Als letztes Beispiel möchte ich eine Formulierung im Antrag der SPD erwähnen, die für mich doch sehr entlarvend ist. Sie kritisieren, dass wir einen Kostenvorbehalt im Aktionsplan haben, und führen an, das widerspreche der Konvention, da die Konvention vom Ausschöpfen aller verfügbaren Mittel spreche. Da wird für meine Begriffe ein falscher Widerspruch konstruiert.
Um es präziser auszuführen: Da wird ein Widerspruch konstruiert, der so nicht exakt ist. – Im Haushalt sind die für uns verfügbaren Mittel aufgenommen. Ich habe dargestellt, dass wir die Mittel deutlich erhöht haben. Wenn Sie mit der typischen Oppositionsrhetorik kommen und sagen: „Das ist alles noch viel zu wenig“, und wenn Sie am Ruder wären, gäbe es noch viel mehr, dann wecken Sie Erwartungen, die Sie nicht erfüllen können.
Damit eines klar ist: Die Landesregierung und die Koalition von CDU und FDP setzen die UN-Behindertenrechtskonvention mit einem Engagement um, an dem sich andere Länder ein Beispiel nehmen können. Wir haben nicht nur diesen Plan entwickelt, an dem jetzt gearbeitet wird. Herr Dr. Spies, was Sie nicht erwähnt haben, ist, der Plan geht umfassend auf alle Lebensbereiche ein, die wir gestalten müssen, um zu einer inklusiven Gesellschaft zu kommen. Ich darf die Zahlen einmal kurz nennen. Er beinhaltet mehr als 350 Einzelmaßnahmen, über 200 Einzelziele und über 70 übergeordnete Grundsatzziele.
Ich möchte den Schulbereich ausklammern, weil wir schon sehr häufig über dieses Thema gesprochen haben, und deswegen ein paar andere Aspekte ansprechen. Die Zahlen auf
dem Arbeitsmarkt, die Sie eben zitiert haben, sind korrekt. Aber wir haben schon Maßnahmen ergriffen, um dem entgegenzuwirken. Ich darf darauf hinweisen, dass die Landesregierung eine Zielvereinbarung mit allen 16 Optionskommunen getroffen hat, die genau dieses Problem angehen und insbesondere auch die Rehabilitation von SGB-IIEmpfängern verbessern soll.
Ein weiterer Punkt ist, wie letzte Woche angekündigt wurde, der dritte Baustein des Projekts Initiative Inklusion, wo gemeinsam mit den Verbänden, den Kammern, IHKs, Handwerkskammern, der Arbeitsagentur und allen relevanten Vertretern aus diesem Bereich an Maßnahmen gearbeitet werden soll, wo zusätzliches Geld aus der Ausgleichsabgabe eingestellt wurde, um zu innovativen Lösungen zu kommen, wie Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen können.
Übrigens wird das auch vom Landeswohlfahrtsverband umgesetzt. Unterschrieben hat diese Vereinbarung der Erste Beigeordnete des Landeswohlfahrtsverbandes, unser ehemaliger Kollege Dr. Jürgens, bekanntermaßen ein GRÜNER und nicht unbedingt ein großer Freund von CDU und FDP.
Aber auch für andere Bereiche wie den Kita-Bereich oder zur Frage der Barrierefreiheit werden in dem Plan Ziele formuliert, die sehr engagiert und jetzt schon konkretisiert angegangen werden. Ich möchte – weil eine Redezeit von zehn Minuten bei allem, was wir schon unternehmen, durchaus kurz sein kann – nicht nur Zahlen vortragen oder Pressemitteilungen vorlesen, die die Landesregierung abgesetzt hat. Das bekommen Sie alles selbst, Sie sind alle auf dem Verteiler.
