Protokoll der Sitzung vom 25.01.2006

Lassen Sie mich zum Abschluss meiner Rede noch einige Worte zu dem Dringlichen Antrag der Fraktion der SPD sagen. Die Mitglieder der Fraktion der SPD ziehen sich, wie sie es schon oft getan haben, auf die Kritik an der „Operation sichere Zukunft“ zurück.

(Zurufe von der SPD: Zu Recht!)

Meine Damen und Herren der SPD-Fraktion, ich glaube, damit machen Sie es sich wirklich zu einfach. Sie äußern nur pauschal Kritik.

(Beifall bei der CDU)

Sie sollten lieber konstruktive Vorschläge machen und uns unterstützen.

(Beifall des Abg. Hugo Klein (Freigericht) (CDU))

Die Vernachlässigung der Kinder ist nämlich nicht allein ein in Hessen bestehendes und schon gar nicht allein ein in Hessen verursachtes Phänomen. Bei der Vernachlässigung der Kinder handelt es sich vielmehr um ein bundesweites Problem. Wir alle sollten uns gemeinsam auf die Frage konzentrieren, was wir verbessern können.

(Beifall bei der CDU)

Wir sind der Meinung, dass wir eine bessere Kommunikation und Koordination zwischen allen Beteiligten brau

chen. Wir wollen ein Aktionspaket mit Prävention, Intervention und Hilfsangeboten.

(Petra Fuhrmann (SPD): Die Prävention habt ihr doch platt gemacht!)

Frau Fuhrmann, wir hoffen, breite Unterstützung von den Mitgliedern aller Fraktion dieses Hauses für unseren Antrag zu erhalten. Das wäre ein positives Signal für eine gute Zukunft aller Kinder unseres Landes. – Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU)

Das Wort hat Frau Kollegin Eckhardt für die Fraktion der SPD.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Verehrte Frau Kollegin Ravensburg, es ist schon bezeichnend, dass Ihnen die Auswirkungen der „Operation düstere Zukunft“ nur im Zusammenhang mit unserem Dringlichen Antrag, aber nicht bei der Reflexion dessen, was Sie in den letzten Jahren getan haben, aufgefallen sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin mir aber sicher, dass jeder von uns betroffen und entsetzt war, als er mit den Bildern und den Informationen über die oft jahrelangen Martyrien der Kinder konfrontiert wurde,über die Sie eben auch gesprochen haben.

(Zuruf von der CDU: Deswegen muss man han- deln!)

Frau Ravensburg, da herrscht absolutes Unverständnis darüber,was die Väter und die Mütter,also die Eltern,den eigenen Kindern antun können. Natürlich sind wir alle deswegen ein Stück verzweifelt und ratlos.

(Zuruf: Sie sind das!)

Deswegen ist jede Initiative grundsätzlich positiv zu bewerten, die zum Ziel hat, Kindern ein solches Schicksal zu ersparen.

Ich unterstelle allen hier im Hause, dass sie gute Vorsätze haben. Dennoch müssen wir sehr kritisch prüfen, inwieweit die Vorschläge, die unterbreitet wurden, auch geeignet sind,Verwahrlosung,Vernachlässigung und Misshandlung zu verhindern.

(Beifall bei der SPD)

Ein Aktionsplan darf nicht zum Aktionismus werden. Maßnahmen müssen im Vorfeld greifen, also präventiv.

Hier taucht bei uns eine gewisse Skepsis bezüglich der Vorschläge im Antrag der CDU auf. Wir haben keine grundsätzlichen Einwände gegen eine verpflichtende Untersuchung zur Früherkennung bei Kindern. Aber wir teilen die Einschätzung der Frau von der Leyen bezüglich der Erfolgsaussichten. Kein Allheilmittel ist die verpflichtende Untersuchung.Es besteht vielmehr die Gefahr,dass wir uns in einer trügerischen Sicherheit wähnen – so die Familienministerin.

Die Untersuchungen U 1 bis U 9 als Pflichtuntersuchungen können sich positiv auf Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und verdeckten Behinderungsbildern auswir

ken. Eine frühe Förderung und damit eine bessere Prognose wären möglich. Als Mittel zur Verhinderung und zum Erkennen von Misshandlungen usw. kann von der Pflichtuntersuchung leider nur untergeordnete Wirksamkeit erwartet werden. Selbst wenn Sie die Einhaltung der Untersuchungspflicht an den Kindergeldbezug koppeln, werden solche Eltern, die wirklich extrem handeln, notfalls eher auf einen Antrag und Auszahlung von Kindergeld verzichten, als mit ihren Kindern zum Arzt zu gehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Für völlig ungeeignet halten wir die Aufhebung der Schweigepflicht von Ärzten und Angehörigen anderer Berufe.Wenn Eltern Gefahr laufen, dass Misshandlungen oder Verwahrlosung durch den Arztbesuch bekannt werden und sie damit sogar möglicherweise eine Strafverfolgung provozieren, dann werden sie diesen Schritt zum Arzt möglicherweise nicht mehr wagen.

(Beifall bei der SPD)

Dadurch würde die kleine Chance, dass Eltern vielleicht aus einem spontanen Mitleids- oder Verantwortungsgefühl zum Arzt gehen und dass der Arzt aktuelle Schmerzen und Leiden eines Kindes lindert und eventuell den Eltern auch Beratung und Hilfe anbieten könnte, zunichte gemacht.

