Protokoll der Sitzung vom 28.08.2008

Deshalb begrüßt DIE LINKE ausdrücklich die Initiative der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur verbesserten Gestaltung von Volksbegehren und Volksentscheid. SPD, GRÜNE und LINKE haben in der lebendigen Gestaltung unserer Demokratie durch direkt-demokratische Elemente und die Betonung der Bedeutung des Einzelnen für das demokratische Ganze ein gemeinsames Anliegen.

Man kann auch sagen, die GRÜNEN haben sich hier an der Umsetzung eines für die Demokratie in unserem Lande wichtigen Projektes gewagt – zu einem Zeitpunkt, an dem andere Landtagsfraktionen eher Lippenbekenntnisse zur Bedeutung der demokratischen Grundordnung abgeben.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir als LINKE haben bereits einen Gesetzentwurf zur Absenkung des Alters bei Kommunalwahlen auf 16 Jahre auf den Weg gebracht.

Einen weiteren Antrag – die Bundesratsinitiative des Landes Rheinland-Pfalz zur Einführung des kommunalen Wahlrechts für Nicht-EU-Bürger – können wir hier bereits ankündigen.

Das eingeleitete Gesetzgebungsverfahren für mehr Bürgerbeteiligung und Wirtschaftsaktivität in den hessischen Gemeinden wird ebenso eine Diskussion über eine Neugestaltung der HGO und der HKO für mehr gelebte Demokratie mit sich bringen.

Die Hessische Verfassung sieht den Weg der Volksgesetzgebung zwar ausdrücklich vor, die hohen Quoren in unserer Verfassung und die Hürden des Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid tragen jedoch dazu bei,dass in über 50 Jahren noch kein einziger Volksentscheid erfolgreich durchgeführt werden konnte.

Bürgerentscheide, also die direkte Demokratie auf kommunaler Ebene, haben sich beispielsweise in Bayern seit ihrer Einführung Mitte der Neunzigerjahre bewährt. Entgegen der Erwartung der CSU-geführten Landesregierung, dass wenige Chaoten alles regieren würden, wurden

dort seither Bürgerbegehren und Bürgerentscheide zu einem allgemein akzeptierten und weithin verbreiteten Entscheidungsinstrument mit mehr als 1.750 Verfahren, davon waren fast 970 Bürgerentscheide. Eine solch lebhafte, direkt-demokratisch gestaltete Politik können wir uns für Hessen nur wünschen. Hier wird ein weiteres Feld zu bestellen sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Bei Volksbegehren und Volksentscheiden liegt jedoch noch ein großes Stück vor uns. Der Verein „Mehr Demokratie“, der sich in allen Bundesländern und auch auf Bundesebene für die Durchführung von Volksentscheiden einsetzt und dabei auch von bundesdeutschen Spitzenpolitikern Unterstützung erfährt, weist auf folgendes Dilemma hin: „In allen Bundesländern können die Bürger durch Volksentscheide politisch mitagieren: Sie treffen dann anstelle des jeweiligen Landtages die Entscheidung über ein Gesetz. Doch hohe Hürden machen dieses Recht in vielen Ländern zur Farce:Nur vier Bundesländer haben wenigstens teilweise bürgerfreundliche Verfahren.“

Das Land Hessen ist bisher nicht dabei. Wir hoffen, dass sich das nach dieser Diskussion ändern wird. Dabei wird in Sonntagsreden oftmals mehr demokratisches Engagement eingefordert. Bei vielen Regierungen ist die Scheu vor der Selbstgesetzgebung des Volkes immer groß genug, letztendlich doch Bedenken gegen die Einführung von Volksentscheiden vorzutragen. Dabei ist mit der Einführung von Elementen direkter Volksgesetzgebung durch Volksbegehren und Volksentscheide mehr verbunden als nur die Beteiligung des Einzelnen an ihn unmittelbar betreffenden Entscheidungen.

Es geht auch um die Disziplinierung von Mandats- und Amtsträgern, denn sie werden so manche Entscheidung vielleicht doch nochmals überdenken, wenn die Bevölkerung negativ betroffen ist. So kann man sich beispielsweise fragen, ob der Flughafen Frankfurt am Main ausgebaut würde, wenn hierzu ein Volksentscheid möglich wäre, oder ob Biblis A nicht eventuell eine Betriebsgenehmigung versagt werden würde. Das sind jedoch nur Beispiele denkbarer Initiativen.

