Der Rückgang der Arbeitslosigkeit dort steht natürlich auch mit der Entwicklung der Konjunktur in Verbindung. Wenn wir uns die Situation in Nordhessen genauer betrachten, dann erkennen wir dort schwere strukturelle Defizite.Aber auch darauf werde ich noch einmal zurückkommen.
Letztendlich möchte ich auch nicht verschweigen, dass der gesamte Arbeitsmarkt in Hessen im Vergleich zu denen der Nachbarländer hinterherhinkt.
Frau Kollegin, vielen Dank. – Sie haben Nordhessen angesprochen und gesagt, die Entwicklung dort sei ausschließlich auf die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland insgesamt zurückzuführen.Wie erklären Sie dann, dass die Arbeitslosigkeit im Regierungsbezirk Kassel in den letzten acht Jahren dreieinhalb Mal stärker zurückgegangen ist, als es beispielsweise in den benachbarten Regionen in Niedersachsen der Fall ist?
Auf diese Frage antworte ich Ihnen gerne. Schauen Sie sich einmal die Entwicklung des Arbeitsmarktes in Nordhessen im August 2008 genau an. Wir erkennen da ganz deutliche Unterschiede.Wir haben z. B. im Regierungsbezirk Kassel mit dem Landkreis Fulda einen,in dem wir mit 5,1 % Arbeitslosigkeit fast Vollbeschäftigung erreicht haben. Daneben gibt es dort auch Landkreise, die nach wie vor mit dem erdrückenden Problem der Arbeitslosigkeit konfrontiert sind.
Das betrifft z. B. die Stadt Kassel. Dort steht die Entwicklung im Gegensatz zu der des Landkreises Kassel. Das ist doch eigentlich ein Zeichen für etwas ganz Bestimmtes. Ich möchte das jetzt anhand von Nordhessen aufzeigen. Wir haben in den letzten Jahren in Nordhessen tatsächlich Veränderungen bemerken können. Nordhessen ist glücklicherweise nicht nur von der Zonenrandlage in die Mitte Europas gerückt. Es ist auch ein Musterbeispiel dafür, wie man mit dem Umsteuern zum ökologischen und nachhaltigen Wirtschaften tatsächlich neue Arbeitsplätze schaffen kann.
In der Region gibt es übrigens noch weitere Potenziale. Dies sind der Tourismus, die kulturellen Angebote und Wellness. Herr Boddenberg, aus unserer Sicht sind all das die Erfolgsfaktoren, die dazu geführt haben, dass sich Nordhessen tatsächlich weiterentwickelt hat. Wer aber stattdessen wie Sie versucht, die wirtschaftliche Entwicklung Nordhessens an den Ausbau von Autobahnen und den Neubau des Flughafens Kassel-Calden zu knüpfen, der zerstört genau diese Entwicklungspotenziale der Wirtschaft für zukunftsfähige und nachhaltige Arbeitsplätze.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Petra Fuhrmann (SPD) – Michael Boddenberg (CDU): Frau Kollegin, ich werde das mit Zähnen und Klauen verteidigen!)
Ich komme aber gerne auf den gesamten Arbeitsmarkt Hessens und den Vergleich mit anderen Bundesländern zurück. Im August 2008 betrug die Arbeitslosenquote in Hessen 6,4 %. Schauen wir nach Rheinland-Pfalz. Dort betrug die Arbeitslosenquote 5,4 %. In Baden-Württemberg waren es 4,1 %. In Bayern betrug sie 3,9 %.
Volkswirtschaftliche Definitionen sehen bei einer Arbeitslosenquote bis 4 % vor, dass bereits von Vollbeschäftigung gesprochen werden kann. Demnach herrscht in unseren süddeutschen Nachbarländern Vollbeschäftigung. Wir sind in Hessen davon noch ein ganzes Stück weit entfernt. Auch das geht auf die Politik der von der CDU geführten Landesregierung zurück.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Früher waren wir immer besser als der westdeutsche Durchschnitt!)
Ich glaube, wir hinken in Hessen hinterher, weil es der CDU nicht gelungen ist, die wahre Idee der Agenda 2010 wirklich zu verinnerlichen und umzusetzen. Daran muss sich dringend etwas ändern.
Lassen Sie mich deswegen noch einmal zum Herzstück der Agenda 2010, der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, zurückkommen, die Ende 2003 beschlossen wurde und am 1. Januar 2005 in Kraft trat. Es geht dabei um die sogenannte Grundsicherung für Arbeitsuchende im Sozialgesetzbuch II. Das ist besser unter dem Namen „Hartz IV“ bekannt.
Es gibt keinen anderen Bestandteil der Agenda, der so heftig umstritten und umkämpft ist. Dabei war die Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe überfällig und dringend notwendig.
Ein modernes Verständnis des Sozialstaates und der sozialen Bürgerrechte in einem emanzipatorischen Sozialstaat bedeutet die Ausrichtung der sozialen Hilfen vor allem an den Bedürfnissen der Personen und nicht an den Institutionen. Dazu gehört das Recht auf transparente Verfahren, unabhängige Beratung und definierte sowie einklagbare Ansprüche hinsichtlich der Qualität gegenüber den staatlichen Behörden. Mit der Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe verfolgten wir GRÜNE vor allem das Ziel, den Zugang aller Arbeitslosen, also z. B. auch der Alleinerziehenden, zum ersten Arbeitsmarkt durch umfangreiche Unterstützung und Förderung sowie durch passgenaue Hilfsangebote und effektive Vermittlung zu verbessern.
