Protokoll der Sitzung vom 30.01.2013

Meine Damen und Herren, beginnend mit dem 30. Januar 1933 setzten die Faschisten ihre nie verhohlenen Pläne grausam um. Der Verfolgung von Sozialisten, Sozialdemokraten, kritischen Christen, Kommunisten und Gewerkschaftern folgte die Vernichtung von Millionen Juden, Sinti und Roma sowie letztlich aller, die nicht in das faschisti

sche Raster passten, wie kritische Künstler, Homosexuelle, Pazifisten und Behinderte.

Der deutsche Faschismus wurde auch in Hessen geprägt. Prinz Philipp von Hessen förderte den Faschismus in Deutschland und Italien sehr frühzeitig und fungierte bis 1943 als Hitlers Sonderbotschafter.

Schon im März 1933 wurde in Osthofen, in Rheinhessen, ein Lager eingerichtet, in dem bis 1934 ca. 3.000 Regimekritiker aus Hessen unter erbärmlichen Bedingungen inhaftiert wurden. Im hessischen Hadamar entstand eine Tötungsanstalt für Behinderte, psychisch Kranke sowie sogenannte Ostarbeiter und „Halbjuden“, in der über 14.000 Menschen grausam ermordet wurden.

Jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger und ihre Kultur wurden in Hessen nahezu vollständig vernichtet.

Dem inneren Terror folgten Krieg und Vernichtung anderer Länder mit unermesslicher Zerstörung, mit Leid und mit 60 Millionen Toten.

Die Nachkriegsordnung mit der schmerzlichen Teilung Deutschlands und Europas in eine westliche und eine östliche Hemisphäre blieb über 40 Jahre lang bestehen.

Keine Darstellung von dieser Stelle aus vermag die Verbrechen und die Opfer des Faschismus angemessen zu beschreiben oder zu würdigen. Wenn dies überhaupt erfassbar und erfahrbar sein kann, dann nur durch die persönliche Auseinandersetzung mit den Geschichten – den Geschichten der Täter, den Geschichten der Opfer, jede einzelne oft so unfassbar wie grausam und aufgrund der millionenfachen Dimension nicht angemessen in Worte zu fassen.

Jede Generation muss sich dieser Herausforderung aufs Neue stellen. Dies fällt einerseits leichter, weil zwischen den Tätern und dem Jetzt mehr zeitliche Distanz besteht. Doch es wird andererseits schwieriger, weil immer weniger Zeitzeugen berichten können.

Auf dem Neujahrsempfang des DGB in Frankfurt wurde ein Gewerkschafter begrüßt, der die Besetzung des Gewerkschaftshauses und die Zerschlagung der Gewerkschaften 1933 noch persönlich erlebt hat. Er ist 105 Jahre alt. Die in Deutschland entstandene Erinnerungskultur wird sich ohne Zeitzeugen unweigerlich verändern. Schon deshalb muss den vielen offenen Fragen weiterhin intensiv nachgegangen werden, denn sie gibt es 80 Jahre später immer noch.

Herr Kollege Schaus, Sie müssen zum Schluss kommen.

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Neben allen politischen Differenzen unter den Fraktionen brauchen wir alle einen Grundkonsens, der lautet: Nie wieder Krieg, Diktatur und Faschismus! Wehret den Anfängen!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN) )

Schönen Dank, Herr Kollege Schaus. – Für die CDU-Fraktion hat Herr Kollege Lenz das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die nationalsozialistische Diktatur, die mit der Machtübernahme Hitlers als Reichskanzler heute vor 80 Jahren begann und die innerhalb kurzer Zeit sehr schnell ausgebaut wurde, war eines der schrecklichsten Verbrechen der Menschheit, und sie geschah in deutschem Namen.

Ihre Führer waren verbrecherische Ideologen, die die Weltherrschaft anstrebten. Mit der Unterdrückung der eigenen Bevölkerung und mit der Ermordung, Versklavung und Entrechtung ganzer Völker infolge der Anzettelung des Zweiten Weltkrieges haben sie eine unsägliche Terrorherrschaft errichtet, die in der fabrikmäßigen Tötung von über 6 Millionen Juden gipfelte.

Wir als Deutsche müssen mit der von der NS-Diktatur begangenen Schuld leben. Ich sage sehr klar und deutlich, dass Aussagen, die ich von Vertretern der jüngeren Generation vereinzelt – ab und zu – höre, dass sie als Jüngere damit nichts zu tun hätten, dass man nicht ständig rückwärts blicken solle und uns diese schrecklichen Ereignisse nicht belasten dürften, entschieden zurückgewiesen werden müssen.

(Beifall bei der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Es ist Aufgabe von Schule und anderen staatlichen Bildungseinrichtungen, aber auch von Elternhäusern, den Vertretern der jüngeren Generation immer wieder verantwortungsvoll zu erklären, dass wir in dieser historischen Tradition stehen, ob wir wollen oder nicht. Wir als Deutsche tragen diese Schuld. Wir werden sie auch nach 100 Jahren nicht einfach abschütteln können. Aber: Wir als Deutsche haben diese Zeit der NS-Diktatur aufgearbeitet. Das ist die starke, beispielhafte Leistung dieser Republik.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Es ist die starke Leistung der Bundesrepublik Deutschland, dass sie die Katastrophe des Holocaust, die schlimme Terrorherrschaft der Nationalsozialisten für unsere Gesellschaft aufgearbeitet hat. Es waren die demokratischen Politiker aller Parteien, die dieses schlimme Erbe in ein demokratisches System überführt und verändert haben.

Es begann mit Konrad Adenauer und der finanziellen und moralischen Unterstützung des Aufbaus des Staates Israel. Es ging weiter über den Kniefall Willy Brandts in Warschau bis hin zur Rede der Kanzlerin Merkel in der Knesset und vielen Besuchen von Repräsentanten unseres Staates in Yad Vashem. – Dies nur als Beispiele.

Wir wissen, andere Völker haben diese Leistungen erkannt und danken uns dafür. Diese nach Jahrzehnten gelungene Bewältigung der NS-Schreckensherrschaft ermöglicht es uns auch, schon seit Jahren wieder verantwortungsvoll und mit angemessenem Selbstbewusstsein Aufgaben für andere zu übernehmen, wie etwa in der Europäischen Union oder auch bei militärischen Einsätzen auf internationaler Ebene.

Kein Land dieser Völkergemeinschaft käme heute ernsthaft auf den Gedanken, von deutschem Boden könne wieder ein Krieg ausgehen oder eine Diktatur errichtet werden.

Dies beseitigt nicht das geschehene Unrecht. Dieser Tatbestand ermöglicht uns aber ein Leben in Frieden und Freiheit in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, einem gesellschaftlichen und politischen System, um das uns viele auf der Erde beneiden.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Ich möchte den Betreff des Antrags der LINKEN aufgreifen, den Appell, der auch in Abs. 4 wiederholt wird: Wehret den Anfängen! Nie wieder Diktatur! – Millionen von Menschen wären glücklich gewesen, dieser Aufruf hätte sich bewahrheitet und wäre in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten und in den Folgejahren auf dem Boden der sowjetisch besetzten Zone Wirklichkeit geworden.

Zwölf Jahre nationalsozialistischer Diktatur und Verbrechen waren zu Ende, und nahtlos wurde eine neue Diktatur von der sowjetischen Besatzungsmacht und den von ihnen abhängigen deutschen Kommunisten errichtet.

Ende der Siebzigerjahre habe ich mehrfach als Lehrer mit Oberstufenkursen das Konzentrationslager Buchenwald in der damaligen DDR besucht. Das war nicht einfach, aber machbar. Vor dem Ausgang des Lagers musste man einen Raum mit Bildtafeln durchschreiten, die belegen sollten, dass es einen zwangsläufigen historischen Übergang zwischen Nationalsozialismus und dem kapitalistischen System der Bundesrepublik gebe, das die Menschen knechte und ausbeute. Die Schülerinnen und Schüler waren darüber empört.

Entsetzt war ich über die Berichte, die einige Jahre später, Ende der Neunzigerjahre, in den neuen Bundesländern auftauchten und schließlich im Jahr 1992 präziser wurden, als sowjetische Akten eingesehen werden konnten.

Sie belegten, dass der KGB der UdSSR, der sowjetische Geheimdienst, ab Juli 1945 im sowjetischen Herrschaftsbereich der SBZ Internierungslager, sogenannte Speziallager, errichtete. Dort wurden auch NS-Funktionäre und belastete Nazis eingesperrt. Vor allem aber wurden dort politische Gegner der KPD, unter anderem auch die Sozialdemokraten, die sich der Zwangsvereinigung zur SED widersetzten, willkürlich eingesperrt. Insgesamt sind dort in vier Jahren 45.000 Menschen zu Tode gekommen.

Die größten Speziallager waren Sachsenhausen und Buchenwald. Das heißt, die alten nationalsozialistischen Konzentrationslager wurden nahtlos von den Kommunisten übernommen und weitergeführt. Sie haben die Stätten des nationalsozialistischen Terrors schamlos für ihr eigenes totalitäres System weiter benutzt.

Es sind viele Fälle dokumentiert, dass beispielsweise sozialdemokratische Funktionäre, die den Terror der SS überlebt hatten und von den Alliierten befreit wurden, Monate später von den Kommunisten in die Baracken des gleichen Lagers eingeliefert wurden. – Das ist eine makabre Absurdität deutscher Geschichte.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben den vorliegenden Antrag der LINKEN durch einen umfassenden Entschließungsantrag ersetzt. Vor einer Stunde ging noch ein Antrag von SPD und GRÜNEN ein. Wir bitten Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.

Gestatten Sie mir am Schluss noch eine kleine Randbemerkung. Die Formulierung „kritische Christen“ im zweiten Absatz des Antrags der LINKEN zeigt wieder einmal eine ideologische Versteifung.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Es gab auch unkritische Christen!)

Sie differenzieren nur bei den Vertretern der Kirchen, nicht aber bei den übrigen gesellschaftlichen Gruppen. Ich sage Ihnen: Es waren keine kritischen Christen, es waren vielmehr überzeugte gläubige Christen, die den Mut hatten, aus ihrem Glauben heraus Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu leisten – es waren sowohl Mitglieder der bekennenden Kirche als auch gesellschaftlich engagierte Katholiken.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Natürlich gab es solche. Es gab auch Kommunisten, die zu den Nazis gewechselt sind. Selbstverständlich. Aber darum geht es nicht.

Die von den LINKEN in ihrem Antrag geforderte Erinnerungsarbeit wird in Hessen bereits seit Jahren und Jahrzehnten in Schulen, in Universitäten, in außerschulischen Bildungseinrichtungen und vielerorts mehr geleistet. Diese Arbeit muss fortgesetzt werden, und sie wird fortgesetzt werden. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Schönen Dank, Herr Kollege Lenz. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Herr Kollege Merz das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Theodor W. Adorno hat 1966 seinen Rundfunkvortrag „Erziehung nach Auschwitz“ mit den Worten begonnen:

Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. … Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.

Das, was Adorno über die Aufgabe der Erziehung sagte, muss ohne Wenn und Aber auch für jede Politik nach Auschwitz gelten.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der FDP)

Wir haben am vergangenen Sonntag, am nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz gedacht. Am 9. November dieses Jahres werden wir an vielen Orten im Land den 75. Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht begehen. Heute erinnern wir im Landtag an die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, einen Vorgang, den die Nationalsozialisten zur „Machtergreifung“ stilisierten.

Es ist offensichtlich, dass zwischen diesen drei Daten ein fundamentaler innerer Zusammenhang besteht. Es ist auch

offensichtlich, dass sich der angesprochene Zusammenhang nicht erst in der Rückschau erschließt, sondern er auch schon vielen hellsichtigen Zeitgenossen klar war.

Dass Hitler die vollendete politische Diktatur bedeuten würde, dass Hitler den erbarmungslosen Terror gegen alle Andersdenkenden und gegen alle, die von den NS-Wahnvorstellungen vom Volksgenossen und von der arischen Rasse abwichen, bedeuten würde, dass Hitler die konsequente Exekution eines rassistischen Antisemitismus bedeuten würde und dass Hitler Krieg bedeuten würde: All das konnte man im Grunde auch schon als Zeitgenosse wissen.

Vor allem konnten es jene Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft wissen, die den Reichspräsidenten Hindenburg dazu drängten, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Aber auch wenn es anders war, wer Hitler an die Macht brachte – das waren die führenden Repräsentanten der Reaktionäre und Nationalkonservativen und völkisch-nationalistischen Rechten der Weimarer Republik und ihre Organisation Stahlhelm sowie die NVP im Verbund mit den reaktionärsten Kreisen der deutschen Wirtschaft, der Großlandwirtschaft und auch der Reichswehr –, der wollte in jedem Fall Schluss machen mit allem, wofür die Weimarer Republik stand, nämlich mit der ersten voll entwickelten politischen Demokratie auf deutschem Boden, mit einer bei aller Anfälligkeit der Justiz nach rechts rechtsstaatlichen Ordnung, mit der Garantie der Bürger- und Menschenrechte, mit der prinzipiellen Verpflichtung zu Sozialstaatlichkeit und Sozialpartnerschaft.