Das Aufbrechen von Legislaturperioden und Entscheidungsrhythmen würde möglich, weil Wahlversprechen vor der Wahl sowie „Wahlverbrechen“ nach der Wahl ein Stück mehr risikobehaftet wären. Die Möglichkeit, generell auch außerparlamentarisch Politik und politische Opposition zu betreiben,würde die Politik in die Gesellschaft hineintragen. Dies gilt es nicht zu fürchten, sondern zu begrüßen und zu unterstützen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es stärkt die Auseinandersetzung mit politischen Themen und Strukturen, und es ist wie in Bayern für die Opposition eine Möglichkeit, auch gegen die Alleinregierung politische Entscheidungen durchzusetzen.

Für den von den GRÜNEN eingebrachten Gesetzentwurf geben wir nur einige Bedenken oder, wenn Sie so wollen,Anregungen für das sich anschließende Gesetzgebungsverfahren und die Diskussion hier im Parlament mit auf den Weg.

Wir begrüßen es sehr, dass, wie das auch bei einem Gesetzentwurf der GRÜNEN aus dem Jahre 2007 der Fall war, der Begriff des „Einwohners“ wenigstens in das Zentrum der Volksinitiative gerückt wird. DIE LINKE möchte so bald wie möglich eine Änderung der Hessi

schen Gemeindeordnung initiieren,mit der eine Verschiebung der Rechte der Bürger zugunsten der Einwohner einhergeht. Jeder Einwohner, der seinen dauerhaften Lebensmittelpunkt in einer hessischen Gemeinde gewählt hat, sollte auf die Gestaltung seiner Gemeinde Einfluss ausüben können.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir regen auch an, zu klären, ob und wie eine Abstimmungskostenerstattung für die Initiatoren geregelt werden könnte, denn Wahlkampf, das wissen wir, kostet schließlich Geld. Daher würden wir über das hinausgehen, was Sie an technisch-organisatorischer Unterstützung leisten wollen und was wir selbstverständlich auch begrüßen und unterstützen.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Hinweis zu den Volksklagen und den Staatsgerichtshofverfahren. Im Jahre 1985 war ich als Gewerkschaftssekretär daran beteiligt, eine Volksklage zur Beteiligung der Gewerkschaften an einem Verfahren des Staatsgerichthofs zur Veränderung des Hessischen Personalvertretungsgesetzes einzubringen, das seinerzeit von SPD und GRÜNEN zur Verteidigung dieses Gesetzes eingereicht worden war und vom Landesanwalt angegriffen wurde. Damals war es ein Leichtes, innerhalb von 14 Tagen 121.000 beglaubigte Unterschriften vorzulegen, damit die Gewerkschaften an diesem Staatsgerichtshofverfahren beteiligt werden konnten und wurden.

Deshalb war ich auch für die Gewerkschaften in der sogenannten Task-Force, die die organisatorische Vorbereitung der Volksklage gegen die Studiengebühren mitorganisiert hat. Das Erste, worüber wir gestolpert waren, war, dass die Hessische Landesregierung im Jahre 2000 durch Rechtsverordnung die Einholung von Beglaubigungen, also die Unterschrift beglaubigen zu lassen, nach dem Staatsgerichtshofverfahren verändert hatte.

Vom Jahre 1985 bis zum Jahre 2000 war es nämlich möglich gewesen, dass jede dienstsiegelführende Behörde, also nicht nur die kommunalen Einwohnermeldeämter, beglaubigen konnte.Das war bei der Volksklage gegen die Studiengebühren nicht mehr möglich. Daher wurde unsere Anregung in vielen Fällen befolgt, in unmittelbarer Nähe der Einwohnermeldeämter Infostände aufzuschlagen, die Menschen dort anzusprechen und Unterschriften zu sammeln.

Das zeigt aber in Bezug auf das Verwaltungshandeln sowie die Initiierung von Volksbegehren und Verfahren vor dem Staatsgerichtshof, dass genau geschaut werden muss und dass es nicht nur darum geht,die Verfassung sowie die entsprechenden Gesetze zu ändern,sondern dass auch die Verwaltung aktiv daran beteiligt und verpflichtet sein muss, entsprechende Initiativen zu unterstützen sowie mitzutragen. Das geht in der Tat über das hinaus, was in den Gesetzentwürfen der GRÜNEN, die wir sehr begrüßen, steht.

