Protokoll der Sitzung vom 14.07.2005

Ich möchte ganz besonders den Sachverständigen danken, die auch in der Arbeitsgruppe mitgewirkt haben, die den Zwischenbericht formuliert hat. Ich kann allen Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses nur empfehlen, den Bericht tatsächlich zu lesen, weil wir versucht haben, ihn lesbar zu gestalten.Bei diesem Thema ist dies ein richtiger und wichtiger Ansatz. Ich denke, der Bericht ist wirklich lesbar. Ich habe in dieser Enquetekommission sehr, sehr viel gelernt und freue mich schon auf die weiteren Diskussionen.

Meine Damen und Herren, wir werden älter, wir werden weniger, und wir werden bunter. Der demographische Wandel bedeutet zunächst einen Anstieg des Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung. Er bedeutet die Zunahme des Anteils von Menschen aus anderen Kulturkreisen, und er bedeutet einen moderaten Rückgang der Bevölkerung – und zwar aufgrund enormer gesellschaftlicher Fortschritte und des Wohlstands in den modernen Industrienationen.

Die allgemeine Akzeptanz der Menschenrechte, die Entwicklung der Demokratie und des Rechts sowie die Tatsache, dass der Mensch in den Mittelpunkt gesellschaftlichen Strebens gestellt worden ist, die Tatsache, dass Kinder nicht mehr als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden, die erfolgreiche Bekämpfung der großen Seuchen, die verbesserten Lebensbedingungen und der medizinische Fortschritt haben zu einem enormen Anstieg der Lebenserwartung geführt. Die Sozialsysteme versichern die Menschen im Krankheitsfalle und im Alter der gesellschaftlichen Solidarität.

Der allgemeine Zugang zur Bildung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Zugang für Frauen zur Bildung ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts haben nicht nur den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, sondern auch die gesellschaftliche Gleichstellung der Frau, die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Frauen und die freie Entscheidung über den Kinderwunsch ermöglicht. Ein letzter, aber sehr wichtiger Punkt: Seit 60 Jahren hat auf deutschem Boden kein Krieg mehr stattgefunden. Auch das ist erwähnenswert, wenn wir darüber reden, warum wir zurzeit eine bestimmte demographische Entwicklung haben.

Meine Damen und Herren, der demographische Wandel ist zunächst und in erster Linie Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts, Ausdruck des Lebens in einer Gesellschaft, wo man nicht täglich ums Überleben kämpfen muss, wo man sich auf eine relative Sicherheit und auf die gesellschaftliche Solidarität verlassen kann – bis zum Lebensende. Das ist in vielen Ländern dieser Welt nicht der Fall, und deswegen wird sich die Bevölkerung nach allen Prognosen bis zum Jahre 2050 weltweit verdoppeln. Nur Frieden, Demokratie, die Gleichstellung der Frauen und steigender Wohlstand auch in diesen Ländern werden

dazu führen, dass der globale demographische Wandel nicht in einer Katastrophe endet.

In Deutschland – und auch in Hessen – ist der demographische Wandel eine Herausforderung an die Politik, aber eben keine Katastrophe. Die Umkehrung der Alterung unserer Gesellschaft, die Umkehrung dieser Entwicklung wäre nur möglich, wenn wir bereit wären, auf die gesellschaftlichen Fortschritte zu verzichten.

Deswegen müssen wir denjenigen entgegentreten, die die demographische Entwicklung nutzen, um den Krieg zwischen den Generationen auszurufen, oder die gesellschaftlichen Fortschritte rückgängig machen wollen.

(Beifall des Abg. Frank-Peter Kaufmann (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN))

Darin sind sich alle in der Enquetekommission vertretenen Parteien einig. Ich denke, das ist der Grundkonsens dieser Enquetekommission.

Allerdings will ich kurz darauf hinweisen, dass es auch fünf Sondervoten von der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gibt, die sich in dem Teil befinden, der sich mit den ökonomischen Folgen des demographischen Wandels befasst.Wir wollten damit vor allem deutlich machen,dass es keinen automatischen Zusammenhang zwischen dem demographischen Wandel und dem Sozialabbau oder der Verschlechterung der Lebensbedingungen gibt.

Wir waren der Meinung, dass dies deutlicher herausgestellt werden müsste. Letztendlich gibt es nämlich in der Politik viele Handlungsfelder, mit denen sich die Zukunft unseres Landes positiv gestalten lässt. Darüber werden wir uns bis zur Erstellung des Abschlussberichts im Detail unterhalten. Vermutlich werden wir uns über die besten Lösungen streiten.Auch darauf freue ich mich schon.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Streiten werden wir uns sicher beim Thema Migration. Das bezieht sich sowohl auf die Zukunft der Regionen Hessens als auch auf die Zuwanderung: den Umgang mit Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, und die Integration. Wir werden uns sicherlich auch über die Geburtenrate streiten. Damit haben wir bereits heute Morgen in der Aktuellen Stunde angefangen.

Die Landesregierung hat ein Gutachten erstellen lassen, in dem sie von einer Wunschgröße von 1,8 Kindern pro Frau ausgeht. Wir liegen derzeit hessenweit bei 1,34 Kindern pro Frau. Es gibt deutliche Unterschiede zwischen den Regionen in Hessen. Das heißt, bei der Zahl von 1,34 Kindern pro Frau handelt es sich um einen Durchschnittswert.

Es gibt aber auch sehr unterschiedliche Werte innerhalb Europas. Das bezieht sich im Prinzip auf die Länder, die – wie ich es am Anfang dargestellt habe – einen gesellschaftlichen Fortschritt vollzogen haben. Deswegen lohnt es sich, genauer zu untersuchen, was in den europäischen Ländern, die eine höhere Geburtenrate als wir haben, tatsächlich anders ist als bei uns.Wir müssen uns die Details ansehen.

Zum Beispiel können wir feststellen, dass die Länder mit überwiegend katholischer Bevölkerung, in denen also eine sehr stark katholisch geprägte Familienpolitik und ein sehr stark katholisch geprägtes Familienbild vorherrschen, eigentlich zu den Verlierern gehören. Das heißt, sie weisen im Moment die niedrigsten Geburtenraten auf. Dazu gehören Italien und Portugal.

Auf der anderen Seite gibt es Untersuchungen, in denen dargelegt wird, dass es keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Stabilität von Familien und der Geburtenrate gibt. So ist festzustellen, dass Länder, die eine sehr hohe Scheidungsrate aufweisen, durchaus eine hohe Geburtenrate haben können. Wir stellen fest, dass Länder, die ein sehr hohes Pro-Kopf-Inlandsprodukt aufweisen, eine hohe Geburtenrate haben. Wir können feststellen, dass ein hohes Kindergeld allein nicht ausreicht, um die Geburtenrate zu beeinflussen.

In allen Ländern, die eine hohe Frauenerwerbsquote haben, haben wir gleichzeitig eine hohe Geburtenrate. Daran sehen wir, dass der Ausbau von Betreuungsangeboten für Kinder gerade dort sehr wichtig ist, wo die Frauenerwerbsquote hoch ist. Aber er ist nicht ausschlaggebend.

Letztendlich lässt sich der ganze Fragenkomplex „Warum ist die Geburtenrate in anderen europäischen Ländern höher als bei uns?“ mit einem einfachen Begriff umschreiben: Je gleichberechtigter Frauen und Männer in diesen Gesellschaften sind, desto mehr Kinder gibt es.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt hätte ich zumindest von den Frauen ein bisschen mehr Beifall erwartet.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Das ist doch selbstverständlich!)

Frau Wagner hat eben gesagt, das sei eine Selbstverständlichkeit.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Ja, das ist so! Das kann keiner bestreiten!)

Genau. – Deswegen denke ich, dass im Zusammenhang mit der Zukunftsfähigkeit Hessens folgende Fragen auf der Tagesordnung stehen: Wie kann man eine moderne Kinder-, Frauen- und Familienpolitik gestalten? Wie kann man es den jungen Menschen ermöglichen, ihren Kinderwunsch zu realisieren? Dieser Kinderwunsch ist durchaus vorhanden, aber für junge Menschen wird es immer schwieriger, ihn umzusetzen. Wie können wir allen Kindern einen Zugang zu qualitativ guter Bildung ermöglichen? Wie können wir zwischen Männern und Frauen eine gerechte Verteilung von Erwerbs- und Familienarbeit erreichen?

