Protokoll der Sitzung vom 16.03.2005

(Michael Boddenberg (CDU): Was ist denn dann eine nationale Katastrophe – wenn nicht das?)

Nein, nein. Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Arbeitslosenproblematik schon sehr viel älter ist als das, was Sie hier mit kleinkariertem politischen Kalkül der rot-grünen Bundesregierung in die Schuhe schieben wollen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Boddenberg (CDU): Das hat niemand bestritten!)

Die eigentliche Arbeitslosenkatastrophe hat unter Helmut Kohl begonnen. Meine Damen und Herren, das wollen Sie nicht mehr hören, aber das ist so.

(Michael Boddenberg (CDU): Sie hatten schon sechs Jahre Zeit!)

Meine Damen und Herren, wir waren uns einig, alle Parteien, dass wir Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen wollen.Deswegen haben wir jetzt,wenn Sie so wollen, eine ehrliche Zahl. Ob sich das politisch immer so gut ausweist, dass man hier eine ehrliche Zahl hat, das will ich noch einmal dahingestellt sein lassen. Denn während sich die Amerikaner seit Jahrzehnten reich und sorglos rechnen, rechnen wir uns arm.Wenn man die Rede von Herrn Hahn zugrunde legt, dann rechnen wir uns sogar elend.

Meine Damen und Herren, das Problem ist, dass die Schere zwischen der von uns allen wahrgenommenen Krise und den gleichzeitig wachsenden Vermögen immer größer wird. Diese Zahlen will ich Ihnen hier ebenfalls nennen.

Wir alle haben das letzte Jahrzehnt als eines in Erinnerung, das von einer geplatzten Börsenblase, von vielerlei Unternehmenskrisen und -pleiten und nicht zuletzt von steigenden Arbeitslosenzahlen geprägt war. Das stimmt. Gleichzeitig aber hat sich das Geldvermögen der Deutschen in den zehn Jahren von 1993 bis 2003 von 2,4 Billionen c auf 3,9 Billionen c erhöht. In zehn Jahren wuchs unser Geldvermögen somit um 60 %.

Damit nicht genug.Aktuell berichtet die Allianz, dass das Geldvermögen im Jahr 2004 weiter gestiegen sei, und zwar auf nunmehr 4,1 Billionen c.

(Michael Boddenberg (CDU): Weil die Menschen etwas auf die hohe Kante legen!)

Die Sparquote liegt derzeit bei 10,09 %. Das bedeutet, gegenwärtig sparen wir mehr als jeden zehnten Euro, den wir verdienen.

(Michael Boddenberg (CDU): Das kann ich nicht nachvollziehen!)

Meine Damen und Herren, die amerikanische Sparquote hingegen liegt seit Jahren bei nahe null. Das eine ist auf Dauer so schädlich und wenig gesund für die Volkswirtschaft wie das andere. Das will ich an dieser Stelle auch einmal sagen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Meine Damen und Herren, es ist doch falsch – ich wiederhole das, was ich eingangs gesagt habe –, auf die Arbeitslosenzahlen mit Panik und Depression zu reagieren. Das so genannte Angstsparen verschärft doch das Problem. Ministerpräsident Koch spricht in einem aktuellen Interview mit der „Welt am Sonntag“ von einer „Verarmung unseres Landes“.

(Michael Boddenberg (CDU): Ja!)

Meine Damen und Herren, angesichts eines auf 4,1 Billionen c angewachsenen Geldvermögens muss man das zumindest einmal differenzieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Boddenberg (CDU): Sagen Sie doch, wer dieses Geldvermögen hat! Das erzählen Sie doch sonst immer!)

Eine Verarmung sehen wir einerseits in den öffentlichen Haushalten und andererseits bei den unteren Einkommensschichten. Dementgegen wachsen die Vermögen vieler anderer Haushalte stetig weiter.Das ist eine rein statis

tische Größe, dagegen können Sie politisch überhaupt nichts einwenden.

Meine Damen und Herren, das heißt, Entsetzen und Panik bringen uns an dieser Stelle keinen Schritt weiter.Wir alle haben die Arbeitsmarktreform, die jetzt unter RotGrün beschlossen wurde, gewollt. Wir alle wollten eine Neuregelung bei den so genannten Minijobs, um die Einstellung von geringfügig Beschäftigten zu erleichtern.

Wir wissen auch, der so genannte Minijob ist kein Allheilmittel gegen Arbeitslosigkeit. Aber ich finde, trotzdem lohnt es sich, in einer nüchternen Bestandsaufnahme genauer hinzuschauen. Die denkbar einfach geregelten 400c-Jobs haben die äußerst bürokratischen 325-c-Jobs ersetzt. Der Minijob wurde von Anfang an gut angenommen.

(Michael Boddenberg (CDU): Sie haben den erst mal abgeschafft!)

Allein im Jahr 2004 wuchs die Zahl der geringfügig Beschäftigten um 700.000 auf nunmehr über 6,8 Millionen an. Diese besonders großen Zuwächse gibt es bei den Minijobbern im Privathaushalt – obwohl dort natürlich nach wie vor die Schwarzarbeit dominiert.

Die gute Aufnahme der Minijobs zeigt zweierlei. Erstens. Ein Arbeitsverhältnis einzugehen muss möglichst unbürokratisch möglich sein. Zweitens. Die Last der Sozialversicherungsbeiträge muss besonders dringlich von den kleinen und mittleren Einkommen genommen werden. Gleichzeitig könnte schnell entschieden werden, die Gleitzone von 400 bis 800 c, in der sich die Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitnehmers langsam auf das volle Niveau aufbauen,weiter auszudehnen.Mit einer solchen Ausdehnung der so genannten Minijobs würden wir uns einem Bereich nähern, der auch für Arbeitslose interessant ist, die von ihrem Einkommen leben müssen.