Wir wollen einen weiteren Vorschlag in die Debatte einbringen, der nach unserer Meinung zu mehr Gerechtigkeit beitragen könnte: eine Orientierung an den Stimmberechtigten der letzten Landtagswahl. Es ist zu überlegen, inwieweit sich die Quoren dem Wählerverhalten bei Landtagswahlen anpassen müssen. Das würde bedeuten, dass bei einem Quorum von 10 % nicht mehr rund 410.000 Menschen notwendig wären, sondern aufgrund des leider zurückgehenden Wahlverhaltens gäbe es im Moment eine Größenordnung von 280.000 bis 300.000. Daher wäre es interessant, zu diskutieren, ob man even

tuell eine solche Konkurrenzsituation, wie ich es zunächst nennen möchte, will. Es wäre allemal legitim, sich auf die Anzahl der Stimmberechtigten der letzten Landtagswahl zu beziehen statt lediglich auf die Anzahl der Abstimmungsberechtigten.

Auch über die Höhe des Quorums würden wir gerne reden,wenn man bedenkt,dass gerade noch zwei Drittel der Wahlberechtigten wählen gehen und die Tendenz fallend ist.

Lassen Sie es mich zusammenfassen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für diese vier Gesetzesinitiativen und schließe mit dem berühmten Wort von Willy Brandt: „Lassen Sie uns gemeinsam mehr Demokratie wagen.“ – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank,Herr Kollege Schaus.– Nächste Rednerin ist Frau Kollegin Pauly-Bender für die SPD-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Anträge der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen die Position des hessischen Volkes im Rahmen der Volksgesetzgebung verbessern. Diese Absicht weist im Grundsatz in die richtige Richtung – auch wir haben dazu in der Verfassungsenquetekommission Position bezogen –, und das kann auf unsere Sympathie zählen. Die hessische Sozialdemokratie hat an verschiedenen Stellen sehr deutlich gemacht, dass wir Initiativen, die in diese Richtung weisen,für geboten und notwendig halten. Wir haben uns im Rahmen der Verfassungsenquete entsprechend positioniert, und unsere gesamte Programmatik sieht sich mit dem Ziel im Einklang, die basisdemokratische Substanz unserer Hessischen Verfassung weiter auszubauen. Gerade das von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN anvisierte Kernstück, nämlich die Normsetzungsinitiative des Volkes auch in puncto Verfassungsänderungen zu ermöglichen, finden wir der Richtung nach überzeugend und in hohem Maße erwägenswert.

Meine Damen und Herren, die SPD hebt erneut hervor: Es gehört zu dem ganz großen demokratischen Erbe der über 60-jährigen Landesverfassung, dass sie dem Volk bei vom Landtag intendierten und beschossenen Verfassungsänderungen eine absolute Vetoposition an die Hand gibt, welche die Möglichkeiten auch großer parlamentarischer Mehrheiten gegenüber anderen Verfassungen, nicht zuletzt auch gegenüber dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, erheblich zugunsten der direkten Demokratie verändert.

Die Landesverfassung hat damit eine Vorkehrung getroffen, um die demokratische Legitimität der Verfassungsänderungen in einer ganz besonderen Weise zu sichern. Ich finde es auch nicht ganz korrekt, dass wir heute diesen Punkt umschiffen. Herr Gotthardt wollte herausfinden, warum nicht das Gesamtpaket zur Diskussion gestellt wurde.

Meine Damen und Herren, es erscheint uns durchaus konsequent und folgerichtig, diesem Vetorecht in einer nahen Zukunft auch ein Initiativrecht – oder die Ausdehnung dieser Initiativrechte – folgen zu lassen, das die gestaltende Rolle des Volksgesetzgebers dann auch endlich in Verfassungsrecht betont und für diesen besonderen Be

reich das nachvollzieht, was die Hessische Verfassung für den Normalbereich der einfachen Gesetzgebung bereits in bahnbrechender Weise reformiert hat.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Wer es mit der aktiven Staatsbürgergesellschaft ernst meint, sollte offen sein für diese Erweiterung der Volksbeteiligung. Es macht keinen besonderen Sinn, die Wichtigkeit des bürgerschaftlichen Engagements in den allfälligen Sonntagsreden zu preisen, dort aber, wo es um Wesentliches geht, zu mauern. Die höchste Form der Mitbestimmung ist und bleibt das Recht der Initiative. Das allein gewährleistet,dass man nicht nur Ja oder Nein zu dem sagen kann, was sich andere ausgedacht haben, sondern auch sagen darf, was geschehen soll.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehen es als vornehme Aufgabe des Parlamentes an, die historische Substanz der Hessischen Verfassung zu achten und zu wahren.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Herr Kollege Gotthardt, es wäre auch schon ganz korrekt gewesen, zu sagen, dass es einen großen Kompromiss gab, der allerdings am Sondervotum der SPD gescheitert ist und der dann die Bedenken auch in die anderen Fraktionen hineingetragen hat.

