Mich hat dieser Spruch sehr nachdenklich gemacht. Ich finde, er beschreibt die derzeitige Situation treffend. Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention vor drei Jahren weht der Wind der Veränderung immer stärker in Richtung gemeinsames Lernen und erfasst nach und nach alle Bundesländer, Regionen, Kreise und Kommunen.
Die Politiker, deren wichtigste Aufgabe es ist, Veränderungen aktiv zu gestalten, reagieren zumindest in Hessen sehr unterschiedlich: Konservative und Wirtschaftsliberale fürchten den Wind. Sie wollen keine Veränderung, sondern die bestehenden Verhältnisse, das derzeitige Bildungssystem erhalten. Deshalb beginnen sie, Mauern zu bauen, um den Wind abzuhalten, versuchen es mit Abwehr, Hinauszögern, Beschwichtigen, Vernebeln, Tricksen und Täuschen.
Die Oppositionsfraktionen dagegen – das gilt erst einmal für alle drei – wollen Windräder bauen, um den Wind einzufangen, um damit Energie zu erzeugen, um unser Bildungssystem gerechter zu machen.
Leider hat Schwarz-Gelb das Sagen, und Sie entscheiden, dass die Gelder in Mauern investiert werden.
Windräder verbieten Sie einfach, so wie vor grauer Vorzeit der König im Märchen „Dornröschen“ alle Spinnräder aus dem Land schaffen ließ und damit eine Hungersnot herbeiführte.
Zwei Fraktionen haben das Thema „Inklusion“ in dieser Plenarwoche als Schwerpunkt gewählt. Die GRÜNEN haben einen guten Antrag vorgelegt.
Er greift vor allem die Kritik an der VOSB auf und stellt sich an die Seite derer, die – auch anlässlich des dritten Jahrestages – gegen den bisherigen Umgang mit der UNBehindertenrechtskonvention protestieren. Diese Sicht teilen wir uneingeschränkt. Inzwischen scheint die Verordnung ja vom Tisch zu sein – erst einmal ein Riesenerfolg des LEB und von allen anderen Gegnern der Exklusionspolitik der Landesregierung. Was das für die Schulen zum neuen Schuljahr bedeutet, ist noch gar nicht abzusehen und wird vermutlich ein hausgemachtes Drama ohnegleichen sein.
Leider ist der Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der alten Sicht von Inklusion als Behindertenpolitik verpflichtet, anstatt Inklusion ganzheitlich zu betrachten. Aber das ist der einzige Punkt.
(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Die GRÜNEN sind reaktionär, das ist unglaublich! – Gegenruf des Abg. Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und das von Ihnen!)
Im letzten Jahr legten wir zehn Eckpunkte für eine gerechte Bildungspolitik und daraus folgende Konsequenzen für die Schulgesetznovelle vor. In Punkt 7 forderten wir den Aufbau eines inklusiven Gemeinschaftsschulsystems und beschrieben, wie ein solches Schulsystem aussehen kann.
In welcher Situation legen wir heute den Antrag vor? – Inzwischen gilt ein neues Schulgesetz. Es postuliert zwar das Recht auf den Besuch der allgemeinen Schule für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, löst diesen Anspruch aber in keinster Weise ein; Herr Wagner ist darauf schon eingegangen. Eine ominöse Verordnung sollte die weiteren Details regeln. Aber auch deren neuester Entwurf war völlig ungeeignet und traf auf den erbitterten Widerstand von Eltern, Schülern, GEW und natürlich auch von uns. Es erübrigt sich, die Verordnung jetzt und hier auseinanderzunehmen, keiner weint ihr eine Träne nach.
Es ist zu hoffen, dass ein neuer Entwurf endlich bestimmten Anforderungen genügt. Er muss den Eltern, die ihr Kind nicht auf einer Förderschule einschulen wollen, eine tatsächliche Hilfe sein und dieses Recht auch garantieren. Der Ressourcenvorbehalt muss fallen, die Stundenzuweisungen müssen erhöht werden, die Förderschullehrer müssen zum Stammpersonal der Regelschule gehören, und das förderdiagnostische Gutachten, das der Planung der individuellen Förderung dient, muss wieder her.
Die bisher in der Verordnung niedergelegten Regeln muss man deutlich als von Ihnen bewusst errichtete Mauern kennzeichnen, die die Segregation, die Ausgrenzung
fördern und gemeinsames Lernen verhindern sollen, die den Wind der Veränderung eben nicht durchlassen sollen.
Was sagt die Kultusministerin dazu? Sie sagte 2010: „Die Inklusion ist in Hessen auf einem guten Weg.“
Mittlerweile schreiben wir das Jahr 2012, und am 19. März dieses Jahres hat sie gebetsmühlenartig wieder verlauten lassen: „Die Inklusion ist in Hessen auf einem gutem Weg.“
Aber das Gegenteil ist der Fall. Hessen ist geradewegs auf dem Weg in die bildungspolitische Steinzeit, Herr Irmer.
Denn was wir brauchen, ist eine gänzlich andere Bildungspolitik. Wir müssen mutig den neuen Herausforderungen begegnen, und wir müssen dafür Geld in die Hand nehmen. Der Bertelsmann-Vertreter Jörg Dräger spricht für Hessen dabei von rund 27 Millionen €.
(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der war mal CDU-Minister! Aber Sie wissen ja, wie das mit den Geisterfahrern ist, Herr Irmer!)
Ich bin mir sicher – da unterscheiden wir uns in der Einschätzung vielleicht von den GRÜNEN –, selbst wenn die Umkehr kostenneutral zu haben wäre, würden Sie weiter mauern. Denn der Widerstand gegen eine Umkehr geht bei Ihnen doch viel tiefer, ist viel grundsätzlicher. Wirkliche Inklusion fürchten CDU und FDP doch wie der Teufel das Weihwasser. Das Konzept „Inklusion“ weist nämlich über diese Gesellschaft hinaus.
Meine Damen und Herren, es hat gesellschaftspolitische Sprengkraft, und das wissen Sie genau. Das fürchten Sie, und daran werden Sie meines Erachtens letztlich scheitern. Nicht umsonst haben gewisse Ewiggestrige Schaum vor dem Mund, wenn sie versuchen, gebetsmühlenartig das Konzept der inklusiven Schule, der einen Schule für alle, der Gemeinschaftsschule durch den Vergleich mit einer frei fantasierten Einheitsschule zu diskreditieren.
Damit setzen sie auf verstaubte antikommunistische Ressentiments, auf die Furcht vor Nivellierung, vor Gleichmacherei. Sie hoffen darauf, dass bildungsinteressierte Eltern sich abheben wollen von den sogenannten Losern, den Bildungsverlierern. Sie vertrauen darauf, dass der Spruch „Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will“ immer noch als Weisheit für die gilt, die aufsteigen wollen.
Sie sehen das Gymnasium, wo viele die Begriffe Portfolio oder Binnendifferenzierung gar nicht kennen oder immer noch für Teufelszeug oder zumindest für Fremdwörter halten, als den Hort der Glückseligkeit, dort, wo die Welt noch in Ordnung ist, wo sich mithilfe von Noten und Zeugnissen die Spreu vom Weizen trennt. Das ist Ihre kleinkarierte Welt. Meine Welt ist eine andere, die ist gerade im Entstehen.
Wenn Sie schon nicht mehr zu den Podiumsdiskussionen erscheinen, Herr Irmer, waren Sie vielleicht einmal auf einer der Protestkundgebungen, die es in den letzten Tagen und Wochen landauf, landab im ganzen Hessenland fast täglich gegeben hat? Sie sehen dort vielfältige und kreative Protestaktionen von Alt und Jung, von Lehrern, Eltern, Schülerinnen und Schülern. Diese neue Welt scheint kurz auf, wenn z. B. ein Moderator im Rollstuhl den Großkopferten das Wort erteilt, wenn wie gestern eine Band aus blinden und sehenden Musikern die Demo in Schwung bringt und wenn das Motto: „Nichts über uns ohne uns“ Realität wird.
Genau da setzen wir mit unserem Antrag an, Herr Irmer. Wir beschreiben pädagogische, sozialpolitische und ethische Prinzipien einer Schule für alle und fordern die Landesregierung auf, erstens die eigenen Hausaufgaben zu machen, also die Schulen gut auszustatten sowie Gesetze, Verordnungen, Curricula und Bildungsstandards anzupassen und dafür einen breiten Dialog herzustellen, zweitens sämtliche Ressourcen von Land und Kommunen offenzulegen, um eine bedarfsgerechte Planung zu ermöglichen, drittens Kreise und Kommunen bei dem Umbau zu unterstützen, viertens die Kreise und Kommunen mit ausreichenden Mitteln auszustatten, fünftens sich im Bundesrat für das Anliegen der Inklusion einzusetzen und sechstens gegenüber der Bundesregierung ein Programm zur Umsetzung inklusiver Bildung und umfassender Barrierefreiheit in der Kita und Schule aufzulegen.
Ich weiß, das ist ein umfassender Aufgabenkatalog, so umfassend, dass ich befürchte, dass Sie sich dieser komplexen Materie am liebsten gar nicht erst stellen wollen. Aber Ihr übliches überhebliches Zur-Seite-Wischen sollten Sie dieses Mal nicht praktizieren. In Zeiten wie diesen, wo wir unscheinbare Kandidaten gegen Minister siegen sehen, können Sie sich Hybris nicht mehr leisten.
Sie sollten auch die hessischen Eltern nicht unterschätzen, Herr Irmer. Sie müssten wahrgenommen haben, dass viele Eltern aus dem klassischen Bildungsbürgertum ihr Kind ganz bewusst an einer Gesamtschule anmelden statt an einem Gymnasium.
Alle Eltern profitieren von einem inklusiven Bildungssystem, aber ganz besonders und unmittelbar die, die arm sind und sich die teure Nachhilfe nicht leisten können, die Mütter oder Väter, die ihr Kind allein erziehen und entweder gar nicht oder nur stundenweise für wenig Geld arbeiten, weil sie ihr Kind mittags abholen müssen, die Eltern, die wollen, dass ihr behindertes Kind zusammen mit nicht behinderten Kindern aufwächst, und die Eltern, die ihrem Kind selbst nicht viel helfen können, weil sie nicht ausreichend gut Deutsch können und sich nicht genug auskennen. Eigentlich profitieren alle Eltern von so einem inklusiven Bildungssystem.
Ich möchte enden mit den Worten einer Mutter dreier nicht behinderter Kinder, die sich inzwischen mit aller Kraft in einer Offenbacher Elterngruppe für die Inklusion einsetzt. Sie sagt:
Es fehlt an Mitteln und am politischen Willen zur grundlegenden Umgestaltung des Aktionsraums Schule. Wir fordern, den Schutzraum, auf den die
Förderschule so stolz ist, an jede Schule zu verlegen. Und seien wir ehrlich, den Schutzraum, in dem eine individuelle Entwicklung ohne Angst möglich ist, braucht jedes Kind, nicht nur das mit dem speziellen Förderbedarf. Wir sehen die Etablierung des Schutzraums in jeder Schule als eine Verpflichtung an, die wir beim Kultusministerium einfordern.