Protokoll der Sitzung vom 09.04.2008

Wir sind sicher, dass alle Verantwortlichen – in Berlin, in Wiesbaden oder sonst wo – auch in Zukunft die Situation in Afghanistan beobachten und sensibel reagieren werden und dass die Einzelfallprüfungen nach wie vor entscheidend dafür sind, ob eine Rückführung zu verantworten ist oder nicht.Wir sind der Überzeugung, dass die jetzige Regelung, die auch gerichtlich abgesichert ist, vertretbar und richtig ist. – Besten Dank.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Bellino. – Nächster Redner ist Herr Kollege Weiß von der SPD-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich bin der Fraktion DIE LINKE dankbar dafür, dass sie im Sinne der Menschen aus Afghanistan, die in unserem Bundesland leben, einen sofortigen Abschiebestopp für afghanische Staatsangehörige beantragt hat.

Eigentlich hatte ich auch vor, der Fraktion DIE LINKE für die Mühe zu danken, die sie sich beim Zusammentragen der ausführlichen Begründung dieses Antrags gemacht hat. Diesen Dank muss ich allerdings an Herrn Rechtsanwalt Selbert aus Kassel weiterleiten, der bereits am 21. Februar einen Appell für einen Abschiebestopp geschrieben hat, den Sie in Ihrer Begründung 1 : 1 übernommen haben.

(Zurufe von der CDU:Aha!)

Aber ein guter Einfall ist eben wie ein Hahn am Morgen: Andere Hähne krähen gleich mit. – Das ist jedoch gar nicht schlimm, und ich werde mich davor hüten, das zu veralbern; denn das, worüber wir hier reden, ist zu ernst.

Es geht um das Schicksal von Menschen. Es geht nicht um einen Betrag von 500 c pro Semester oder um den Ausstieg aus der Tarifgemeinschaft der Länder. Es geht ganz konkret um die Frage von Leben und körperlicher Unversehrtheit, also um die höchsten Rechtsgüter, die wir kennen.

(Beifall bei der SPD)

Dies sage ich ganz besonders an die Adresse der neuen Abgeordneten gerichtet, die, wie ich, noch nicht mit Entscheidungen von solcher Tragweite befasst waren. Ihre Entscheidung hier und jetzt betrifft ganz konkret Menschen – z. B. Familien – in ihrer Existenz.

Frau Kollegin Schott hat auf die Einschätzung des Auswärtigen Amts hingewiesen: landesweite Gefahr von Attentaten, keine Gewährleistung von Ruhe und Ordnung, Gefahr von Entführungen, landesweit keine medizinische Versorgung.

In dem Antragstext ist auf § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes hingewiesen worden. Für diejenigen im Haus, die ihn nicht kennen, möchte ich ihn gern zitieren:

... darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

Die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan lässt es aus humanitären Gründen im Moment nicht zu, Afghanen ohne Aufenthaltstitel in ihr Heimatland abzuschieben. Besonders Frauen und Mädchen müssen dort in ständiger Angst vor Belästigungen, Vergewaltigungen oder Verschleppungen leben und können so gut wie nicht am öffentlichen Leben teilnehmen. Das ist die einhellige Meinung der Flüchtlingsorganisationen und des UNHCR.

Auch eine freie Religionsausübung ist praktisch nicht möglich.Afghanische Hindus und Sikhs werden diskriminiert und verfolgt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU-Fraktion, bei einem Übertritt zum Christentum muss man sogar mit der Todesstrafe rechnen,wie wir beim Konvertitenprozess um Abdul Rahman im letzten Jahr erleben mussten. Die Empörung über diesen Prozess war so groß, dass sogar die Vizefraktionschefin der FDP im Bundestag, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, einen befristeten generellen Abschiebestopp für afghanische Staatsangehörige gefordert hat.

Die Dringlichkeit eines solchen Abschiebestopps ist spätestens seit dem 7. Februar dieses Jahres gegeben. In dem Urteil des Hessischen VGH von diesem Tag, das bereits von meinen beiden Vorrednern erwähnt wurde, heißt es ausdrücklich – das ist auch in dem Begründungstext abgedruckt –:

Angesichts des Lebensalters und der Arbeitsfähigkeit des Klägers ist es nicht überwiegend wahrscheinlich, dass er wegen seiner wirtschaftlichen oder sozialen Situation sein Leben in Afghanistan verliert.

Angesichts des Lebensalters sei es nicht überwiegend wahrscheinlich, das Leben zu verlieren. Frau Kollegin Schott hat das Wort „zynisch“ verwendet. Mir fallen noch ganz andere Worte ein. Aber Sie haben es damit sehr gut getroffen.