All das sind Themen, die auch im Zusammenhang mit der Zukunftsfähigkeit Hessens auf der Tagesordnung stehen. Ich hoffe, dass wir in der Enquetekommission gemeinsam einen wesentlichen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen leisten können. Ich wünsche uns allen viel Erfolg.

Zum Schluss möchte ich sagen: Ich weiß, dass wir alle viel lesen müssen. Aber der Zwischenbericht ist tatsächlich ein sehr lesbares Dokument, in dem man auch für die Politik in den Wahlkreisen und in den Orten, aus denen man stammt, gute Argumente findet. Sie helfen einem, darzulegen, warum es wichtig ist, dass in diesem Land Kinderfreundlichkeit und Familienfreundlichkeit gefördert werden. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat Frau Abg. Ruth Wagner, FDP-Fraktion.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich danke Ihnen für das präsidiale Lob von vorhin. Aber ich muss sagen, wir haben uns zumindest vorgenommen, in dieser Enquetekommission nicht alt zu werden. Wir wollen, in Zusammenarbeit mit der Staatskanzlei, bis zum Ende der Legislaturperiode klare Handlungsempfehlungen vorlegen, die für die Kommunen und die Landkreise wichtig sind. Der außerparlamentarische Sachverstand ist dabei sehr hilfreich.

(Beifall bei der FDP)

Lassen Sie mich ein paar Sätze zu der Gesamtentwicklung sagen. Frau Schulz-Asche hat eben dargelegt, was wir in Hessen untersuchen, wie es bundesweit aussieht und was wir auf europäischer Ebene feststellen können. Der in ganz Europa feststellbare Trend,dass die Bevölkerung zunehmend älter wird und schrumpft, gilt nicht für die ganze Welt. Auch als hessische Abgeordnete müssen wir uns klarmachen, dass wir bis zum Jahr 2050 eine Verdoppelung der Weltbevölkerung haben werden.

Dagegen werden in Hessen nach den jetzigen Vorausberechnungen im Schnitt 10 % weniger Menschen leben. Insbesondere im Osten Deutschlands wird es bestimmte Gegenden geben, in denen die Bevölkerung um ein Drittel schrumpft. Das ist eine völlig andere Entwicklung. Man könnte zynisch sagen: Die Europäer dezimieren sich friedlich. Sie brauchen keinen Krieg, weil sie offensichtlich von selbst auf Nachkommen verzichten. Dabei wissen sie nicht, was das für die Lebensverhältnisse der nächsten Generation bedeutet.

(Beifall bei der FDP)

Diese Zahlen sollen nicht der Panikmache dienen; das ist völlig richtig. Sie sind auch nicht dazu geeignet, einen Generationenkrieg zu entfachen, wie es uns große Journalisten in ihren Büchern weismachen wollen.

Die Fertilisationsrate liegt in Deutschland heute bei 1,34 Kindern pro Frau. In China jedoch, das eine weitaus größere Bevölkerung hat,führt eine Fertilisationsrate von 1,4 Kindern pro Frau dazu, dass sich die Bevölkerung schon in der nächsten Generation verdoppeln wird.

Frau Lautenschläger und Herr Grüttner haben innerhalb der CDU eine Diskussion über die Annahme angeregt, dass eine Fertilisationsrate von 1,8 Kindern pro Frau ein erstrebenswertes Ziel sei. Aber eine solche Quote würde nicht ausreichen.Vielmehr müssten laut Aussage von Experten 2,1 Kinder pro Frau geboren werden. Nur dann kann sozusagen ein Ausgleich zwischen den Generationen herbeigeführt werden.

In Deutschland war eine solche Geburtenrate zuletzt im Jahr 1935 zu verzeichnen. Das war der letzte Geburtenjahrgang mit einer solchen Rate. Das ist eine erschreckende Tatsache. Alle Experten sagen, dass wir mindestens zwei Generationen brauchen – auch mithilfe von Kindergärten und mit all dem, über das wir hier noch diskutieren werden –, um wieder auf diesen Stand zu kommen.

