Protokoll der Sitzung vom 25.04.2013

Meine Damen und Herren, nach dem Bombenanschlag von Boston werden wieder einmal mehr Forderungen nach schärferen Sicherheitsmaßnahmen in Deutschland und die Ausweitung der Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen laut, da – so die Behauptung – durch die Videoüberwachung die Bekämpfung von Terrorismus oder politisch religiös motivierter Gewalttaten einfacher, schneller oder qualitativ besser erfolgen könne.

Diese aus meiner Sicht vordergründig plausibel klingende Argumentation ist aber grundlegend falsch. Fakt ist, die Videoüberwachung konnte den Anschlag von Boston selbst nicht verhindern und konnte auch bei der Jagd auf die Attentäter keine Todesopfer verhindern. Meine Damen und Herren, die in den Vereinigten Staaten und auch in anderen Ländern teils flächendeckend implementierte Videoüberwachung hatte offenkundig keine abschreckende Wirkung auf die Täter.

Speziell Attentäter mit politischem und/oder religiösem Motiv sind derart radikalisiert und hoch motiviert, dass auch abschreckende Gesichtspunkte wie die rasche Festnahme, der eigene Tod oder Verletzungen nicht geeignet sind, sie von der Tat abzuhalten. Das gilt es festzustellen. Ebenso festzustellen gilt es – zumindest am Rande –, dass eine mangelnde Abschreckungswirkung auch im Bereich der Alltags- und Gewaltkriminalität durch Studien belegt ist, wie z. B. die Reeperbahnstudie des Hamburger Senats, der in einer Wirksamkeitsanalyse die Effektivität der Videoüberwachung bei der Prävention von Gewaltdelikten untersucht hat.

Werte Kollegen, der durch Videoüberwachung des öffentlichen Raums und die zur sinnvollen Auswertung zwangsläufig notwendige Vorratsspeicherung gegebene Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen ist im Hinblick auf die Zahl der Betroffenen nahezu uferlos. Jeder, der sich auf einem öffentlichen Platz aufhält, wird überwacht und gespeichert.

Meines Erachtens ist ein unmittelbarer präventiver Nutzen durch die Überwachung nicht gegeben. Der absolut große Teil der aufgezeichneten Aktivitäten ist weder strafbar, noch rechtfertigt er meines Erachtens wegen der bloßen Möglichkeit, für den Fall der Fälle auswertbare Daten zu bekommen, die massiven Eingriffe in die Grundrechtssphäre der Allgemeinheit und den Aufwand der Überwachung, Speicherung und technischen Auswertung.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Peter Beuth (CDU))

Hinzu kommt natürlich auch das besondere und erhebliche Missbrauchspotenzial der Daten. Vorratsspeicherung als Videoüberwachung kann technisch ohne Weiteres auch über den stets als Rechtfertigung genannten Zweck der Terrorismusbekämpfung hinaus genutzt werden, von der Verfolgung anderer Straftaten und Ordnungswidrigkeiten bis hin zur Erstellung von Bewegungsprofilen einzelner Personen ohne deren Kenntnis. Speziell unter dem Gesichtspunkt des immer weiteren Ausweitens des Einsatzes der neuen Medien ist die Verbreitung von Information und Daten aus grundrechtsrelevanten Maßnahmen und Eingriffen für die Fahndung nach Straftätern und Terroristen besonders kritisch zu würdigen.

(Beifall bei der FDP)

Ich versuche, ein Fazit zu ziehen. Angesichts der tatsächlichen Entwicklung in der Folge der Anschläge auf den Boston-Marathon kann von einem positiven Effekt für die Befürwortung der Videoüberwachung nicht ausgegangen werden. Im Gegenteil werfen einige der Gegebenheiten drängende Fragen auf. Die Skepsis überwiegt. Zusammenfassend darf ich für die Liberalen feststellen, dass wir uns entschieden gegen schärfere Sicherheitsvorkehrungen aussprechen.

Erstens. Eine Videoaufzeichnung hilft leider nicht, Anschläge zu verhindern.

(Demonstrativer Beifall der Abg. Nancy Faeser (SPD))

Höchstens danach bei der Aufklärung.

Zweitens. Schon jetzt gibt es viele Befugnisse zur Gefahrenabwehr, die von den Ermittlungsbehörden konsequent genutzt werden müssen.

