Protokoll der Sitzung vom 12.12.2012

Lassen Sie mich an dieser Stelle vorab feststellen, dass die Konvention der Vereinten Nationen die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen konkretisiert. Sie schafft gar nichts Neues, sondern sie ist eine Präzisierung dessen, was ohnehin Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte ist und was das Grundgesetz in Art. 1 sehr konkret festgelegt hat. Daraus folgt, dass die gesellschaftlichen Bedingungen dafür geschaffen werden müssen, allen Menschen gleiche gesellschaftliche Teilhabe überall in diesem Land zu ermöglichen. Darum geht es.

Menschen sind nicht behindert, Menschen werden behindert. So formuliert es auch die Konvention, wenn sie feststellt, dass Behinderung entsteht, wenn Menschen mit Beeinträchtigungen auf einstellungs- oder umweltbedingte Barrieren stoßen, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilnahme am Gesellschaftsleben hindern.

Meine Damen und Herren, das betrifft alle Lebensbereiche. Nicht Menschen mit Behinderungen müssen sich anpassen – das Gemeinwesen muss sich anpassen, um diese Möglichkeit zu eröffnen.

Die Sozialpolitische Kommission der Friedrich-Ebert-Stiftung für Hessen hat sehr präzise formuliert, was unter Inklusion zu verstehen ist. Inklusion bezieht sich auf alle Aspekte von Verschiedenheit und geht damit letztendlich weit über den Begriff der Arbeit für Menschen mit Behinderungen hinaus. Denn die Behinderung selbst stellt immer nur einen Subaspekt dar.

Integration zielt primär auf Behinderung und darauf, wie eine Exklusion wieder zu überwinden ist. Inklusion will dagegen Menschen mit Behinderungen von vornherein Zugang und Teilhabe an allen relevanten Punkten ermöglichen. Deshalb ist letztendlich der Begriff der Inklusion weit mehr als ein Bestandteil der Behindertenpolitik. Er ist ein gesellschaftliches Leitbild, das die Teilhabe aller Menschen an allen Errungenschaften unserer Gesellschaft in unserer Zeit ermöglichen sollte. Er ist viel mehr als nur Behindertenpolitik.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wie bekommt man das? Demokratie und Inklusion haben viel gemeinsam. Sie sind nie da. Man muss sie lernen. Man muss ein passendes Bewusstsein entwickeln. Sie müssen täglich neu erarbeitet werden, weil natürliche Trägheiten ihnen entgegenstehen. Sie sind nicht durch einen Federstrich oder einen Aktionsplan umgesetzt, sondern sie können nur kooperativ und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Nur so entsteht Inklusion, weil wir wie beim demokratischen Bewusstsein

beim inklusiven Bewusstsein eine gesellschaftliche Grundauffassung brauchen.

Das alles muss man tun, aber genau das tut die Landesregierung leider nicht. Das beste Beispiel, wo ein unmittelbares Handeln so einfach, so bequem und so unaufwendig möglich wäre, ist das Hessische Gleichstellungsgesetz, bei dem die Landesregierung weiterhin jede Initiative verweigert, die Geltung des Rechts auf Barrierefreiheit auch auf die kommunale Seite auszudehnen.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich an der Stelle sehr deutlich sagen: Das hat auch nach dem Urteil zur Mindestverordnung gerade nichts mit der Konnexität zu tun, weil wir nicht über eine neue Auflage reden, sondern über eine Konkretisierung geltenden Rechts,

(Petra Fuhrmann (SPD): So ist das!)

das die Kommunen ohnehin einhalten müssen. Nur weil sie sich an die schlüssigen Folgerungen aus der Menschenwürde und der UN-Behindertenrechtskonvention nicht immer angemessen halten, ist landesgesetzgeberisches Handeln gefordert. Sie kämen auch nicht auf die Idee, dass die Einführung von Brandmeldern in öffentlichen Gebäuden ein Gegenstand der Konnexität wäre, sondern das ist sachlich geboten.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wenn der Inklusionsgedanke handlungsleitendes Recht ist, dann ist auch die Lösung über Modellprojekte hier, da und dort keine adäquate Antwort auf die Anforderungen, die die UN-Behindertenrechtskonvention an uns stellt. Denn es geht gerade nicht um Modelle, mit denen man einmal etwas ausprobiert, sondern darum, handlungsleitendes Recht in allen Lebensbereichen umzusetzen.

