Protokoll der Sitzung vom 23.02.2006

(Zuruf der Ministerin Karin Wolff)

Dann kommt: Man werde „keiner Schule Steine in den Weg legen, die ein Deutschgebot für sich beschließen wolle“. – Genau das ist es, was wir sagen. Offensichtlich hat das Kultusministerium zu diesem Zeitpunkt Ende Januar noch keinen Handlungsbedarf gesehen, wie er jetzt im Antrag der CDU zum Ausdruck kommt.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die Anträge, während der Pausen Deutschpflicht auf dem Schulhof einzufordern, spiegeln ohnehin nicht die Realität an den hessischen Schulen wider. In meiner Heimatstadt Offenbach gibt es viele Schulen mit über 80 % Kindern mit Migrationshintergrund. Das ist keine Seltenheit. In den Pausen wird dort auf dem Schulhof Deutsch gesprochen, weil die Vielfalt der Herkunftssprachen ohnehin Deutsch als Kommunikationsmittel erfordert. Die Verordnung einer Pflichtsprache ist deswegen total unnötig.

Außerdem ist es falsch, den Kindern zu signalisieren, dass sie ihre Sprachentwicklung gefährden, wenn sie sich außerhalb des Unterrichts in ihrer Muttersprache unterhalten.

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Boddenberg?

Das geht von meiner Redezeit ab. Herr Irmer hat auch keine Zwischenfrage von mir zugelassen.

(Axel Wintermeyer (CDU): Oh!)

Der Umgang mit der Mehrsprachigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler stellt Schulen vor hohe Anforderungen, doch Zwei- und Mehrsprachigkeit ist ein wertvolles Potenzial für die Kinder und für unsere gesamte Gesellschaft.Nicht umsonst wird in allen Bundesländern der Beginn der Vermittlung der ersten Fremdsprache Schritt für Schritt in die Grundschulzeit gelegt.

(Beifall der Abg.Andrea Ypsilanti (SPD))

Der Erwerb von Fremdsprachen hat berechtigterweise eine Aufwertung erfahren.Deshalb darf von politisch Verantwortlichen nicht der Eindruck hinterlassen werden, dass der Gebrauch bestimmter Sprachen wie z. B. Türkisch ein Integrationshindernis darstellt.

Wir müssen auch die Herkunftssprachen fördern. Herr Irmer, ich wollte Sie vorhin etwas fragen, als Sie Frau Goldacker zitiert haben. Sie haben das nicht zu Ende zitiert; denn sie hat auch gesagt, dass der Gebrauch der Muttersprache und der muttersprachliche Unterricht verstärkt werden müssen. Das haben Sie natürlich bewusst weggelassen.

Meine Damen und Herren, der Fraktionsvorsitzende der CDU und der bildungspolitische Sprecher Hans-Jürgen Irmer schießen in einer Presseerklärung vom 09.02. weit über das Ziel hinaus, indem sie ihren Antrag begründen. Dort sagen sie:

Wir wollen, dass in den Schulen und auf den Pausenhöfen Deutsch gesprochen wird. Nur so kann die Verbesserung der Sprachfähigkeit und somit die Integration ausländischer Schüler erreicht werden...

Meine Damen und Herren, im Umkehrschluss heißt das: Wenn die Deutschpflicht auf dem Schulhof nicht freiwillig vereinbart wird, beeinträchtigt das die Integrationschancen der Kinder. Ich denke, solche Konsekutivsätze sind geeignet, Emotionen zu schüren und die Diskussion zu polarisieren.

Herr Irmer, Sie haben vorhin einmal wieder versucht, als Wolf das Schafskostüm anzuziehen. Aber Sie haben wieder den Reißverschluss nicht zugemacht, und das hat man bei Ihrem Beitrag sehr gut gemerkt.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg.Axel Win- termeyer (CDU))

Meine Damen und Herren, ohne Zweifel ist die deutsche Sprache ein Werkzeug zur Integration. Dass die Verpflichtung, sie auf dem Schulhof zu sprechen, keine Integrationsmaßnahme per se ist, habe ich gerade erläutert. Ludwig Eckinger, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung,nennt Deutschpflicht auf dem Schulhof gar eine bizarre Integrationsmaßnahme. Das bayerische Kultusministerium warnt vor einer Deutschpflicht als Einschränkung der Persönlichkeitsrechte.