Wir haben dies in den Beratungen zur Verfassungsenquete immer wieder dargelegt. Wir sehen diese Substanz vor allem in zwei Dimensionen: zum einen in dem ungewöhnlichen Engagement der Verfassung für das Prinzip der Sozialstaatlichkeit, das in kaum einer anderen Quelle so klar und dezidiert vertreten wird, wie dies in unserer Verfassung an zahlreichen Stellen geschieht. Dass dies schon damals, erst recht aber in unserer heutigen Zeit, nicht alle landespolitischen Kräfte mit Begeisterung erfüllt hat, haben wir anlässlich der Enquete und mancher Änderungsvorschläge in dieser Enquetekommission gesehen. Das hat uns nicht erstaunt, nach allem, was wir an Sozialabbau in den vergangenen Jahren hier erleben mussten. Uns haben diese Initiativen in der Absicht bestärkt, alles dafür zu tun, diese besondere Art der Verfassungsparteinahme für den Sozialstaat zu verteidigen und das soziale Hessen wieder zu forcieren.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LINKEN)

Um das soziale Hessen geht es gerade in diesen Tagen wieder in ganz besonderer Weise – bei allem wabernden Pulverdampf, der ausgesprochen Nebensächliches allzu leicht als wesentlich erscheinen lässt und umgekehrt.

Wer in Anspannung geraten ist: Sie können sich für den Augenblick wieder locker machen, denn ich komme eilends zur heutigen Verfassungsnovelle zurück und lasse die Beratungen der Enquetekommission in toto im rechtshistorischen Off, wo sie der Endeckung harren, die da kommen wird.

Die zweite Spezialität der Hessischen Verfassung aber ist die große Wertschätzung der direkten Demokratie. Sie tritt als prägendes Element neben das Sozialstaatsprinzip und die Sozialstaatsemphase. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die beiden Besonderheiten stehen aber nicht nur einfach so nebeneinander. Sie gehören zusammen, und sie sind die zwei Seiten einer Medaille. Sozialer Staat und lebendige Demokratie, beides sind die Voraussetzungen dafür, dass auch die normalen Menschen, die viel zitierten kleinen Leute, in angemessener Weise Be

rücksichtigung finden. Die Leute, die hart für das Leben arbeiten müssen, oft mit großem Einsatz und skandalös geringem Lohn, wie die neue Studie zur Lohnspreizung zeigt, brauchen den ausgleichenden Staat, der auch und nicht zuletzt ihre Fähigkeit sichert, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LINKEN)

Es ist eine effektive und partizipative Demokratie, die sicherstellt, dass auch diejenigen Interessen zum Zuge kommen, die keine große Lobby finanzieren können. Der bedeutende amerikanische Intellektuelle und Politikberater Marshall hat in seinen Reflexionen über Industrial Citizenship den Zusammenhang von wirtschaftlicher und politischer Partizipation betont. Marshall sah darin geradezu die Grundfesten unserer freiheitlichen Gesellschaften. Man kann heute, Jahrzehnte danach, sagen, dass sich an dieser Einsicht nicht rütteln lässt. Meine Damen und Herren,beides ist nötig.Beides muss nach den dürren Jahren, auf die wir zurückschauen, wieder nach vorne kommen. Initiativen für soziale Gerechtigkeit und Initiativen für ein Mehr an Demokratie – unser Land braucht beides. Meine Damen und Herren, wir alle sollten stolz sein auf unsere Verfassung, die diese Synthese schon früh gefunden hat.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dabei geht es nicht darum, die repräsentative Demokratie anzutasten. Diese Regierungsform hat sich mehr als bewährt.Wir wären als Hessischer Landtag mehr als schlecht beraten, wenn wir den Ausbau der direkten Demokratie mit einer in aller Regel doch ziemlich billigen und von allen möglichen Hintergedanken befallenen Fundamentalkritk an der repräsentativen Demokratie verbinden würden. Nein, darum geht es nicht. Es muss bei den Versuchen, die demokratischen Mechanismen zu reformieren, um Optimierung gehen, um Zugewinn an Legitimität, an Transparenz und um besseres Regieren überhaupt.