Meine Damen und Herren, ich habe mich, seitdem der Antrag auf dem Tisch liegt, sehr intensiv mit Ärzten unterhalten. Ich habe mit vielen Kinderärzten telefoniert und über diese Fragen gesprochen. Im Ergebnis bin ich sicher, dass bestehende Regelungen ausreichen, weil wir von einem hohen Maß an Verantwortungsbewusstsein, gerade bei den Kinderärzten, ausgehen können, die bei Gefahr für ein Kind, gerade bei lebensbedrohender Gefahr, adäquat reagieren und selbst im Spannungsfeld zwischen Schweigepflicht und Verantwortung für das Kind die rechtliche Komponente nachrangig behandeln.

Dazu verweise ich auf einen Berichtsantrag aus der vorigen Legislaturperiode. Darin ging es genau um diese Thematik. Damals hat Frau Sozialministerin Lautenschläger auf die Fragen 3, 9 und 10 sehr deutlich geantwortet. Im Übrigen ist auch die Lektüre des hessischen Leitfadens für Arztpraxen zum Thema Gewalt gegen Kinder spannend.

Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit einer zusätzlichen Sensibilisierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugendämter halte ich zunächst einmal für fraglich. Mir sind in den vergangenen Jahren besonders bei meiner Tätigkeit in Jugendhilfegremien sehr viele Frauen und Männer begegnet, die eine hohe Sensibilität und eine große Kompetenz im Umgang mit Verwahrlosung und Misshandlungen von Kindern aufgewiesen haben.

(Beifall bei der SPD)

Das Problem ist vielmehr auf einer ganz anderen Seite zu sehen, dass nämlich allein die zeitlichen Möglichkeiten, sich ausreichend um einen Einzelfall kümmern zu können, nicht mehr bestehen oder abgebaut wurden. Veränderte gesellschaftliche Realitäten mit einer sich quantitativ und qualitativ verändernden Zielgruppe sind in den Stellenplänen für die Jugendämter nicht mehr vorgesehen. Dazu kommt zunehmend der Druck auf die Mitarbeiter in den Jugendämtern, Jugendhilfemaßnahmen mehr und mehr rechtfertigen zu müssen. Alle stehen unter dem Druck der Bürokratie und des Sparens, statt Hilfe leisten zu können.

Es ist häufig der Fall, dass Jugendämter in die Schusslinie geraten. Nur in Ausnahmefällen liegt hier Versagen eines einzelnen Mitarbeiters vor. Oft sind es die Bedingungen und die Strukturen, unter denen gearbeitet werden muss. In Kassel hat man die Konsequenz aus dem Tod des kleinen Tim gezogen und Veränderungen bei der Behörde vorgenommen. Man hat versucht, die Kooperation und die Kommunikation mit Beratungsstellen, Gericht und Polizei zu verbessern.

Meine Damen und Herren, wissen Sie, dass es heute in diesem Land Realität ist, dass man ein halbes Jahr auf einen Beratungstermin in einer Erziehungsberatungsstelle warten muss?

(Beifall bei der SPD – Jürgen Walter (SPD): Unglaublicher Vorgang!)

Das ist leider auch Ihnen vorzuwerfen – mit Blick auf die Streichung der Landesmittel. Aber auch für Spiel- und Lernstuben in sozialen Brennpunkten sind die Mittel gekappt worden.

(Dr.Thomas Spies (SPD):Ach?)

Vielleicht hat hier das eine oder andere Kind eine bessere Zeit erleben können oder die eine oder andere gestresste Mutter – oder Vater – Entlastung gefunden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie müssen sich die Feststellung schon gefallen lassen, dass Sie durch die Streichungen im Rahmen der so genannten „Operation sichere Zukunft“ auch solchen Einrichtungen und Projekten die Basis entzogen haben, dass Sie die Arbeitsmöglichkeiten minimiert haben, die auch zum Ziel hatten, Gewalt gegen Kinder, Misshandlungen und Verwahrlosung abzubauen oder frühzeitig zu erkennen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Boris Rhein (CDU))

Herr Rhein, die Warnungen kamen nicht nur aus unserem Hause, sondern sie kamen von den Kirchen, von den Wohlfahrtsverbänden, aus der Wissenschaft, von der Polizei usw. usf.

Wir sollten gemeinsam im Interesse der Sache diese Fehlentscheidung revidieren. Wir haben sogar heute noch die Möglichkeit dazu: Wir machen einen gemeinsamen Antrag und nehmen das Ganze zurück. Damit hätten wir den ersten wichtigen Schritt getan.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Verwahrlosung und Misshandlungen sind Probleme, die sich durch alle sozialen Schichten ziehen. Das steht in der Begründung des CDU-Antrags. Diese Aussage ist sicherlich nicht falsch.Ich will an dieser Stelle auch die Fälle von so genannter Wohlstandsverwahrlosung nicht kleinreden. Aber wir wissen doch, dass wir es mit einer Problematik zu tun haben,die primär in sozial schwachen Familien vorkommt. Die Aussagen von Ärzten, Pfarrern und Jugendamtsmitarbeitern machen deutlich, dass es gerade junge Menschen aus bildungsfernen Schichten sind, nicht ausgebildete Eltern, oft arbeitslose Eltern bzw. Eltern, die die Erziehung und die Versorgung ihrer Kinder, das Geben von Geborgenheit einfach nicht hinbekommen.

Erschwerend kommt hinzu: Eine Untersuchung der katholischen Kirche in Deutschland hat im vorletzten Jahr erschreckend verdeutlicht, dass die Anzahl der sehr jun

gen Frauen, der 15-Jährigen, die Kinder bekommen, ansteigt. Es gibt einen Anstieg bei den noch jüngeren Mädchen, die gebären, und dabei handelt es sich zum weit überwiegenden Teil um Mädchen aus belasteten Familien. – Meine Damen und Herren, die nehmen allerdings auch keine Beratungshotline in Anspruch.