Protokoll der Sitzung vom 24.01.2006

Unbefriedigend ist weiterhin, dass in Hessen von der KMK empfohlene abschlussbezogene Bildungsstandards und voluminöse Fächerlehrpläne ohne jeden Bezug zueinander bestehen. Die Entwicklung von abgespeckten Kerncurricula auf der Basis der Bildungsstandards hätte

längst beginnen können, damit schnellstmöglich die Schulen das zu enge Korsett der Lehrpläne verlassen können.

Halbherzig sind auch die ersten Schritte der Schulevaluation, die trotz Ihres Bekenntnisses zu einer parallelen Entwicklung an ganz anderen Schulen als an den Projektschulen beginnt. Keine klare Vorstellung gibt es dabei weiterhin über die zukünftige Rolle der Schulaufsicht, die aus Sicht der SPD-Fraktion nur Zukunft hat, wenn sie aus der Kontroll- und Aufsichtsfunktion herausgelöst und zum Unterstützungssystem entwickelt und qualifiziert wird.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, alle diese Baustellen ersetzen aber nicht die Vorlage eines Gesamtkonzepts, wie es die SPD-Fraktion im Rahmen ihres Hauses der Bildung mit folgenden Eckpunkten vorgelegt hat – wir haben das auch zum Mitlesen in unserem Antrag niedergelegt –:

Erstens. Alle finanziellen Mittel zur Personal- und Sachausstattung des Landes und der Schulträger werden zu einem Gesamtbudget zusammengelegt. Die Personal- und Sachmittelbewirtschaftung liegt in der Verantwortung der Schule.

Zweitens. Die Schulen entscheiden weitestgehend über alle Fragen der Unterrichtsorganisation und Unterrichtsgestaltung wie Stundenverteilung, variable Gruppengrößen, Unterrichtsort usw.

Drittens. Aufbauend auf schulformübergreifenden Bildungsstandards werden an Kompetenzstufen orientierte Kerncurricula entwickelt. Die bisherigen Fachlehrpläne werden abgeschafft.

Viertens. An allen Entscheidungen werden der Schulträger und alle Gruppen der Schulgemeinde angemessen beteiligt.

Letztens. Zur Durchführung der internen und externen Evaluation müssen Unterstützungssysteme wie z. B. die Schulaufsicht um- oder aufgebaut werden.

Meine Damen und Herren, alle diese Schritte gehören zusammen und können nicht beliebig in verschiedenen Schulen zu verschiedenen Teilen erprobt werden, wenn das Ziel der Qualitätsverbesserung erreicht werden soll.

Ein Blick nach Nordrhein-Westfalen zeigt, wie zügig und konsequent das Projekt „selbstständige Schule“ umgesetzt werden kann, wenn es nicht nur darum geht, Regierungserklärungen abzugeben. Mit der Verabschiedung des Schulgesetzes in Nordrhein-Westfalen im vergangenen Jahr wurden Elemente des Modellversuchs in die Fläche umgesetzt. Der Modellversuch in Nordrhein-Westfalen umfasste 237 Schulen und begann im Jahr 2002. Heute ist das Land Nordrhein-Westfalen so weit, diese Ergebnisse auch in der Fläche umzusetzen. Es wurden Evaluationsinstrumente entwickelt. Kernlehrpläne geben die Orientierung. Der Schulleiter erhält die Dienstaufsicht über die Schule, und die Schule selbst nimmt Einstellungen vor. So kann ein erfolgreicher Weg zur selbstständigen Schule aussehen. Meine Damen und Herren, die Großbaustelle in Hessen dagegen sorgt für Unklarheiten über den weiteren Weg und lässt Konsequenz und Koordination vermissen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um bei Ihrem Bild der heutigen Regierungserklärung zu bleiben, Frau Kultusministerin: Ihr Schlüssel zu mehr

Selbstverantwortung bleibt ein Rohling, der noch nicht ins Schloss passt.

Meine Damen und Herren, ohnehin bleibt die Tür zu mehr Bildungsqualität in Hessen verschlossen, denn die Schulpolitik dieser Landesregierung verhindert nachhaltig Chancengleichheit beim Bildungszugang und setzt allein auf Selektion. Sie haben keine Antwort auf die zentralen Fragen der Bildungspolitik in Hessen. Sie haben keine Antwort auf die Frage: Wie kann man die Abhängigkeit zwischen Bildungserfolg und Sozialstatus aufbrechen? Sie haben keine Antwort auf die Frage:Wie verringert man nachhaltig die Gruppe der so genannten Risikoschüler nach PISA, deren Kompetenzwerte für eine befriedigende Berufsperspektive nicht ausreichen? Sie haben auch keine Antwort auf die Frage: Wie erhöht man nachhaltig die Quote der Abiturienten und Studienanfänger, die die deutsche Wirtschaft in den nächsten Jahrzehnten dringend benötigt? Und Sie haben keine Antwort auf die Frage:Wie entwickelt man eine Schullandschaft unter den Bedingungen der zurückgehenden Schülerzahlen so, dass der Zugang zu allen Abschlüssen für alle gewährleistet bleibt? Frau Kultusministerin, weder SchuB-Klassen noch weitere Vergleichstests in der Grundschule, weder Querversetzung noch die verkürzte Mittelstufe und auch nicht Ihre Schulentwicklung mit dem Rechenschieber werden diese Fragen beantworten können.

(Beifall bei der SPD)

Wer nicht in der Lage ist, die für Hessen eher bescheidenen Ergebnisse aus PISA-E zum Anlass zu nehmen, über die Auswirkungen der eingeschlagenen Wege nachzudenken, ist wohl auch nicht der richtige Adressat für diese Fragen. Wer immer noch glaubt, möglichst frühe Aufteilung nach Schulformen und ein System von Sanktionsmaßnahmen,die zur Abstufung von Kindern führen,seien der Weg zum Erfolg, will nur eines konsequent: die eigene ideologische Brille nicht absetzen.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Das sagen die Richtigen!)

Meine Damen und Herren und Frau Kultusministerin, wenn Sie in jeder Plenarsitzung wie auch heute und auch in der Fragestunde über Ihre Erfolge bei der Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss berichten,zeigt sich, dass diese ideologische Brille nicht unbedingt die Korrektheit Ihrer Zahlen begünstigt. In Ihren eigenen Leistungsvereinbarungen für das strategische Ziel Nummer drei, die Zahl der Abgänger ohne Hauptschulabschluss zu verringern, ist zu lesen, der Anteil dieser Schülerinnen und Schüler sei weiterhin auf einem konstant hohen Niveau. Da wird auch die Zahl 20 % erwähnt. Frau Kultusministerin, Sie vergessen regelmäßig all diejenigen, die vorher auf der Förderschule ankommen und deren Zahl immer größer wird. Nach Ihren eigenen Angaben zum Ende des Schuljahres 2004/05, nachzulesen im „Darmstädter Echo“ vom 20. Juli 2005, verließen im letzten Jahr 5.600 junge Menschen die Schule ohne Abschluss, und das sind rund 1.600 mehr als am Ende des Schuljahres 1998/99. Da waren es 3.953.

(Beifall bei der SPD)

Frau Kultusministerin, das ist der wirkliche Erfolg Ihrer Bildungspolitik. Wir werden dem mit unserem Haus der Bildung ein Konzept entgegensetzen, das die Fragen der Zukunft und die Fragen, die ich hier gestellt habe, auch beantworten kann.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Habermann. – Ich darf Herrn Wagner für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort erteilen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren. Frau Kultusministerin, habe ich es überhört oder war in Ihrer Rede tatsächlich zum ersten Mal nicht mehr vom „Bildungsland Nummer eins“ die Rede? Das wäre dann der wesentliche Erkenntnisfortschritt Ihrer Rede, Frau Kultusministerin.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ministerin Karin Wolff: Das haben Sie überhört!)

Ich habe es Ihnen in der letzten bildungspolitischen Debatte mit einem Zitat von Helmut Kohl versucht nahe zu bringen: Die Realität ist oftmals anders als die Wirklichkeit. – Da habe ich Ihnen schon einmal deutlich zu machen versucht, dass das, was Sie hier darstellen, mit der Wirklichkeit in unserem Hessenlande nichts zu tun hat.Es hat so richtig noch nichts gefruchtet, es sei denn, der Verzicht auf die Bezeichnung „Bildungsland Nummer eins“ wäre das erste Ergebnis. Ich möchte es deshalb mit einem Lieblingszitat der aktuellen Bundeskanzlerin, Angela Merkel, versuchen. Dieses Zitat lautet: Politik beginnt mit dem Wahrnehmen der Wirklichkeit. – Das würde ich dieser CDU-Landesregierung, was die Zustände an unseren Schulen angeht, auch dringend anempfehlen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Kultusministerin,es ist interessant,dass Sie uns in Ihrer Regierungserklärung darstellen, wie Sie das Schulsystem und die Schulverwaltung umbauen wollen, und dass Sie sagen, das alles täten Sie nicht als Selbstzweck, sondern damit die Ergebnisse besser würden. So weit sind wir einverstanden.Auffallend ist nur, dass Sie in dieser Regierungserklärung über die Ergebnisse, die Ihre Schulpolitik in den letzten sieben Jahren produziert hat, kein einziges Wort verlieren. Das ist dann doch schon auffällig, Frau Kultusministerin. Ich will das gerne nachholen. Daran sieht man, dass vom „Bildungsland Nummer eins“ in Hessen wirklich nicht die Rede sein kann.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schauen wir uns das Abschneiden von Hessen bei der PISA-Studie an. Bei dem „Bildungsland Nummer eins“ könnte man ja erwarten, dass wir in den dort getesteten Bereichen Spitzenergebnisse aufweisen. Die Wahrheit ist: Wir nehmen Platz 7 in Mathematik und der Lesekompetenz ein, und wir nehmen in den Naturwissenschaften sogar nur Platz 12 ein. Vom „Bildungsland Nummer eins“ weit und breit nichts zu finden.

