in Ihrer Rede getan. Es wird sehr schnell aggressives Verhalten und Kriminalität miteinan