Drittens. Erst muss das Optimierungspotenzial der bestehenden Strukturen gehoben werden, bevor neue Gesetze geschaffen werden.

Viertens. Die Verantwortung vor Ort – da sehe ich in erster Linie die Kommunen – besteht dort, um am besten Brennpunkte zu identifizieren und konkrete Maßnahmen zu ergreifen.

Das abschließende Fazit ist, dass der fürchterliche Anschlag von Boston nicht für eine innenpolitische Debatte instrumentalisiert werden sollte. Deutschland verfügt über ausreichende Sicherheitsgesetze. Das breite und differenzierte Instrumentarium zur Gewährung von Sicherheit darf man nicht kleinreden.

Abschließend: Extremistische Täter dürfen die Freiheit der Hessinnen und Hessen nicht beschneiden. Das gilt direkt, aber erst recht auch indirekt. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

Vielen Dank, Kollege Dr. Blechschmidt. – Das Wort hat der Abg. Frömmrich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Vielen Dank, Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei einer solchen Rede, wenn man über ein solches Ereignis wie in Boston spricht, muss man an den Anfang stellen, dass man die Opfer und die Angehörigen im Blick hat. Ich glaube, das muss das sein, an das man sich erinnert.

(Allgemeiner Beifall)

Bei einer friedlichen Sportveranstaltung, also da, wo sich Menschen aus Spaß und aus Freude zusammengefunden hatten, wo Jung und Alt gemeinsam ein Fest feiern wollten, ist ein solch schreckliches Ereignis mit einer solch schrecklichen Straftat begangen geworden, dass man wirklich ein Stück weit innehalten sollte. Man fragt sich in solchen Momenten immer: Was sind das für Menschen, die solche Taten begehen? Was geht in den Köpfen solcher Menschen vor? Welchen Ideologien hängen die an? Wie verroht und wie abgestumpft muss man eigentlich sein, um ein solches Verbrechen bei einer solchen friedlichen Veranstaltung zu begehen?

Man muss daran denken, dass da drei Menschen zu Tode gekommen sind – darunter ein Kind, acht Jahre alt, am Anfang seines Lebens. Über 180 Menschen sind schwerst verletzt worden, viele von ihnen so schwer – Kollege Blechschmidt hat das gerade gesagt –, dass Gliedmaßen amputiert werden mussten. Das ist eine Horrorveranstaltung gewesen, wenn man die Bilder im Fernsehen gesehen hat.

Ich glaube schon, dass man angesichts einer solchen Tragödie innehalten sollte. Man sollte darüber nachdenken, was eigentlich die richtigen Mittel sind, um auf eine solche Tat zu reagieren. Ich glaube, man sollte sich tunlichst davor hüten, solche Veranstaltungen politisch zu instrumentalisieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Was ist die Schlussfolgerung aus einer solchen Tat, aus einem solchen Ereignis? Die Schlussfolgerung ist doch die, dass wir feststellen müssen, dass es bei solchen Großveranstaltungen – wir waren alle schon bei solchen Großveranstaltungen, in Stadien, auf Konzerten oder sonst was – eine hundertprozentige Sicherheit nicht geben wird. Eine hundertprozentige Sicherheit wird es nicht geben, und das wollen wir auch nicht. Weil: Wir leben in einer freien und offenen Gesellschaft. Wir wollen uns nicht von solchen Straftätern, von solchen Terroristen unsere offene und freie Gesellschaft kaputt machen lassen. Das muss das sein, was uns in einer solchen Frage eint.

(Allgemeiner Beifall)

Ich stimme der FDP ausdrücklich zu, wenn sie sagt, dass man ein solches Thema eben nicht parteipolitisch instrumentalisieren sollte. Ich glaube auch, dass sich ein solches Thema – Sie haben selber angesprochen, dass Sie am Wochenende sehr darüber nachgedacht haben, ob sich das für eine Aktuelle Stunde überhaupt eignet – eher nicht dafür eignet.

(Beifall der Abg. Nancy Faeser (SPD))

Man müsste eigentlich in die Tiefe gehen. Man müsste über die Grundstruktur von Sicherheit und man müsste auch die Grundstruktur von solchen Maßnahmen diskutieren, die hier gefordert werden.