(Beifall bei dem BÜNDINS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Kultusministerin, ich will Ihnen sogar entgegenkommen. Jetzt können Sie sagen: In den Naturwissenschaften haben wir uns in Hessen nach der PISA-Studie 2003 gegenüber der PISA-Studie 2000 um acht Punkte verbessert. – Das ist richtig, Frau Kultusministerin. Wir haben uns da um acht Punkte verbessert. Das war aber der geringste Zuwachs aller Bundesländer nach der PISA-Studie. Das können Sie wirklich nicht als Erfolg ausgeben. Deswegen sind wir in den Naturwissenschaften von Platz 8 auf Platz 12 zurückgefallen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Oder schauen wir uns die Risikogruppe an. Frau Kollegin Habermann hat es auch schon angesprochen. Die PISAStudie zeigt uns, dass in Hessen 24,3 % der Schülerinnen und Schüler nur ein rudimentäres Textverständnis aufweisen. Also in dem Bildungssystem, das Sie, Frau Wolff, seit sieben Jahren verantworten, hat nur ein Viertel – –

(Ministerin Karin Wolff: Wo waren Sie denn nach Ihrer Zeit?)

Ich merke, das trifft Sie. Deshalb reagieren Sie jetzt so emotional. Das ist sehr interessant. – Nach sieben Jahren Ihrer Regierungszeit hat ein Viertel der Schülerinnen und Schüler nur ein rudimentäres Textverständnis. Im nationalen Vergleich sind wir damit auf Platz 11. Meine Damen und Herren, vom „Bildungsland Nummer eins“ weit und breit nichts zu sehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schauen wir uns die Sitzenbleiber an.Ich rede immer über die Ergebnisse, weil Sie sagen, Sie machten Schulverwaltungsreform nicht als Selbstzweck, sondern wegen der Ergebnisse. Deshalb rede ich zu Anfang einmal über die Ergebnisse. In Bezug auf die Sitzenbleiber haben wir jetzt eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft bekommen. Im Schuljahr 2004/05 sind in unserem Bundesland 3,2 % aller Schülerinnen und Schüler als Wiederholer gestartet. Das ist im nationalen Vergleich Platz 12. Schlechter als in Hessen ist es nur noch in Bayern, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen. Auch hier vom „Bildungsland Nummer eins“ weit und breit nichts zu sehen. Und da kommt der Kollege Irmer und macht – –

(Axel Wintermeyer (CDU): Er ist da!)

Ja, Sie sind sogar da. Um da zu sein, muss man erst einmal kommen, Herr Kollege Irmer. Insofern ist es sinnlogisch, was ich hier dargestellt habe.

(Heiterkeit und Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Das ist richtig!)

Wenn Sie dem auch folgen können, ist es eine Einigkeit, die ich so früh in meiner Rede noch gar nicht erwartet habe, Herr Kollege Irmer.

Was erklärt Herr Kollege Irmer zu den Sitzenbleibern? Wie gesagt, 3,2 % aller Schülerinnen und Schüler, Platz 12 im nationalen Ranking.Der Kollege Irmer sagt – Zitat aus der Pressemitteilung vom 12. Januar –: „Eine Klasse zu wiederholen ist keine Schande – Sitzenbleiben ist kein Willkürakt, sondern pädagogische Maßnahme“.

(Zurufe von der CDU: Sehr richtig! – Alles richtig!)

Herr Kollege Irmer, Sitzenbleiben ist sicher keine Schande.

(Gerhard Bökel (SPD): Das sieht man an den Abgeordneten!)

Aber dass es eine pädagogische Maßnahme ist, stimmt nun wirklich nicht, weil uns alle Studien zeigen, dass dieses Sitzenbleiben pädagogisch weitgehend erfolglos ist und dass es eben nicht dazu führt, dass die Schülerinnen und Schüler mehr gefördert werden.

(Gerhard Bökel (SPD): Das habe ich meinen Lehrern auch erzählt, und sie haben es mir nicht geglaubt!)

Deshalb sollten wir uns dringend Gedanken machen, wie weniger Schülerinnen und Schüler sitzen bleiben und wie wir sie individuell fördern können, statt sie durch das Sit

zenbleiben zu beschämen und in unserem Bildungssystem zurückzulassen.