Meine Damen und Herren, das war und ist in diesem Arbeitsmarktsegment ein ganz wichtiger Bereich, um Leute aus der Schwarzarbeit hin zum ersten Arbeitsmarkt in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu führen. Das finden wir richtig, aber dazu sagen Sie nichts.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mein nächster Punkt. Auch die Deregulierung soll Arbeitsplätze schaffen. Das haben wir Ihnen auch schon beim letzten Mal vorgebetet. Das ist immer Ihre vorherrschende Meinung gewesen. Bestimmte Märkte sollten geöffnet werden. Aber beispielsweise auch auf Druck der EU finden immer wieder die üblichen Lobbyisten die Möglichkeit, gerade bei der FDP an die Tür zu klopfen, damit das alles nicht so kommt. Nein, die Handwerksreform war ein ganz wichtiger Schritt der Deregulierung des Arbeitsmarktes. Sie müssen sich nur entscheiden: Sind Sie für Entbürokratisierung, oder sind Sie für Lobbyismus? Auch diese Antwort sind Sie uns schuldig geblieben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Boddenberg (CDU): Das hat nichts mit Entbürokratisierung zu tun!)

Meine Damen und Herren, bei der Handwerkskammer Wiesbaden hat die Zahl der angemeldeten Handwerksbetriebe im Jahr 2004 um 4,5 % zugenommen.

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Die Handwerkskammer berichtet von einem sehr starken Wachstum bei Tätigkeiten, bei denen die Schwarzarbeit

stark ist, wie z. B. Fliesenleger-, Gebäudereiniger-, Raumausstatterhandwerk.

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Meine Damen und Herren, zu diesen Meldungen passt auch, dass die Wissenschaftler übereinstimmend berichten, dass die Schattenwirtschaft in Deutschland erstmals seit 1975 zurückgegangen ist. Im Vergleich zu 2003 ist die Schattenwirtschaft um 3,8 % geschrumpft. Für 2005 sagen die Institute einen weiteren Rückgang der Schattenwirtschaft voraus. Es gibt endlich eine Trendumkehr auf dem Arbeitsmarkt, hin zu weniger Schwarzarbeit. Das ist eine gute Nachricht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich hat sich die Bundesregierung zuerst auf die Fahnen geschrieben, die so genannten Lohnnebenkosten zu senken. Denn mindestens seit der Ära Kohl ist es offensichtlich, welche großen Schäden die riesige Spanne zwischen den Bruttolohnkosten des Arbeitgebers und dem Nettolohn des Arbeitnehmers auf unserem Arbeitsmarkt angerichtet hat. Schwarzarbeit in der Schattenwirtschaft hat offizielle Arbeitsplätze verdrängt. Das habe ich alles schon benannt.

Wenn die Ökonomen Recht haben, werden die Arbeitskräfte nach ihrer Produktivität entlohnt. Dabei muss für den Arbeitgeber nicht etwa der Nettolohn des Mitarbeiters in einem guten Verhältnis zur Produktivität stehen – der Nettolohn interessiert den Arbeitgeber nicht. Meine Damen und Herren, hier müssen wir für eine Verbesserung bei der Kaufkraft sorgen. Das ist der entscheidende Punkt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wir haben einen Weg beschritten, den uns Dänemark und Holland vorausgegangen sind. Dazu gehört aber doch auch, dass wir uns hier ehrlich miteinander unterhalten. Wenn jetzt die Unternehmerverbände – Herr Wirtschaftsminister und andere – fordern,dass der Arbeitgeberanteil der Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 5 % reduziert werden muss,dann sollten Sie uns auch erklären, wo denn die zweistelligen Milliardenbeträge herkommen sollen. Aber diese Antwort bleiben Sie uns schuldig. Das ist in diesem Zusammenhang eine unehrlich Politik.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie versprechen den Arbeitgebern Geldgeschenke,die Sie nicht gegenfinanziert haben. Im Übrigen, wenn wir wirklich eine aktive Arbeitsmarktpolitik nach dem Vorbild Dänemarks betreiben wollen, dann sollten Sie auch so ehrlich sein, der Bevölkerung zu erklären, dass die Dänen inklusive Luxus- und Mehrwertsteuer fast an der Spitze des Steueraufkommens in Europa liegen und dass der Staat Milliarden aufbringt, um diese Arbeitsmarktreform finanzieren zu können. Meine Damen und Herren, Ihnen gelingt ja noch nicht einmal eine anständige Finanzierung der Jobcenter. Jetzt seien Sie bitte auch so ehrlich und sagen das an dieser Stelle.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Noch eines. Wir hätten diese großen Probleme bei den Lohnnebenkosten überhaupt nicht, wenn nicht 16 Jahre CDU/FDP-Regierung unter Helmut Kohl

(Zurufe der Abg. Michael Boddenberg (CDU) und Jörg-Uwe Hahn (FDP))

Moment – sämtliche Probleme in der Renten- und auch in der Pflegeversicherung schlichtweg verdrängt hätten.

(Zuruf des Abg. Jörg-Uwe Hahn (FDP))

Das ist doch die Wahrheit, mit der wir es hier zu tun haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie – es gibt noch ein paar, die sich damit fachlich auskennen – und alle wissen, dass wir gerade in der Rentenversicherung in Generationenabständen denken. Das heißt, was im Jahre 1985 versaubeutelt worden ist, fällt uns im Jahre 2005 erst richtig auf die Füße. Das sollten Sie nicht nach dem Motto verschweigen: Die Rente ist sicher.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)