Es sind aber wieder die üblichen Verdächtigen in diesen Sicherheitsdiskussionen, die sich zu Wort melden und gleich wieder mit Konzepten und Rezepten die Antworten haben. Das ist der Kollege Uhl. Das ist der Kollege Bosbach. Das ist der Kollege Innenminister Friedrich aus Berlin. Die sagen gleich wieder reflexartig: Eines der Erfordernisse, die wir unbedingt brauchen, ist eine flächendeckende Videoüberwachung und eine Verschärfung in diesem Bereich.

Ich glaube nicht, dass das das richtige und geeignete Mittel ist. Man sollte sich erst einmal anschauen, welche Fehler da von den Sicherheitsbehörden gemacht wurden. Man sollte das analysieren, bevor man leichtfertig Antworten gibt, mit denen man, so glaube ich, zu kurz springt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Nancy Faeser (SPD))

Wenn man sich die Berichterstattung anschaut, dann sieht man, dass es in Amerika eine Diskussion darüber gibt, ob das FBI und andere Sicherheitsbehörden versagt haben und ob man den Hinweisen, die es z. B. aus Russland auf die beiden Täter gegeben hat, mit genügend Nachdruck nachgegangen ist. Nachher, als die Ausreise des einen Täters erfolgte und er zurück nach Amerika kam, gab es wieder Hinweise. Da wird gefragt, ob das alles richtig gemacht wurde.

Aber unsere Politiker, die Herren Bosbach, Friedrich und Uhl, fordern gleich wieder die Videoüberwachung. Ich könnte hier aus Dutzenden Zeitungsartikeln zitieren, in denen diese gleiche Forderung immer wieder erhoben wurde. Nach dem Anschlag von Madrid wurde eine Verschärfung der Videoüberwachung gefordert. Nach dem Anschlag von London wurde mehr Videoüberwachung gefordert. Nach dem Anschlag in Stockholm wurde zusätzliche Videoüberwachung gefordert. Das forderten immer wieder die gleichen Verdächtigen. Sie haben immer die gleiche Antwort.

Herr Kollege Blechschmidt hat es gesagt: Die Videoüberwachung hätte diese Tat wahrscheinlich nicht verhindern können. Sie hilft bei der Aufklärung der Tat. Das ist richtig.

(Alexander Bauer (CDU): Immerhin!)

Aber sie hätte diese Tat nicht verhindert.

(Alexander Bauer (CDU): Das behauptet auch keiner!)

Von daher ist das ein bisschen zu kurz gesprungen hinsichtlich dessen, was die Kollegen aus Berlin da sagen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Herr Kollege Frömmrich, Sie müssen langsam zum Schluss Ihrer Rede kommen.

Herr Präsident, ich komme zum Schluss meiner Rede. – Ich glaube, dass wir nach solchen Ereignissen genauer analysieren sollten, welche Fehler gemacht wurden. Ich glaube, dass wir die richtigen Schlüsse ziehen müssen. Man kann durchaus darüber nachdenken, ob es nicht Plätze gibt,

die mit Video überwacht werden müssen. Das sind alles Fragen, die man diskutieren muss.

Aber ich finde, man sollte diese schrecklichen Ereignisse, die da passiert sind, nicht parteipolitisch instrumentalisieren und so tun, als habe man gleich die richtigen Antworten auf so schwierige Fragen. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Herr Kollege Frömmrich, vielen Dank. – Das Wort erhält nun Frau Abg. Nancy Faeser für die SPD-Fraktion.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Auch ich bin der Meinung, es gebietet sich am Anfang einer Rede über dieses furchtbare Thema, nämlich das Attentat in Boston, der Menschen zu gedenken. Unsere Gedanken und unser Mitgefühl gelten zunächst einmal den Opfern des furchtbaren Anschlags und deren Angehörigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist in der Tat richtig. Ich will das aufgreifen, was Herr Kollege Frömmrich gesagt hat. Ein solch furchtbares Ereignis, ein solches Bombenattentat, bei dem drei Menschen starben und über 180 Menschen zum Teil schwerst verletzt wurden, ist für eine Aktuelle Stunde sicherlich kein gutes Thema.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN)