Protokoll der Sitzung vom 16.03.2005

(Lachen bei der SPD)

Hören Sie doch zu. Was ist denn das für eine Art, zu sagen: „Er nennt keine Inhalte“, und wenn ich Inhalte nenne, loszulachen? Herr Frankenberger, wollen Sie eine Diskussion, oder wollen Sie keine Diskussion?

(Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schauen Sie noch einmal auf die Schuhsohlen! Steht da auch 18 drauf? – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich nenne Ihnen: Gesundheitsreform – eine vollkommene Privatisierung. Es muss eine haftpflichtähnliche Versicherung für die Krankenkassen eingeführt werden, mit Privaten als Anbietern. Ich kann Ihnen die liberale Unternehmensteuerreform nennen.

(Reinhard Kahl und Norbert Schmitt (SPD): Steuer: null!)

Sie haben das sicherlich gestern in der Zeitung gelesen. Dann wissen Sie, worum es geht.Wir haben den Vorschlag einer liberalen Unternehmensteuerreform vorgelegt, in sieben Stufen durchgerechnet.

(Norbert Schmitt (SPD): Wissen Sie, was der Sachverständigenrat zu diesen Vorschlägen sagt?)

Jetzt hör doch auf. Das gibt doch keinen Sinn.Wir müssen wieder in den alten Raum zurück, damit du wieder in die dritte Reihe kommst. Das ist wirklich störend.

(Beifall bei der FDP)

Herr Frankenberger hat mich gefragt, ob wir Inhalte haben.Ich versuche gerade,sie vorzutragen,und dann fängst du an, zu stören, weil du weißt, die Liberalen haben gute Inhalte.Also hören Sie doch auf, Herr Frankenberger, ein solches Bild zu zeichnen. Wir sind bei jedem Thema sprachfähig. Wir gehen bei jedem Thema mit den Programmen voraus.

(Lebhafte Zurufe von der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben die Programme vorgelegt. Die Medien haben am gestrigen Tag gerade den Wirtschafts- und Finanzteil sehr positiv zur Kenntnis genommen – egal ob das „taz“ oder „FAZ“ waren –, dass es ein liberales Unternehmensteuerreformkonzept gibt. Also hören Sie doch auf, uns Liberalen zu sagen, wir sollten unsere Punkte erst einmal vortragen. Sie kennen sie doch. Sie wollen sie aber nicht umsetzen. Das ist Ihr Problem.

(Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Herr Präsident, eine letzte Bemerkung zum Kollegen AlWazir. Diese Art der Verteidigungsstrategie ist nicht mehr zu toppen. Kollege Al-Wazir, die GRÜNEN im Hessischen Landtag werden sich entscheiden müssen, ob sie hinter dem stehen, was Horst Köhler sagt. Das ist Ihre politische Aufgabe. Wir wollen gerne wissen, was sie zu den Inhalten meinen. Deswegen bleibt der Antrag bestehen.

(Beifall bei der FDP – Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Unglaublich!)

Vielen Dank, Herr Kollege Hahn. – Das Wort hat der Wirtschaftsminister, Herr Staatsminister Dr. Rhiel.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die 5,2 Millionen Arbeitslose in Deutschland zeigen, dass dieses Land in der wirtschaftlich schwierigsten Krise seit seinem Bestehen ist. Ich glaube, auch die Gereiztheit in der Debatte heute Morgen macht deutlich, wie schwer es für die Verantwortlichen gerade der Regierungskoalition im Bund von Rot und Grün ist, ein geeignetes Reformkonzept zu finden, um aus dieser schwierigen Lage herauszukommen.