Ich persönlich halte dieses Urteil für unerträglich. Da die Gefahr droht, dass die hessischen Verwaltungsgerichte dieser Linie des VGH folgen, ist es nur konsequent, wenn wir heute einen generellen Abschiebestopp beschließen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LINKEN)

Zum Schluss möchte ich noch einmal an die Kolleginnen und Kollegen von der CDU-Fraktion appellieren, sich diesem Antrag anzuschließen. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihren Kollegen in Hamburg, die zusammen mit der GAL, der Grün-Alternativen Liste, nicht nur – was sehr vernünftig war – ein längeres gemeinsames Lernen an den Schulen durchgesetzt haben, sondern sich mit ihr auch, wie es in den Koalitionsvereinbarungen gerade festgestellt worden ist, auf einen sofortigen Abschiebestopp für alle afghanischen Flüchtlinge verständigt haben. So die CDU Hamburg. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank,Herr Kollege Weiß.Auch hier war es die erste Rede in diesem Parlament. Auch Ihnen vom ganzen Haus herzlichen Glückwunsch.

(Allgemeiner Beifall)

Das Wort hat Frau Kollegin Öztürk für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Sehr verehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil es hier oben so schön ist,bin ich heute schon zum zweiten Mal da.Wie der Herr Kollege Weiß bemerkt hat:Was in Hamburg möglich ist, ist anscheinend in Hessen noch lange nicht möglich. – Ich habe keine Ahnung, woran das liegen mag. Wir machen den Versuch, dass die CDU heute mitgeht.

Es geht um Menschenrechte.Wir haben heute noch einen anderen Antrag. Ob wir den heute diskutieren werden, weiß ich nicht. Es geht um Tibet. Das heißt, Menschenrechte sind diesem Hause wichtig. Wir möchten nicht unterscheiden, sondern Menschenrechte sind Menschenrechte, auch in Afghanistan.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,der SPD und der LINKEN)

Die Fraktion DIE LINKE spricht das Thema an, das wir bereits im Petitionsausschuss oder auch in der Härtefallkommission in der vergangenen Legislaturperiode oft behandelt haben. Es geht um den Erlass aus dem Juli 2005, der den schönen Titel „Bleiberechtsregelung für afghanische Staatsangehörige sowie Rückführung afghanischer Staatsangehöriger“ trägt. Im Zuge der Umsetzung dieses Erlasses wurden vermehrt vor allem alleinstehende männliche afghanische Staatsangehörige zurückgeführt, wie es harmlos klingend heißt. Dahinter verbergen sich allerdings oft dramatische Situationen. Denn die Lage in Afghanistan hat sich nach wie vor nicht verbessert. Sie ist nach wie vor unsicher. Daher sind wir, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Meinung, dass man in dieses Land nicht abschieben kann und nicht abschieben sollte.Wir haben in der letzten Legislaturperiode mehrmals im Petitionsausschuss abgelehnte Petitionen von afghanischen Staatsangehörigen aus dem Abstimmungsblock herausgenommen und im Plenum getrennt abgestimmt, um hier unsere abweichenden Voten gemeinsam mit der SPD deutlich zu machen.Herr Kollege Bellino,daran möchte ich noch einmal kurz erinnern.

Ich wollte kurz erwähnen, dass es im Danesch-Gutachten den einen oder anderen Hinweis gibt. Ohne auf diese weiter einzugehen, möchte ich kurz auf die Reise von Herrn Bouffier eingehen. Im Interview mit dem „Gießener Anzeiger“ berichtete er von seiner Reise im November 2006 und meinte: „Wohl alle haben die Aufgabe und deren Dauer erheblich unterschätzt,“ – die Aufgabe in Afghanistan –, „denn Armut, Analphabetentum, Korruption und Seilschaften, aber auch Teile überholter Traditionen erschweren die Befriedung und Stabilisierung des Landes.“

(Minister Volker Bouffier: Stimmt!)

Herr Minister Bouffier, leider müssen wir feststellen, dass dies heute immer noch der Fall ist. An der Situation hat sich nichts verändert. Deswegen möchten wir den Abschiebestopp.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,der SPD und der LINKEN)

Allein in der ersten Märzwoche gab es vier Selbstmordanschläge, im Februar wurden allein in der Provinz Kandahar mehr als 100 Menschen durch Selbstmordattentate getötet. Seit Anfang 2007 sind in Afghanistan bei Kämpfen und Anschlägen über 6.500 Zivilisten und Armeeangehörige ums Leben gekommen.Analysten weisen darauf hin, dass nur ein Teil der Anschläge den Taliban oder religiös fundamentalistischen Gruppen ähnlicher Art zuzurechnen ist.Allein das World Food Programm unterstützt