Das Thema inklusive Schule hatten wir hier hinreichend und oft genug. Lassen Sie mich feststellen: Hier werden ganz sicherlich nicht die gebotenen Unterstützungen durch die Landesregierung bereitgestellt, die nötig wären, um eine inklusive Schule zu schaffen, die jedem Kind Wahlrecht in Bezug auf den Schulbesuch eröffnet, die allen Eltern die Möglichkeit eröffnet, selbst zu entscheiden, unter welchen Bedingungen, in welcher Schule ihr Kind erzogen werden soll. Davon ist die Landesregierung weit entfernt.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Barbara Cárdenas (DIE LINKE))

Es fehlt jede konkrete Sozialraumorientierung in den Überlegungen der Landesregierung.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf die Sozialpolitische Kommission zurückkommen, die feststellt: Gerade die kleinräumigen Stadtquartiere haben den direkten lebenswirklichen Einfluss auf das soziale Handeln und sind für die sozialen Ressourcen und Teilhabemöglichkeiten von Menschen von besonderer Bedeutung.

Gerade die Individualisierung des Ansatzes der Landesregierung, die nur auf die Menschen mit Behinderungen als Einzelne zielt und gerade nicht die strukturellen gesellschaftlichen Aspekte berücksichtigt, verkennt die Bedeutung des unmittelbaren Sozialraums für die Inklusion. Deshalb gibt es auch hier erheblichen Handlungsbedarf.

Nein, meine Damen und Herren, der Aktionsplan der Landesregierung hat keine Vision, kein Leitbild, kein Pro

zessverständnis, und genau daran krankt er. Denn wer nicht weiß, wo er hin will, tut sich schwer, den Weg zu finden.

(Beifall bei der SPD)

Dieser Aktionsplan kann deshalb zu jedem Zeitpunkt nur Entwurf sein, nicht nur weil Inklusion eine dauerhafte Herausforderung und ein ständiger Prozess ist, sondern weil ihm auch gerade an dieser Stelle Klärungen der Zieloptionen fehlen. Genau deshalb muss daran unmittelbar weitergearbeitet werden.

Dem steht übrigens die Konkretisierung durch operationalisierte Ziele – die fehlen dem Aktionsplan leider auch – überhaupt nicht im Weg. Nötig wäre, konkrete operationale Ziele in den Blick zu fassen, deren erfolgreiche Erreichung tatsächlich überprüfbar werden kann. Warum hat die Landesregierung so viel Angst davor, einen Plan vorzulegen, an dem man in ein paar Jahren einmal schauen kann, wie weit wir von den vorgeschlagenen Schritten im Hinblick auf Inklusion gekommen sind? Nicht ohne Grund nennt der VdK-Vorsitzende in Hessen-Thüringen den Aktionsplan der Landesregierung einen zahnlosen Tiger. Recht hat Herr Schlitt.

(Beifall bei der SPD)

Oder die Inklusion im Arbeitsmarkt. Auch hier gibt es einen erheblichen, einen massiven Handlungsbedarf, weil schon die wenigen zur Verfügung stehenden Optionen, konsequent dafür zu sorgen, dass Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt unter Bedingungen Arbeit finden, die ihnen entsprechen, ihnen nicht angemessen zur Seite stehen. Unbestritten erfüllt die Landesregierung die vorgesehenen Quoten mehr als erforderlich. Alles andere wäre auch kaum zu ertragen, wenn das Land an dieser Stelle nicht mit gutem Beispiel voranging.

Dennoch hat die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten in den letzten fünf Jahren um 30 % zugenommen. Dennoch haben 60 % der privaten Arbeitgeber überhaupt niemand mit Schwerbehinderung beschäftigt. Dennoch wird die Quote mit 4,4 % deutlich unterschritten.

Meine Damen und Herren, eine Frage, an der dringend zu arbeiten wäre, ist die Frage der Rehabilitationskompetenz für die SGB-II-Bezieher, die in keiner Weise geregelt ist und womit Chancen vertan werden, Menschen zurück in Arbeit zu bringen, die viel helfen könnten. Nötig wäre die Option zur Beteiligung und Selbstinteressenwahrnehmung der Betroffenen, d. h. eine Ausstattung der Selbsthilfe, die Verhandlungen auf Augenhöhe mit anderen Akteuren ermöglicht.

Wir sind meilenweit davon entfernt, dass die Vertretung von Menschen mit Behinderung die Interessen von Menschen mit Behinderung nicht nur wahrnehmen darf, sondern auch wahrnehmen kann. Darauf kommt es an.