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Ich komme sofort zum Ende, Herr Präsident. – Um Integrationsprozesse für Kinder mit Migrationshintergrund besser gelingen zu lassen, brauchen wir die Anträge von CDU und FDP nicht, sondern wir brauchen Maßnahmen im Bereich der frühkindlichen Bildung und in der Schule, die individuelle Förderkonzepte zulassen. Deswegen lehnen wir die Anträge von CDU und FDP ab.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Axel Wintermeyer (CDU): Oh!)

Das Wort hat Frau Kultusministerin Wolff.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie baut man eine Debatte zu einem Thema auf, bei dem man merkt, dass man in der Gesellschaft den Anschluss verloren hat?

(Beifall bei der CDU und der FDP – Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was?)

Man baue einen Popanz auf, schlage ordentlich drauf, setze noch die Antragsteller unter Rechtsverdacht und verschleiere damit, dass das, was man damit verlangt, sich schlicht überholt hat und die Gesellschaft auf einem neuen Bewusstseinsstand angekommen ist.

(Zuruf des Abg. Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn hier gesagt wird, es sollen Schulen mit einer Pflichtsprache zwanghaft überzogen werden, und das solle verordnet werden, dann kann ich das in beiden Anträgen nicht erkennen.

(Heike Habermann (SPD): Das hat auch niemand gesagt!)

Das haben beide Redner gesagt, so übellaunig, wie sie zum Teil waren. – Das ist genau das, was beide Anträge nicht wollen.Sie gehen sehr bewusst davon aus,dass wir in Berlin eine Schule haben, die eine Erziehungsvereinbarung geschlossen hat, die ein Schulprogramm erarbeitet hat. Sie hat gesagt: Im Rahmen dessen, was wir über das Schulprogramm mit unseren Jugendlichen erreichen wollen, ist es richtig und wichtig, dass wir vereinbaren, dass in unserer Schule Deutsch gesprochen wird, und zwar nicht nur im Unterricht, sondern auch auf dem Schulhof.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Ich finde, das ist sehr lobenswert. Herr Wagner, man kann sich auch nicht damit herausreden,

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber die haben die Politik dafür nicht gebraucht!)

dass man die Zahl derer kleinrechnet, die es möglicherweise betreffen könnte.Wir haben doch unsere Erfahrungen aus dem Bereich, für den Vorlaufkurse empfohlen werden. Wir wissen sehr genau, dass es ungefähr die

Hälfte der künftigen Schüler nicht deutscher Herkunft betrifft, dass ihnen dringend ein Vorlaufkurs empfohlen wird. Wir wissen selbstverständlich, dass es nach PISA Schülerinnen und Schüler in unterschiedlichen Kategorien gibt. Das sagt aber letztlich nicht aus, wie viele davon, ob sie mehrsprachig oder einsprachig erzogen sind, tatsächlich gut Deutsch sprechen können. Darum geht es letztlich.

Wir haben aus PISA die Aufgabenstellung mitbekommen,damit umzugehen,dass insbesondere Kinder und Jugendliche der zweiten und dritten Generation, die aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien kommen, große Schwierigkeiten haben.Dort sind die Sprachschwierigkeiten am größten.

Meine Damen und Herren, es hilft nichts, solche Sachverhalte zu ignorieren und zu leugnen, sondern man muss sie offensiv angehen und damit auf den verschiedensten Wegen umgehen, also auch mit der Frage, wie das außerhalb des Unterrichts aussieht.

(Zuruf der Abg.Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich denke durchaus, dass sich insgesamt in der Bevölkerung, wenn auch nicht in diesem Landtag, in der Diskussion um den Berliner Schulhof ein Paradigmenwechsel ergeben hat, dass sich eine positive Bewusstseinsveränderung insoweit ergeben hat, dass die Bedeutung der Sprache, und zwar die Bedeutung der Landessprache, in den Vordergrund gestellt wird, damit Kinder eine Chance des Bildungszugangs im wahrsten Sinne des Wortes und des Bildungserfolges haben,und damit auch Chancen auf eine Ausbildung in einem Beruf und, damit verbunden, die Chance auf Teilhabe an dieser Gesellschaft.

Meine Damen und Herren, dass diese Diskussion nun besser möglich ist, dass sie produktiver und konstruktiver in der Gesellschaft geführt wird, das halte ich für einen außerordentlichen Gewinn.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Das ist auch deswegen zu spüren,weil wir in Hessen daran beteiligt waren, dass sich eine solche Diskussion entwickelt. Frau Kollegin Henzler und Herr Irmer haben es angesprochen, wie wir bereits in den letzten vier oder fünf Jahren dieses Thema bearbeitet haben und damit auch die Gewichtung der Landessprache für den Bildungserfolg von Kindern in den Vordergrund gestellt haben.

Da erinnert sich mancher natürlich nicht so gerne an seine früheren Reden. Es erinnert sich mancher nicht so gerne daran, wie die Diskussion war, als wir am Anfang über die Vorlaufkurse diskutiert haben. Es erinnert sich mancher nicht so gerne daran – der Begriff „Zwangsgermanisierung“ ist gefallen –, dass dies in einen Gegensatz mit anderen Unterrichtsformen gebracht worden ist und dass immer noch behauptet worden ist, zwei Stunden am Nachmittag einmal in der Woche würden im Grunde reichen, und man müsse durch Gruppenbildung und Mischung der Klassen erreichen, dass die Kinder Deutsch lernen. – Wir wissen aus den vergangenen Jahrzehnten, dass dies nicht erfolgreich gewesen ist, dass Kinder und Jugendliche damit nicht zum Erfolg, nicht zum Abschluss gekommen sind. Ich sage, dass alle diejenigen, die dies noch heute romantisch verklären, es billigend in Kauf genommen haben. Aber das darf in Zukunft nicht mehr so sein. Dafür tragen wir Gewähr.

Meine Damen und Herren, ich will schon noch einmal deutlich machen: Als wir die Vorlaufkurse eingeführt ha

ben, gab es in diesem Hause eine aggressive polemische Auseinandersetzung darum. Als wir an dieser Stelle gefragt haben, ob denn Einschulung in die erste Klasse sein kann ohne Sprachkenntnisse, gab es eine äußerst polemische Auseinandersetzung in diesem Hause. Es gibt eine Lehrergewerkschaft, die kriegt heute noch Pickel im Gesicht, wenn sie im Kultusministerium diesem Satz auf dem Flur begegnet: Kein Kind kommt in die erste Klasse, ohne Deutsch zu können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das war eine andere Eingangssituation, als wir sie heute in der allgemeinen gesellschaftlichen Diskussion haben. Da ist sehr viel geschehen: eine gesetzliche Ordnung, die ermöglicht hat, dass wir durch frühere Anmeldung Sprachkurse anbieten konnten, und die eine Hoffnung auf Erfolg, d. h. nachhaltige Wirkung, gibt. Auf dieser Basis haben wir diese Kurse angeboten, und es sind mittlerweile deutlich über 700 Kurse im Lande Hessen.

Ich darf auch feststellen,weil hier wieder die übellaunigen Bemerkungen kamen,ob genug Geld und ob genug Kurse da seien, dass sich in den Jahren der unionsgeführten Regierung, mit und ohne FDP, die Zahl der Kurse in diesem Feld und der Schüler darin verdoppelt hat.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, da hat inzwischen mancher im Bereich der Wissenschaft genauer nachgedacht, ob die Beherrschung der Muttersprache tatsächlich Voraussetzung sei, um die Landessprache lernen zu können. Es gibt neue Erkenntnisse, die ich für außerordentlich differenziert, zielführend und auch hilfreich halte, zumal sich die Wirklichkeit anders abspielt. Denn viele der Kinder und Jugendlichen, um die es geht, haben die doppelte Halbsprachigkeit und nicht die Chance, sich in einer Sprache schon sehr sicher zu bewegen. Deswegen wollen wir bewusst, dass sie sich in der Landessprache sehr sicher bewegen.

Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren sind weitere Maßnahmen durchgeführt worden. An den Vorlaufkursen haben mittlerweile 22.000 Kinder teilgenommen. Diese Kurse waren sehr segensreich. Darüber hinaus sind über diese Maßnahmen viele Mütter erreicht worden, viele Erzieherinnen sind fortgebildet worden, und es hat Formen der Kooperation gegeben, die äußerst wirksam waren, z. B. mit der Hertie-Stiftung Aktivitäten im Rahmen des Modellprojekts „Frühstart“, Maßnahmen im Bereich der START-Programme für begabte Kinder aus Migrationsfamilien und das Programm „Deutsch & PC“, das evaluiert worden ist und dessen Erfolg überhaupt nicht bestritten werden kann, das vielen jungen Menschen geholfen hat. Viele andere Beispiele sind im Antrag genannt.

Ich will noch einmal deutlich machen, dass die Tatsache, dass wir rund 45 Millionen c im Jahr für die Förderung von Migranten zur Verfügung stellen – für Vorlaufkurse, für Sprachkurse, für zusätzliche Stellen an Schulen mit einem hohen Ausländeranteil –, in der gegenwärtigen haushaltspolitischen Lage eine außerordentliche Leistung dieses Hauses und dieses Landes ist.

(Beifall bei der CDU)