Diese Entwicklung ist nicht vom Himmel gefallen. Herr Hohmann vom Statistischen Landesamt hat uns vorgetragen, wie sich die Lage in Hessen entwickelt hat. Die Lage hat sich seit 1950 – das schließt auch die Folgen des Krieges ein – dramatisch verändert.

Hessen war, wie viele Länder, früher ein landwirtschaftlich geprägtes Land. 1950 hat das Land Hessen, das ur

sprünglich 4,2 Millionen Einwohner hatte, über zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen – wenn auch noch nicht voll integriert. Damit hat sich die Bevölkerung um ein Drittel erhöht.

Wir hatten eine Zuwanderung – heute würde man sagen: Migration –, die weder in den Dörfern noch in den Städten friedlich ablief. Die Älteren unter uns wissen das. Ich könnte darüber einige Storys erzählen. Wir beschönigen das heute. Für diejenigen, die hier ankamen, war es nicht sehr schön, denn die, die zusammenrücken mussten, taten das nicht ohne weiteres.

Aber im Laufe einiger Generationen ist die Integration gelungen. Daran hat vor allem in den ersten 20 Jahren die SPD-geführte Landesregierung unter Ministerpräsident Zinn einen großen Anteil gehabt; auch die späteren Regierungen und alle Parteien dieses Hauses haben dazu beigetragen. Das muss man wirklich sagen.

Aber – das ist mir bei der Arbeit in der Enquetekommission klar geworden – das Land Hessen hat wie kein anderes deutsches Bundesland von der deutschen Teilung profitiert. Hessen war das Bundesland mit den meisten Chemieunternehmen. Es war eigentlich die „Apotheke“ Deutschlands. Hessen kommt mit dem Rhein-Main-Gebiet – mit der größten Zahl von Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich – auch heute noch gleich nach München.

Hinzu kommen der Ausbau der großen Verkehrssysteme, nämlich der Autobahnkreuze und des Flughafens, die Konzentration der Banken und die Zentralverbände aller großen deutschen Unternehmen. Schauen Sie sich einmal eine Auflistung der 100 größten deutschen Unternehmen an. Dann werden Sie feststellen, wo diese Unternehmen sitzen. Zu erwähnen ist auch noch der Ausbau des Bahnnetzes.

Das Nord-Süd-Gefälle ist durch die deutsche Teilung verstärkt worden und hat dazu geführt, dass heute drei Viertel der Bruttowertschöpfung im Rhein-Main-Gebiet erarbeitet werden.

Derzeit stellt sich die Situation so dar, dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung im Werra-Meißner-Kreis am höchsten ist. Das wissen alle Parteien und alle Gewerkschaften.Das wissen alle,die dort arbeiten.Vor allem wissen das die jungen Menschen. Unsere ganz große Herausforderung – auch die des Landtags – wird sein,wie man junge Menschen dazu bewegen kann, nach ihrer Ausbildung oder nach ihrem Studium, die sie zum großen Teil weder in Osthessen noch in Nordhessen, aber auch nicht in Teilen des Vogelsbergkreises oder in Limburg-Weilburg absolvieren, wieder zurückzukehren. Wie kann man dort Arbeitsplätze schaffen? Das haben wir gestern schon einmal diskutiert. Wir brauchen gemeinsame Anstrengungen, um nicht dort zu landen, was beschönigend als „Schrumpfung“ bezeichnet wird.

Der Kollege Heidel und ich haben gestern mit dem Landesdenkmalpfleger gesprochen. Das ist ja nur ein Aspekt: Was geschieht eigentlich mit kleinen Dörfern auf dem Lande mit bis zu 250 Einwohnern – im Norden, nicht im Rhein-Main-Gebiet? Dort fallen kleine Dörfer – in Mecklenburg-Vorpommern ist das schon so – vollständig zu Wüstungen zusammen. Dort wird es in der Tat verlassene Gehöfte geben, die wir gar nicht mehr halten können.

Meine Damen und Herren, wie also bekomme ich diese Strukturveränderung, die in Wahrheit das Problem in Hessen ist – nämlich die Verdichtung im Rhein-Main-Gebiet, Offenbach wird nochmals wachsen, nur ein Beispiel,

und andererseits die Schrumpfung –, in den Griff? Das ist die Herausforderung, die uns in den nächsten Jahren in sämtlichen Ressorts beschäftigen wird.