(Beifall bei der SPD)

Nötig ist eine Regelung, die den Aktionsplan zu einem kontinuierlichen Prozess macht und die unter Integration der Fachkundigen wie der Selbsthilfe und der Betroffenen einen kontinuierlichen Diskurs über Weiterentwicklung auf Ziele hin ermöglicht, die allerdings erst noch zu formulieren wären.

Herr Dr. Spies, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ich komme zum Schluss. – Das mangelnde Interesse der Landesregierung und ihr fehlendes Engagement, ihre Verweigerung klarer prüfbarer Ziele und ihre Angst vor der Messung, ihre Angst vor every space politics, ist eigentlich nicht nur unangemessen. Sie ist auch töricht. Menschen mit Behinderung bieten dieser Gesellschaft Potenziale, die nicht zu nutzen eine Verschwendung ist, die wir uns auch gar nicht leisten können. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Danke sehr, Herr Dr. Spies. – Ich darf Herrn Mick das Wort für die FDP-Fraktion erteilen.

(Zuruf des Abg. Hans-Christian Mick (FDP))

Sie sind gemeinsam mit der CDU Antragsteller. Sie haben sich als Zweiter gemeldet. Deshalb dachte ich, ich dürfte Ihnen das Wort erteilen.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Sie können auch darauf verzichten!)

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Verbesserung von Teilhabe, die Gewährleistung von Inklusion und die Umsetzung von Inklusion von Menschen mit Behinderung ist auch ein Ziel, das uns fraktionsübergreifend eint. Daran habe ich überhaupt keinen Zweifel. Deswegen muss ich mich über den Duktus der Rede vom Kollegen Dr. Spies ein bisschen wundern, auch über den Duktus der vorgelegten Anträge. Ich möchte dafür als Beispiel auf einige Passagen der Anträge eingehen.

Beide Oppositionsanträge fordern, dass der Landesaktionsplan lediglich als erster Arbeitsentwurf angesehen und weiterentwickelt wird. Staatsminister Grüttner hat nie etwas anderes behauptet, und das wissen Sie auch. Wir haben immer klar gesagt, dass die Vorlage dieses Planes der erste Entwurf ist und dass dieser Plan kontinuierlich weiterentwickelt wird. Das wissen Sie auch. Es gibt keinen Grund, den Versuch zu unternehmen, ein anderes Bild zu stellen, und den Eindruck zu erwecken, Sie würden uns treiben müssen.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Sie fordern – das hat auch Kollege Dr. Spies eben in seiner Rede getan –, dass der Aktionsplan jetzt unter Einbeziehung aller Betroffenen umgesetzt werden sollte. Auch das geschieht längst. Die Landesregierung hat Arbeitsgruppen eingerichtet, die unter enger Mitwirkung der Verbände der Menschen mit Behinderung, allen relevanten Verbänden und Institutionen der Zivilgesellschaft an Maßnahmen zum Abbau von Barrieren und zur Umsetzung dieses Plans arbeiten.

Wir haben in den Haushalt 2013/2014 1 Million € eingestellt, um die Umsetzung der Konvention voranzutreiben.

Es werden Modellregionen gefördert – das haben Sie angesprochen –, die konkrete Maßnahmen und Projekte zur Umsetzung dieses Planes zum Ziel haben. Aber es geht noch weiter. Das Land Hessen hat als einziges Bundesland eine Stabsstelle zur Umsetzung dieser Konvention eingerichtet.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Stabsstelle!)

Die ist da, damit sich alle Menschen mit Kritik, mit Anregungen, mit Fragen dahin wenden können, die sie zum Thema Behindertenpolitik, zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention haben. Es sind also nicht nur die Arbeitsgruppen, in denen die Verbände und Institutionen daran arbeiten, sondern wir haben eine Stabsstelle, die jedem offensteht. Das ist einzigartig, und das gewährleistet eine direkte Kommunikation nicht nur für die Verbände, sondern für jeden. Das heißt, wir setzen nicht nur den Plan um, sondern wir gehen sogar weiter, als Sie es in den Anträgen fordern.

Herr Mick, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Spies?

Nein, ich habe noch so viel Text. Den möchte ich erst abarbeiten. Vielen Dank.

(Lachen bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Als letztes Beispiel möchte ich eine Formulierung im Antrag der SPD erwähnen, die für mich doch sehr entlarvend ist. Sie kritisieren, dass wir einen Kostenvorbehalt im Aktionsplan haben, und führen an, das widerspreche der Konvention, da die Konvention vom Ausschöpfen aller verfügbaren Mittel spreche. Da wird für meine Begriffe ein falscher Widerspruch konstruiert.