7,3 Millionen Menschen in Afghanistan, die sich nicht selbst versorgen können.In diesem Land herrschen neben Unsicherheit auch Armut und Hungersnot. 2,5 Millionen Afghanen erleiden Hunger. Aufgrund dessen wollen wir nicht, dass in dieses Land abgeschoben wird. Das erwähne ich hier noch einmal.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Ich möchte auch kurz auf die Situation von Abschiebungsfällen eingehen, die Familien betreffen. Ohne familiäre Bindung werden die Betroffenen angesichts der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan großen Risiken ausgesetzt.Wir wissen alle,dass,wenn in diesen Ländern bestimmte Strukturen herrschen würden, wenn Verwandte Unterstützung leisten könnten, die abgeschobenen Personen einigermaßen sicher wären. Doch das ist oft nicht der Fall. Deswegen möchte ich daran erinnern, dass die Innenministerkonferenz in der nächsten Woche unbedingt noch einmal ihre Beschlusslage zur Rückführung afghanischer Flüchtlinge überdenken muss, und bitte heute auch die anderen Kollegen der CDU-Fraktion und der FDP-Fraktion, sich dem Antrag der LINKS-Fraktion anzuschließen. Wie gesagt: Es geht um Menschenrechte. Hier möchten wir keine Unterscheidung machen. Wenn dieser Antrag beschlossen würde, wäre das ein wichtiges Signal in die richtige Richtung. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,der SPD und der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Öztürk. – Jetzt hat Herr Kollege Rentsch für die FDP-Fraktion das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Schott, Sie haben heute ein Thema auf die Tagesordnung gesetzt, mit dem sich der Hessische Landtag und die zuständigen Ausschüsse in den letzten fünf Jahren sehr intensiv beschäftigt haben. Sie haben ein wenig den Eindruck vermittelt,als ob das hier kein Thema gewesen sei. Aber der Petitionsausschuss sowie die Härtefallkommission haben in den letzten fünf Jahren über viele Schicksale von Afghanen, die in ihr Heimatland zurückgeführt werden sollten und sollen, diskutiert und unterschiedlich entschieden. Ich sage Ihnen: Ich weiß, dass dieses Thema ein sehr sensibles Thema ist. Der Kollege Weiß hat auf Frau Leutheusser-Schnarrenberger hingewiesen, die für die FDP vor einiger Zeit – Herr Kollege Weiß,das ist allerdings schon etwas her;das sollte man dazusagen – einen Abschiebestopp gefordert hat.

Ich denke,es ist wichtig,dass sich der Landtag intensiv mit dem Thema Afghanistan beschäftigt. Ich will Ihnen zunächst einmal sagen: Die Kolleginnen und Kollegen des Petitionsausschusses und der Härtefallkommission haben in diesen Fällen in einer sicherlich sehr kontroversen Diskussion, aber immer nach bestem Wissen und Gewissen entschieden, wenn es um die Frage der Rückführung ging. Ich sage Ihnen auch, dass wir es uns in diesen Fragen nicht leicht gemacht haben. Aber wenn wir über die Frage diskutieren, wie wir mit Afghanistan umgehen und wie es in Afghanistan weitergeht, muss man aus meiner Sicht zunächst einmal eine Grundsatzfrage beantworten, nämlich die Grundsatzfrage: Werden die militärischen Einheiten, die wir zurzeit in Afghanistan haben,das Land wieder auf

bauen, oder kann dieses Land nur durch eine starke Zivilbevölkerung wieder zu einer friedlichen Situation zurückgeführt werden?

(Zuruf des Abg.Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage Ihnen ganz offen: Ich glaube nicht, dass Afghanistan in den nächsten Jahren in irgendeiner Form den Frieden erlangen kann, wenn in diesem Land nur das Militär regiert.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Deshalb muss es das Ziel sein, erstens die Zivilbevölkerung auch nach Afghanistan zurückzuführen und zum Zweiten diese Menschen auf dem zivilen Weg zu stärken und genau das zu machen, was sie gefordert haben: nicht das Militär zu stärken, sondern die Zivilbevölkerung. Beide Fragen müssen beantwortet werden.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU – Zuruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Ich glaube, dass die Bundesrepublik z. B. bei dem Thema Ex-Jugoslawien einen großen Fehler gemacht hat, viele dieser Menschen, die in einer Bürgerkriegssituation nach Deutschland gekommen sind, lange Zeit hierzubehalten und sie nicht zurückzuführen. Denn wer leistet die Aufbauarbeit in deren Heimatland, in Jugoslawien oder jetzt in Afghanistan?

(Willi van Ooyen (DIE LINKE): Die Bundeswehr!)

Es sind doch eben nicht die Soldaten der verschiedenen Länder, sondern es ist die Zivilbevölkerung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, um diese geht es.

(Zuruf des Abg.Willi van Ooyen (DIE LINKE))