Doch es geht um mehr als um die Vermittlung von Arbeit und Qualifizierung. Es geht auch um anspruchsvolle soziale Hilfen. Nur so können die vielfältigen Problemlagen nachhaltig angegangen werden, die häufig Ursache und Wirkung von Langzeitarbeitslosigkeit sind.
Das Ziel der Arbeitsmarktpolitik muss soziale Integration und Teilhabe sein. Dafür sind Kompetenzen auf kommunaler Ebene und Netzwerke unverzichtbar.
Lassen Sie mich nur auf die notwendigen Beziehungen verweisen zwischen der Wirtschaftsförderung, den örtlichen Arbeitgebern sowie den Kammern – Herr Boddenberg –, die Beziehungen zwischen der Sozialverwaltung und den Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege, Leistungen der Jugendberufshilfe, Angebote zur Kinderbetreuung und soziale, psychosoziale und erzieherische Hilfen wie die Familienhilfe,Erziehungsberatung,Schuldnerberatung, Drogen- und Suchtberatung, Wohnungslosenhilfe und nicht zuletzt, das liegt mir persönlich immer besonders am Herzen, den gesamten Bereich der Förderung der Gesundheit.
Das hat die CDU bis heute nicht verstanden, sonst würden Sie selbstkritischer mit den Folgen der „Operation düstere Zukunft“ umgehen; denn gerade in diesen Bereichen haben Sie kommunale Strukturen zerstört, die für die begleitende Arbeit der Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen wichtig wären.
Das Lob, das von der Ministerin zur Agenda 2010 kam – man denkt manchmal, man ist ein bisschen im falschen
Film –, kulminiert in dem Satz im CDU-Antrag: „Zu den Reformen der Agenda 2010 gab und gibt es keine Alternativen.“ – Meine Damen und Herren, ich erinnere mich relativ gut an die Debatten im Jahre 2003 hier im Haus. Ich war hier damals, ganz frisch, auch etwas geschockt über die Diskussionen.
Ich bin immer noch frisch,aber damals war ich doch sehr erstaunt, wie Sie mit dem Thema umgegangen sind.
Sie wollten nicht das, was Sie gerade positiv bewertet haben, das Prinzip des individuellen Förderansatzes.
(Michael Boddenberg (CDU): Wir wollten die Feierlichkeiten von Herrn Hartz nicht haben, mit Tischen im Französischen Dom!)
Sie wollten nicht die Öffnung der Arbeitsmarktprogramme für Langzeitarbeitslose.Sie wollten nicht die Einbeziehung von schwer vermittelbaren Personengruppen in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Was Sie wollten, waren die Kürzung von sozialen Leistungen,
die Einsparung in der Sozialhilfe, die Etablierung eines Niedriglohnsektors, einer Working-Poor-Class wie in Wisconsin. Ihre Philosophie war: Nur wer arbeitet, bekommt auch zu essen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der CDU und der FDP)
Meine Damen und Herren, das war die Diskussion, die wir 2003 geführt haben. Herr Boddenberg, während auf Bundesebene der mühsame Prozess der Umgestaltung angegangen wurde, schwang sich der Hessische Ministerpräsident zum Don Quichotte in der deutschen Arbeitsmarktpolitik auf.
OFFENSIV-Gesetz, Existenzgrundlagengesetz – jede bundespolitische Initiative wurde sozusagen mit einer hessischen gekontert. Wir können alle nur heilfroh sein, dass sich damals die Koch-CDU in dieser Debatte nicht in der Gänze durchgesetzt hat. Bei den Sachen, die Sie umgesetzt haben, der verschärften Regelung zur Zumutbarkeit von Arbeit, in der Frage der schlechteren Zuverdienstmöglichkeiten, haben wir die Probleme bis heute zu spüren.Sie haben wesentlich dazu beigetragen,dass Hartz IV mit sozialer Schieflage verbunden wird. Das geht auf Ihr Konto.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Michael Bodden- berg (CDU):Welche Arbeit ist denn zumutbar?)
Meine Damen und Herren, in keinem anderen Bundesland wurde so heftig und so lange über die Organisationsform wie in Hessen gestritten.Wir haben nicht vergessen, dass Roland Koch der Verhandlungsführer der CDULänder bei der Verabschiedung der Grundsicherung und dort der Scharfmacher war, auch wenn wir in der jetzigen Debatte um die Neuordnung der Trägerschaft viele Gemeinsamkeiten haben.
Bedingt durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Arbeitsgemeinschaften haben wir heute die Suche nach einer neuen Organisationsform. Zwei Fragen sind ganz wesentlich:Welche Organisationslösung ermöglicht die beste Arbeit für und mit den Arbeitsuchenden, und welche Form bietet die beste Grundlage für die individuellen und nachhaltigen Integrationswege für die Menschen in Hessen? Das sind immerhin 450.000 Menschen in 218.000 Haushalten, die derzeit Leistungen nach dem SGB II beziehen.