Gestatten Sie mir deswegen, am Ende noch einige grundsätzliche Bemerkungen zu unserem Verständnis von Inklusion als Liberale zu machen. Ich bin der Auffassung, wir sollten zu einer Offenheit der Systeme kommen, und wir sollten uns davon verabschieden, nur ein System für die Betroffenen als das richtige anzusehen, sondern die Bedürfnisse des Einzelnen stärker in den Mittelpunkt rücken.
Lassen Sie mich das am folgenden Beispiel verdeutlichen. Wir haben mit unserem Sozialarbeitskreis in diesem Sommer viele Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern von Institutionen, von Verbänden, auch von Gremien von Menschen mit Behinderungen, in denen die sich engagieren, geführt. Ich möchte Ihnen eines berichten. Wir haben unter anderem mit Vertretern von der Blindenstudienanstalt in Marburg gesprochen. Das ist eine sehr renommierte, bundesweit fast einzigartige Institution, in der Blinde und sehbehinderte Menschen so gut gefördert werden wie kaum sonst wo in diesem Bundesgebiet.
Aber man muss auch sagen: Diese Schule richtet sich natürlich an einen speziellen Kreis der Menschen mit Behinderungen, nämlich an Menschen mit Sehbehinderung. Es findet natürlich im Alltag dieser Schule per Definition keine Interaktion mit nicht behinderten Schülern statt.
Insbesondere im Raum Frankfurt gibt es sehr engagierte Elterninitiativen. Deren Vertreterinnen und Vertreter, die sozusagen die Maximalforderung hinsichtlich der Inklusion verwirklicht sehen wollen, lehnen diese Schule ab. Sie fordern, diese Schule als ein spezielles System zu schlie
ßen. Es kann aber doch niemand ernsthaft wollen, dass wir die Kompetenzen aufgeben, die es an dieser Stelle gibt.
Sie sollten sich einmal mit Schülerinnen und Schüler dieser Institution länger unterhalten. Ich glaube, dass sich sozusagen ein Nebeneinander der Regelschule und solcher spezialisierter Institutionen herausbilden muss. Es kann z. B. sein, dass ein Schüler erst einige Jahre auf die Blista geht und dort spezielle Kompetenzen erlernt. Damit wird er dann befähigt, am Regelunterricht teilzunehmen. Umgekehrt kann es vielleicht auch sein, dass ein Schüler in einer Regelschule nicht folgen kann, dann einmal in eine Spezialschule wechseln muss, wie es z. B. die Blista ist, und dann vielleicht nach einigen Jahren wieder die Möglichkeit zum Querwechseln hat. Dieses Hin und Her, die Offenheit zwischen den beiden Systemen ist, so denke ich, der Leitgedanke, den wir bei der Inklusion verwirklichen sollten.
Ein ähnliches Beispiel gibt es auf dem Arbeitsmarkt. Um die Werkstätten wird sehr stark gerungen. Wir hatten eine Diskussion darüber in diesem Landtag. Natürlich sind Werkstätten Spezialsysteme. Natürlich gibt es in Werkstätten auch Probleme. Auf der anderen Seite müssen wir, wenn wir möglichst viele Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt bringen wollen, die eine Behinderung haben, anerkennen, dass es in den Werkstätten bestimmte Kompetenzen gibt und dass wir dieses Angebot für Menschen mit bestimmten schweren Mehrfachbehinderungen aufrechterhalten müssen.
Das heißt, auch hier kann es sein, dass einige vielleicht gar nicht Fuß fassen. Vielleicht gibt es aber auch welche, die auf dem Arbeitsmarkt schon Fuß gefasst haben, die aber, wenn sich ihre Lebensumstände verschlechtern, froh sind, dass sie einige Jahre in einer Werkstatt arbeiten können. Es geht also um ein offenes System, bei dem der Querwechsel zwischen den beiden Systemen möglich sein muss.
Abschließend möchte ich sagen: Lassen Sie uns die Inklusion nicht ideologisch betreiben, sondern lassen Sie uns die Bedarfe des Einzelnen in den Mittelpunkt rücken. Dafür steht diese Koalition. In diesem Geiste haben wir unseren Aktionsplan erstellt. In diesem Geiste füllen wir ihn jetzt mit Leben, damit jeder Mensch in Hessen die bestmögliche Förderung und größtmögliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bekommen kann. – Vielen Dank.