Herr Frankenberger, da helfen weder das Schönreden noch das Wortgeklingel, das wir von Ihnen heute wieder einmal gehört haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht derjenige handelt unpatriotisch, der die

Wahrheit nennt und den Menschen reinen Wein einschenkt, sondern derjenige ist unpatriotisch, der dies alles mit einer großen Wolke zu übertünchen versucht.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP – Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wahrheitsexperte! – Zuruf der Abg. Hildegard Pfaff (SPD))

Die Lage ist nach nüchterner Betrachtung folgende: Wir haben seit Jahren Wachstumsstillstand. Dieser Wachstumsstillstand hat verheerende Konsequenzen. Die Bundesrepublik Deutschland steht,was die Wachstumsraten angeht,am Ende der Skala aller europäischen Länder,

(Norbert Schmitt (SPD): Seit der deutschen Wiedervereinigung, seit 1993!)

und das schon seit langer Zeit. Die Konsequenzen liegen vor uns allen auf dem Tisch: Insolvenzrekord, Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme,Abbau der Arbeitsplätze, öffentliche Haushalte im Defizit, die Verschuldung nimmt exorbitant zu. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, es ist sehr wohl berechtigt, dass sich der Hessische Landtag und auch die Hessische Landesregierung an einem Tag hierzu äußern, der von der großen Rede des Bundespräsidenten und dem Krisengipfel am morgigen Abend eingerahmt ist,zu dem der Bundeskanzler letztlich Ja sagen musste, weil er offenbar nicht weiter weiß.

(Beifall des Abg.Armin Klein (Wiesbaden) (CDU) – Zuruf des Abg. Manfred Schaub (SPD))

Meine Damen und Herren, wenn wir uns die Situation nüchtern anschauen, dann halte ich folgende Zahlen für höchst bemerkenswert.In einer Volkswirtschaft,in der ein großer Teil der aktiven Menschen für die Menschen tätig sein muss, die noch nicht oder nicht mehr tätig oder vorübergehend untätig sind, die nichts leisten können, in einer solchen Volkswirtschaft ist eine Entwicklung verheerend,die wie folgt aussieht – ich beziehe mich auf die Zahlen und die Entwicklung der letzten acht Jahre –: Bei 82 Millionen Menschen hat in diesem Zeitraum die Anzahl der Sozialhilfeempfänger um 12 % zugenommen. Im selben Zeitraum – also bis Ende letzten Jahres – hat die Anzahl der Rentner um 16 % zugenommen. Im selben Zeitraum hat die Anzahl der Arbeitslosen um 20 % zugenommen. Die Anzahl derjenigen, die aufgerufen sind, das Sozialprodukt zu erbringen, insbesondere die sozialen Sicherungssysteme durch ihre Abgaben zu finanzieren, also der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, hat um sage und schreibe 6,5 % abgenommen.

(Norbert Schmitt (SPD): Die Kohl durch die deutsche Einheit belastet hat!)

Diese Entwicklung muss uns Sorge machen. Das muss man nüchtern bilanzieren, über alle Grenzen und parteipolitischen Interessen hinweg, zumal diese Entwicklung noch dadurch verschärft wird, dass uns die demographische Entwicklung aufzeigt, dass in Zukunft immer weniger junge Menschen aktiv tätig sein werden, um für die große Zahl der nicht mehr Leistenden das Sozialprodukt zu erwirtschaften.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, deshalb ist Wachstum das oberste Ziel, dem wir uns stellen müssen. In der Tat ist das schwer für eine Partei und für Mitglieder von Koalitionsfraktionen, die früher das Wachstum verteufelt haben. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie haben nicht nur ein Erkenntnisproblem, sondern vor allem auch ein Bekenntnisproblem. Das ist an der Reaktion des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Fraktion

vom gestrigen Tag auf die Rede des Bundespräsidenten deutlich geworden. Er äußerte, dass das, was der Bundespräsident vorgetragen habe, alles alte Klamotten seien, die für die Lösung des heutigen Problems nicht taugten. Meine Damen und Herren, diese Ignoranz können wir uns nicht erlauben, weil das zulasten der Menschen geht, zulasten der 5,2 Millionen Arbeitslosen und derer, die heute auf Arbeit warten.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP – Norbert Schmitt (SPD): Reine Wirtschaftstheorie! Anhänger einer Angebotstheorie!)

Machen wir uns nichts vor. Die wirtschaftliche Lage ist kein konjunkturelles Problem. Denn der Auslastungsgrad der Wirtschaft ist weitgehend normal. Das Produktionspotenzial, das noch verfügbar ist, beträgt gerade 1,5 %. Daraus müssen wir nüchtern erkennen, dass es ein strukturelles Problem ist.

Das bedeutet, dass wir die Bedingungen am Wirtschaftsstandort Deutschland ändern müssen. Eine auf Wachstum gerichtete Politik braucht keinen kurzfristigen Aktionismus. Sie braucht einen langen Atem und eine langfristig orientierte Strategie.

Dazu will ich vier Punkte andeuten. Erstens. Bürokratische Hürden müssen abgebaut werden und dürfen nicht neu entstehen. Ich nenne als Beispiel das Antidiskriminierungsgesetz.

(Beifall bei der CDU – Zurufe von der SPD)

Ich will zweitens darauf hinweisen, dass wird endlich dazu kommen müssen, die Bruttoarbeitskosten zu senken. Wir müssen die Reformen in der Altersversorgung, im Gesundheitswesen und in der Arbeitslosenversicherung umsetzen und dazu kommen, dass die Entwicklung der solidarischen Sicherungssysteme von den Lohnkosten abgekoppelt wird.

Herr Frankenberger, Sie können hier zwar sehr stolz sagen – es ist, statistisch-nominal betrachtet, zutreffend –, dass Deutschland beim Export zugelegt hat. Der Export wird aber an der Menge der fertigen Produkte gemessen. Das sagt überhaupt nichts darüber aus, wie viele Vorprodukte in ein Fertigprodukt eingehen.

(Norbert Schmitt (SPD): Jetzt kommt schon wieder diese Theorie!)

Ich verweise auf den Automobilbau. Im Ausland werden viele Vorprodukte für den Automobilbau gefertigt, weil sie in Deutschland wegen der hohen Lohnkosten nicht mehr wettbewerbsfähig produziert werden können.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Die Zahl ist ja nachzulesen: Im Automobilbau werden 27 % der Wertschöpfung eines Fertigprodukts zuvor im Ausland produziert.

In diesem Zusammenhang ist eine Zahl besonders erschreckend. Herr Schmitt, auch Sie können die Bruttolohnkosten nicht wegdiskutieren. Sie liegen in Deutschland bei 27 c. In den neuen EU-Staaten in Mittel- und Osteuropa – ich nehme als Beispiel die Slowakei, weil ich dort letzte Woche war – liegen sie bei sage und schreibe 3 c. Wir müssen feststellen, dass wir diese Differenz nie mehr aufholen werden.

(Zurufe von der SPD)

Wir müssen aber endlich dazu beitragen, dass die Lohnkosten nicht noch mehr steigen,sondern dass sie durch die

Entkoppelung von den Lohnzusatzkosten im Zaum gehalten werden.

Ich will einen dritten Punkt nennen: die Besteuerung am Standort Deutschland.Herr Frankenberger,bezüglich der realen Steuerbelastung haben Sie wiederum Recht. Da liegen wir in der Tat in der Bundesrepublik Deutschland nicht an der Spitze, sondern im Mittelfeld.

(Norbert Schmitt (SPD): Hört, hört!)

Wenn das so ist,warum schaffen Sie es nicht endlich,zu einer umfassenden Steuerreform zu kommen, warum müssen Sie dazu morgen Abend erst getrieben werden?

(Beifall bei der CDU und der FDP – Lachen bei der SPD)

Die nominalen Steuern in Deutschland sind weltweit und insbesondere in Europa Spitze. Sie betragen für die Kapitalunternehmen im Durchschnitt 38 %. Bei den mittelständischen Unternehmen ist das nicht viel anders. Meine Damen und Herren, tun wir doch das, was den Standort auszeichnet, was ihn markiert: Senken wir die Steuern, da wir sowieso keine realen Einnahmen in der Höhe der nominalen Steuersätze haben. Warum hindern Sie uns daran, gemeinsam mit Ihnen ein Steuerreformkonzept mit niedrigen Steuersätzen und wenigen Ausnahmen durchzusetzen?

(Zuruf der Abg. Hildegard Pfaff (SPD))

Ich will auf ein Thema zu sprechen kommen, das den Standort Deutschland insgesamt betrifft: der Arbeitsmarkt und die Voraussetzungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Wir sehen, dass viele Unternehmen dabei sind, mit ihren Mitarbeitern als Schicksalsgemeinschaft Betrieb zu vereinbaren,für das gleiche Gehalt mehr zu arbeiten.