Herr Mick, vielen Dank. – Ich darf jetzt Frau Schulz-Asche für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort erteilen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 hat sich die Politik, aber auch die Gesellschaft verpflichtet – ich zitiere –,
versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren.
Eine inklusive Gesellschaft bedeutet, dass jeder Mensch als Individuum anerkannt ist. Zuschreibungen hinsichtlich des Alters, des Geschlechts, des Migrationshintergrundes, Beeinträchtigungen, Religionszugehörigkeit oder sozialer Herkunft sollen keinen Einfluss mehr auf die Frage haben, ob es gesellschaftliche Teilhabe gibt oder nicht. Das heißt, das ist eine Gesellschaft, in der die Bedingungen in jeder Hinsicht so gestaltet sind, dass alle Menschen, unabhängig davon, ob sie beeinträchtigt sind oder nicht, ohne besondere Anpassungsleistungen und ohne jede Diskriminierung zusammenleben können. Inklusion bedeutet volle, gleichberechtigte und wirksame Teilhabe aller Menschen von Anfang an.
Diese Freiheit meint nicht nur die bürgerlichen Rechte, wie etwa die Wahlfreiheit oder die Berufs- und die Gewerbefreiheit. Sie meint die Freiheit in allen Lebensbereichen. Jedes Individuum hat unabhängig von seinen persönlichen Merkmalen nur aufgrund seines Menschseins das gleiche Recht und den gleichen Anspruch auf Würde, barrierefreien Zugang zu Produkten und Dienstleistungen und die gleichen Rechte auf Teilhabe an der Gesellschaft. Es geht um die gleiche Freiheit für jede und jeden, etwas aus ihrem bzw. seinem Leben machen zu können. Es geht darum, frei wählen zu können. Es geht um ein selbstbestimmtes Leben und die gleichen Lebenschancen für alle.
Für das Ziel, die inklusive Gesellschaft zu erreichen, brauchen wir einen Perspektivwechsel. Wir müssen uns eine neue Kultur des inklusiven Denkens und Handelns auf allen gesellschaftlichen Ebenen erarbeiten.
Im hessischen Aktionsplan verweist die Landesregierung in der Einleitung darauf, dass die schrittweise Verwirklichung inklusiver Lebensbedingungen im Gemeinwesen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und der Aktionsplan nur den Rahmen und die Orientierung vorgeben könne. Der Aktionsplan sei ein wesentlicher Baustein im Hinblick auf eine inklusive Gesellschaft, müsse aber durch viele Aktivitäten und Initiativen auf allen gesellschaftlichen Ebenen ergänzt und mit Leben gefüllt werden.
Das ist natürlich erst einmal richtig. Wie bereits gesagt, sehen auch wir, dass die Inklusion uns alle angeht und Schritt für Schritt erfolgen wird. Doch trägt der Aktionsplan der Hessischen Landesregierung weder den Erwartungen, die mit der Vorlage eines Aktionsplans verbunden sind, noch den Anforderungen Rechnung, die aufgrund der Behindertenrechtskonvention an einen Landesaktionsplan gestellt werden müssen.
Er bleibt in weiten Teilen völlig beliebig und oberflächlich. Er ist im Grund genommen mehr eine Bestandsaufnahme und eine Zusammenstellung der Aufgabenbeschreibungen. Es gibt keine konkreten und zeitlich terminierten Handlungsempfehlungen. Man braucht aber, um ein solches
Projekt umzusetzen, eine aktive Landesregierung, die sich engagiert und die tatsächlich versucht, alle zu Zusagen zu bringen. Aber leider ist die Landesregierung auch in diesem Bereich erschöpft und verbraucht.
Tatsache ist doch, dass in Hessen immer noch zu viele Menschen von der gleichberechtigten Teilhabe sowohl am politischen als auch am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben ausgeschlossen sind. Deshalb sind konkrete Schritte einzuleiten, um Barrieren und Hemmnisse abzubauen.
Lassen Sie mich drei Bereiche exemplarisch herausgreifen. Wir haben auch in Hessen immer mehr Menschen mit Behinderung, die arbeitslos sind. Wir haben in Hessen 2.330 Unternehmen, also Arbeitgeber, die keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen.
Was steht dazu im Aktionsplan? Dort steht, Ziel sei die Verringerung der Arbeitslosigkeit der behinderten Menschen. Das solle „ab sofort“ in Angriff genommen werden. Doch was tatsächlich getan werden soll, bleibt leider völlig unverbindlich.
Wie sieht es hinsichtlich eines barrierefreien Zugangs im Gesundheitswesen aus? – Es ist schön, dass das als Daueraufgabe gesehen wird. Doch wo bleiben die konkreten Handlungsschritte? Ein Beispiel aus dem Aktionsplan ist die Anregung der Durchführung einer Veranstaltungsreihe zum Thema „barrierefreie Arztpraxis“ bei der Landesärztekammer Hessen.
Wir haben eine alternde Gesellschaft. Wir haben immer mehr alte Menschen, die nicht von Geburt an behindert sind, sondern die im Laufe ihres Lebens z. B. beim Gehen beeinträchtigt werden. Sie kommen mit Rollatoren nicht in die Arztpraxen. Da kann doch eine solche einzelne Veranstaltung nicht die Lösung sein. Es ist doch notwendig, dass wir endlich dafür sorgen, dass es genügend barrierefreie Praxen, über Hessen verteilt, gibt, in denen sich diese Menschen tatsächlich medizinisch behandeln lassen können.
Wir brauchen Beschäftigte im Gesundheitswesen, die in der Lage sind, mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen umzugehen. Das gilt für die Ärzte und die Ärztinnen. Das gilt aber auch für das Pflegepersonal. Meine Damen und Herren, da wird doch deutlich, dass Sie keine wirklichen Schritte unternehmen, um diese Probleme zu lösen.
Ich möchte noch einen Bereich nennen, der mir in diesem Zusammenhang besonders am Herzen liegt. Es gibt sehr viele behinderte Frauen, die im Rollstuhl sitzen und die kaum Zugang zu gynäkologischen Untersuchungsmöglichkeiten haben. Ich finde, das ist in Zeiten, in denen wir über Inklusion reden, tatsächlich ein Skandal.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Barbara Cárdenas (DIE LINKE))
Wie sieht es mit der Inklusion in der Schule aus? Es entsteht der Eindruck, dass Schwarz-Gelb das Thema Inklusion durch eine chaotische und in der Ausstattung unzureichende Umsetzung bewusst zum Scheitern bringen will. Eine solche ideologische Politik auf dem Rücken der Schülerinnen und Schüler finde ich schäbig.
Es gibt zahlreiche Hindernisse, die die Landesregierung einer erfolgreichen Inklusion an den Schulen in den Weg legt. Die Zahlen zeigen uns, dass noch immer zu viele Kinder mit Förderbedarf an den allgemeinbildenden Schulen abgewiesen werden.
Die Regierung müsste diesen Fakten endlich Taten entgegensetzen, anstatt immer nur zu erzählen, dass alles gut sei. Bereits Anfang des Jahres 2011 haben wir GRÜNEN eine detaillierte Gesetzesinitiative zur Umsetzung der Inklusion in den Schulen in den Landtag eingebracht. Darin waren sowohl konkrete Maßnahmen, als auch ein detaillierter Zeitplan und machbare Umsetzungsschritte beschrieben. All das fehlt von der Landesregierung nicht nur in den Schulen. Vielmehr ist der Aktionsplan ein weiteres Beispiel dafür, dass Sie nicht in der Lage sind, so detailliert die Maßnahmen zu planen.